Leistung aus Leidenschaft


Ihr marktstrategisch positioniertes drittes Produkt sound so nutzt die Musikgruppe Wir sind Helden aus Berlin als zielführendes Tool, um der Tonträgerbranche neue Impulse zu geben und der avisierten Zielgruppe langfristige Perspektiven zu bieten.

Sind Wir sind Helden jetzt komplett durchgedreht? Machen die jetzt auf voll businessmäßig mit Anzügen und Kostümchen und Pomade in den Haaren? Planen die ihre Karriere bei Meetings und Appointments mit Flip-Chart, Power-Point-Präsentation und dem Beamer? Nein, keine Angst, es ist alles gut. Judith Holofernes, Mark Tavassol, Jean-Michel Tourette und Pola Roy haben sich ein Späßchen erlaubt. Oder besser: haben das Späßchen mitgemacht, das sich der Art Director des musikexpress ausgedacht hat. Sie haben sich als Banker fotografieren lassen, um eines der zentralen Themen ihres neuen Albums soundso zu visualisieren: Arbeit.

Das „Arbeitstreffen“ in Hamburg läuft dann doch eher familiär ab. Jeans und T-Shirts statt Anzug und Krawatten. In Zeiten, in denen Rock’n’Roll-Interviews nach einem festen Zeitplan (neudeutsch: schedule) in sterilen Konferenzräumen (neudeutsch: meering rooms) von Nobelhotels stattfinden. Wir befinden uns in der Wohnung von Manager Danny. Die Betriebsamkeit dort hat etwas von einer Hippiekommune. Kaffee kochen, Essen bestellen, zum Rauchen auf den Balkon gehen. Während Pola und Mark im Wohnzimmer die Fragen der Kollegen vom „Stern“ beantworten – zum Beispiel zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, weil: Wir sind Helden sind ja eine politische Band, trägt Judith den Neuzugang im Arm, um ihn zu beruhigen. Der Neuzugang hat gerade geschrien. Warum, kann man nie so genau sagen bei Neuzugängen. Der Neuzugang heißt Friedrich und ist das gemeinsame Kind von Judith und Pola. Friedrich ist sechs Monate alt.

Rückblende: Nach der Veröffentlichung des zweiten Helden-Albums von hier an blind im April 2005, nach exzessivem Touren durch Festivaldeutschland, ließen es Wir sind Helden 2006 ein bisschen ruhiger angehen, was auch an dem Neuzugang liegt, dessen Kommen sich damals schon angekündigt hatte. Anfang des Jahres touren Wir sind Helden durch das „freundliche Ausland“, geben Clubgigs in Belgien, Holland, Dänemark, Paris und London, spielen im Sommer „nur“ bei 17 Festivals (im Vorjahr waren es 40 gewesen) und treffen sich zwischen den Auftritten in Hamburg und Hannover, um an neuen Songs zu arbeiten. Im Juli gehen sie mit ihrem Produzenten Patti für zehn Tage in ein Studio aufs Land bei Lübeck, um die Songs vorzuproduzieren. Anschließend. Babypause. Der Neuzugang kommt im Winter.

Vor zwei Jahren bei den Interviews zu von hier an BLIND wollten Wir sind Helden nichts wissen vom „schwierigen zweiten Album“. Jetzt sagt Judith Holofernes: „Ich habe im Nachhinein gemerkt, dass ich doch mehr Angst hatte, als ich zugegeben habe oder als ich dachte. Die Erleichterung war groß, als das Album dann endlich raus war und so gut angenommen wurde. Für mich war es eine tolle Erfahrung, zu merken, wie unnötig dieses Sich-Sorgen-Machen war. Dadurch, dass es dann doch nicht so besonders schwer war mit der zweiten Platte, aber auch dadurch, dass neben den ganz vielen schönen Sachen, die darüber gesagt wurden, es auch immer wieder jemanden gab, der das scheiße fand einfach zu merken, wenn man sich kurz ärgert, wird am nächsten Tag alles wieder gut.“

soundso, das dritte Album, klingt unverkrampfter, direkter und rauer als der Vorgänger von hier an blind. Mark Tavassol erklärt das damit, dass Maximierung des Unternehmenswertes durch sukzessive Erhöhung der Eigenkapital-Rendite: Jean-Michel Tourette und Pola Roy die Band die studiobezogenen Arbeiten in zwei Abschnitte aufgeteilt hat. Zuerst wurden die Songs zusammen mit Produzent Patti im Lübecker Landstudio arrangiert und in Rohversionen aufgenommen. Die Aufnahmen wurden dann als Grundlage für die „richtige“ Studioarbeit genommen. Tavassol: „Das war eine Idee, die sicherlich eine Million Musiker vor uns hatten, wir allerdings noch nicht. Machen, machen, machen die Songs so fertigstellen, wie sie später auf dem Album klingen sollen, aber nicht gleich darauf achten, dass wir alles fehlerfrei einspielen. Am Ende hast du eine klapprige, aber fertiggestellte Platte mit soundlichen Makeln. Dann kam der zweite Schritt des Aufnehmens, unddaging’s unromantischerweise ziemlich soldatisch zu. Genau das hat uns beim zweiten Album wahnsinnig gemacht, kreativ zu sein und danach soldatisch einzuspielen.“

Von Anfang an wurde Wir sind Helden der Stempel der konsum- und gesellschaftskritischen Band aufgedrückt. Obwohl sich die Texte auf dem Debütalbum die Reklamation textlich durchaus ausgewogen zwischen politischer Motivation und menschelnder Innenschau bewegten, kaprizierte sich die Öffentlichkeit damals im Jahr 2003 auf die Songs mit gesellschaftskritischem Anspruch wie „Guten Tag“ und „Müssen nur wollen“. Das „Phänomen Wir sind Helden“ war geboren. Holofernes: „Wir wolltenja nie ein Phänomen sein, sondern eine Band. Bei den paar Interviews, die wir bisher zur neuen Platte geführt haben, wird viel mehr über die Musikgeredet, nicht über das Phänomen Wir sind Helden. Ich finde das extrem erfrischend. “ Die Phänomenisierung von Wir sind Helden sagt mehr über die Gesellschaft aus als über die Band. Wie flach muss es in dieser Gesellschaft zugehen, wenn Popsongs mit Inhalt (zum Beispiel: Ich lasse mir mein Leben nicht von den Großkonzernen diktieren) wie die Neuerfindung des Rades gefeiert werden? Judith Holofernes bestätigt, dass solche (Fremd-) Ansprüche zur Rettung der Welt zur Last werden können. Sie habe bereits beim zweiten Album eine „gewisse Befriedigung“dabei gefunden, klarzustellen, „dass das nicht meine Hauptaufgabe ist“, und dann solche Songs zu schreiben, die manche Menschen als „Liebeslieder“ wahrgenommen hätten. Jetzt beim dritten Album lässt Holofernes‘ Lyrik mehr Interpretationsspielraum zu als vorher. „Ich finde Worte eigentlich sehr unzulänglich als Möglichkeit, sich der Realität zu nähern“, sagt sie. „Ich empfinde das sogar beim Songschreiben so, aber beim Songschreiben hat man noch bessere Möglichkeiten, weil die Poesie Sachen offen und mehrschichtig belassen kann, so wie ich sie auch empfinde.“

Eines der zentralen Themen des neuen Albums ist die Arbeit. Die Essenz des Songs „(Ode) An die Arbeit“: Alles, was Spaß macht, kann keine Arbeit sein.

JUDITH: Es ist eine Auseinandersetzung mit dem Beschwerenden, das der Begriff Arbeit für die meisten Leute hat. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland noch stärker ist als in anderen Ländern. Deswegen fand ich es ganz lustig zu singen: „Eins und zwei und eins und

zwei, und du bist Preußen. Weil ich das Gefühl habe, dass auch in den Köpfen der ganz jungen Leute ein preußischer Arbeitsethos verankert ist- Arbeit muss irgendwie weh tun. Wir als privilegierte Künstlerherzchen, die das tun, was ihnen Spaß macht, müssen uns dauernd auseinandersetzen mit Fragen wie: Habe ich genug gearbeitet? Arbeite ich zu viel? Man kann sich an überhaupt nichts festhalten. Man kann noch so viel unterwegs gewesen sein, noch so wenig geschlafen haben, noch so viele Interviews gegeben haben, wenn man dann mal einen Tag frei hat, muss man sich erlauben, sich amüsieren und frei haben zu dürfen. Es ist eine spezielle Sicht auf die Arbeit, aber deshalb sehr interessant, weil die Grenzen zwischen Spaß und Arbeit bei uns so verschwimmen.

Wir arbeiten ja auch im Moment, selbst wenn manche Leute das nicht so bezeichnen würden.

JUDITH: Genau.

pola: Es geht darum, wie die Arbeit in der Gesellschaft bewertet wird. Und dass man als Künstler häufig konfrontiert wird mit Sätzen wie: „Ihr arbeitet ja eigentlich nicht.“ Worauf man selber immer wieder sagt: „Stimmt. Macht eigentlich total Spaß.“ Im nächsten Schritt denkt man, Moment, aber was ist Arbeit überhaupt? Wir haben auch wahnsinnig anstrengende Tage. Wir haben ein Leben, das andere Leute nicht führen wollen, weil sie lieber zu Hause sein wollen. Andererseits sind wir wahnsinnig privilegiert, wenn wir unseren Beruf mit einem Job am Fließband vergleichen.

Ihr seid also schon mit Vorwürfen konfrontiert worden, dass das keine Arbeit ist, was ihr macht?

JEAN: Komischerweise war das früher, in der Zeit vor Wir sind Helden, als ich aber schon den Entschluss gefasst hatte, Musiker zu werden, stärker als heute. Jetzt auf einmal, wo ich augenscheinlich ein bisschen erfolgreicherbin, verbinden die Leute einen unfassbar stressigen Alltag damit: „Kann ich dich jetzt anrufen? Hast du gerade Zeit?“ Sie meinen, dass ich vielleicht gerade auf dem Sofa bei Stefan Raab sitze, wenn mein Handy klingelt. Es gibt natürlich Momente, da ist unser Leben total anstrengend. Aber wir gönnen uns auch viele Auszeiten, wir arbeiten leidenschaftlich und wollen die Dinge gut machen, aber wir machen uns nicht tot. Kaum hat einer Erfolg, wird das mit sehr viel Anstrengung und Arbeit gleichgesetzt. Wenn etwas keinen Erfolg hat, wird das nicht so gesehen. Vorher habe ich viel intensiver gearbeitet und viel mehr gelitten als jetzt, aber wahrscheinlich sagen die Leute, der hat damals nur rumgegammelt. Ich finde es aber ganz gut, so einen Mythos aufrechtzuerhalten. MARK: Ich höre das manchmal von Freunden, auch von meiner Freundin. Sie muss sehr früh aufstehen und lange arbeiten. Wenn ich sage, ich gehe ins Stufe dio, sagt sie scherzhaft: „Haha, Arbeit.“ Da stellt sich = mir die Frage, kann man das, was wir machen, als Arbeit bezeichnen? Wenn man es nach verbrannten Kalorien messen würde, können wir uns mit dem, was wir leisten, sehen lassen. Würden wir denselben Aufwand betreiben und damit kein Geld verdienen, wür-* de jeder fragen, ob wir bescheuert sind, so selten im eigenen Bett zu schlafen und für die kleinsten Termine quer durch Deutschland zu reisen. pola: Ich finde es interessant, dass es im nächsten Schritt auch immer darum geht, dass das, was wir 5 tun – egal ob man es als Arbeit bezeichnet oder nicht -, Vorsprung durch die strategische Neuausrichtung des B2B-Marketings: Judith Holofernes und Mark Tavassol eigentlich als Ideal dargestellt wird. Es gibt Leute, die arbeiten hart, aber wenn sie überhaupt nicht arbeiten würden, wäre der Menschheit viel mehr geholfen. Es gibt Leute, die arbeiten überhaupt nicht hart, tun aber Dinge, die sinnstiftend sind. Damit setzen wir uns auch auseinander. Mit der Frage, ob harte Arbeit erstrebenswert ist – oder ist sie vielleicht nur dann erstrebenswert, wenn sie auch einen Sinn erfüllt? mark: Ist unsere Arbeit nur deshalb möglich, weil wir in einer Überflussgesellschaft leben? Wir züchten keine Hühner und verkaufen keine Eier. Wir machen auch keine kranken Menschen gesund. Wir produzieren etwas, das man eigentlich nicht kaufen muss.

Es ist schon richtig, in Afghanistan könntet ihr den Beruf wahrscheinlich nicht ausüben.

mark: In Afghanistan hätten wir wahrscheinlich noch einen Nebenberuf.

pola: Andererseits ist das Bedürfnis nach Musik.

Kunst und Vergnügungen essenziell für die Menschen.

Manche Menschen, die keine „richtige Arbeit haben, entwickeln einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Leuten, die „richtig“ arbeiten. Demnach ist es nicht notwendig, dass es Wir sind Helden gibt, und auch nicht, dass es den Musikexpress gibt, der über euch berichtet. Aber trotzdem bereichern wir das Leben der Leute.

mark: Wenn man die Dienstleistungsgesellschaft mit der Lupe betrachtet, könnte man ganz viele Berufe wegstreichen, die einfach nur da sind, damit es den Leuten gut geht.

pola: Klar, aber gleichzeitig ist es auch eine Gesellschaft, in der es nicht mehr ums reine Überleben geht. Es geht um andere Dinge. Die Entwicklung ist an dem Punkt, an dem ein anderer Evolutionsschritt getan wird, dann gibt’s eben auch andere Berufsgruppen. jean: Ich finde es traurig, dass manche Leute denken, je doller man von seinem Chef drangsaliert wird, ->

-> desto mehr kann man sich als Arbeiter fühlen. Oder dass ein schlechtes Betriebsklima für „richtige“ Arbeit steht, weil die Leute sich dann scheiße fühlen. Das will in meinen Kopf nicht rein. JUDITH: Ich fnde in letzter Konsequenz interessant, warum man seinen Wert überhaupt so sehr über die Arbeit definiert – warum ist es nicht genauso viel wert, drei gute Gespräche mit Freunden geführt zu haben? Ich definiere inzwischen das Sich-nützlich-Machen in der Welt ganz anders als über Arbeit, aber das musste ich mir erst erarbeiten (lacht). Ich finde es wichtig, sich davon frei zu machen, seine Legitimation im Leben über die Arbeit zu holen, was ja gesellschaftlich gesehen auch total überholt ist. Arbeit wird als Hauptidentifikation angeboten, was für viele überhaupt nicht mehr möglich ist, weil sie keine mehr bekommen können.

JEAN: Aber das Letzte, was man von einem Rockstar hören möchte, ist, dass er hart arbeitet, das ist ja total unsexy. Man bezahlt die Typen ja dafür, dass sie einem vorgaukeln, das Leben wäre eine große Party.

Ihr habt euch für unseren Fotografen als Banker in Kostüm und Anzügen fotografieren lassen was war das für ein Gefühl?

pola: Es hat sich sehr, sehr gut angefühlt. mark: Ich finde Anzüge super, aber ich trage selten welche. Die Anzüge auf den Fotos wirken wie maßgeschneidert. Du trägst dazu eine Krawatte und Haare, die dazu passen, und sitzt auf ziemlich unsympathische Weise um einen Laptop herum. Das ist dann nicht mehr „Reservoir Dogs“, sondern „Dresdner Bank“.

Als ihr in diese Kostüme geschlüpft seid, habt ihr da ein bisschen was von der Rolle angenommen?

pola: Ich habe neulich einen Artikel gelesen, in dem es darum ging, dass ein Fondsmanager mit einem Globalisierungskritiker einen Tag lang tauscht – den Job und die Kleidung. Interessant fand ich dabei, wie sich meine Sympathien verteilt haben. Der Manager ist mir als Typ immer sympathischer geworden. Bei der Fotosesssion ist mir der Gedanke wieder gekommen, dass wir eigentlich in die Rolle der Bösen schlüpfen. Und dann merke ich, das ich das gar nicht mehr so empfinde. Es hat ja Gründe, warum die so geworden sind. Unter denen gibt’s bestimmt viele Arschlöcher, aber auch bestimmt viele klasse Typen. Ich hatte bei der Fotosession immer beides im Hinterkopf: Vielleicht bist du voll der Arsch, aber vielleicht bist du auch der Typ, der in diesen Kreisen aufgewachsen ist und der voll sein Herz dranhängt. Es gibt ja bei Banken auch viele Leute, die der ganz aufrichtigen Überzeugung sind, dass es ganz wichtig ist, was sie da tun, und die ihren Job auch ganz korrekt machen wollen. Es ist schön, diese Wahrnehmung von Gut und Böse einmal umzudrehen. Das fand ich interessant. Nur weil man einen Anzug trägt und die Haare anders hat, in eine ganz neue Rolle zu schlüpfen. JUDITH: Man fühlt sich schon anders. JEAN: Man bewegt sich anders in so komischen Sachen , man hält den Stift anders – dass man überhaupt mit einem Stift auf irgendetwas zeigt, ist schon etwas Absurdes. Ich finde es toll, mich zu verkleiden, für eine kurze Zeit eine andere Identität anzunehmen, dann aber das Privileg zu haben, sie wieder abzustreifen. Gestern habe ich drei Geschäftsleute am Bahnhof gesehen, die auch diese Gesten draufhatten. Ich bin so froh, dass ich da nicht drin bin in dieser Welt.

Manager sind Leute, die nach ihren Fehlentscheidungen dafür sorgen, dass andere Leute, die für die Fehlentscheidungen nicht uerantworttich sind, ihre Arbeit verlieren.

mark: So gut oder schlecht dieser Mensch hinter der Fassade von Anzug und Krawatte auch sein mag – Pola hat Recht, wenn er sagt, dass das nicht automatisch schlechte Menschen sind. Die Hauptkritik an einem Wirtschaftssystem ist nicht, dass es von bösen Menschen, die Böses wollen, gesteuert wird, sondern, dass diese Menschen durch ihren Beruf zumindest Teil daran haben, dass das System funktioniert, in dem viele Dinge auf Strippenzieher zurückzuführen sind, die letztendlich angehalten sind, Profit zu machen. Am Ende der Kette ist der Arbeiter, der demonstrieren muss und hofft, dass er nicht zu denen gehört, die rausrationalisiert werden. Das ist ein direkter Strang vom Strippenzieher zum Arbeitnehmer, der die Konsequenzen zu spüren bekommt. Es gibt Menschen, die moralisch weniger Probleme haben, diesen Beruf auszuüben, und welche, für die das nicht in Frage kommt. Das heißt ja nicht gleich, dass man absoluter Systemgegner ist und sofort eine Revolution einleitet. pola: Ich teile das nicht ein in Gut und Böse. Ich glaube nichtnur, dass sich Menschen unter bestimmten Umständen so verhalten, wie sie sich verhalten müssen, sondern auch, dass sie gar nicht anders können. Wenn jemand Plattenfirmenboss wird, dann verändert er sich dadurch. Es ist eine völlige Utopie zu sagen, man bleibt so, wie man ist, und verändert die Umstände – die Umstände wirken auf ihn. Es ist viel interessanter, sich zu fragen, wo so einer herkommt. Wie wurde er geprägt in seiner Jugend? Wie ist er da reingekommen? Es kann ja auch Zufall gewesen sein, wie auch unsere Bandgeschichte. Wenn ein kleines Detail anders verlaufen wäre, wären wir ganz woanders abgebogen, und keine Sau würde sich für uns interessieren. So viele Umstände sind bei uns zusammengekommen.

Entschuldigung, ich muss die Elternfrage stellen. Hat euch das Kind verändert?

POLA: Es hat alles verändert. Es hat auch die Band verändert. Wir sind effektiver geworden. Wir müssen die Dinge straffer organisieren, damit alles funktioniert. Es ist eine neue Dimension von Freude und Leid in mein Leben gekommen. Das Ganze ist auch so externalisiert. Du hast da was, mit dem du dich sehr identifizierst, wofür du verantwortlich bist, aber du hast es überhaupt nicht im Griff. Wenn er schreit, kannst du ihn ja nicht fragen, was los ist. Und du probierst und probierst und machst herum, und irgendwann hört er auf zu schreien. Beim nächsten Mal machstdu es wieder genauso, und es funktioniert nicht. Oder du sitzt im Flugzeug beim Start, das Kind fängt an zu heulen, und du siehst dabei die Gedankenblasen der Leute:

„Ich würde das nicht machen mit meinem Baby! Das ist aber ganz schön jung! Oder man interpretiert das in die Leute rein aus einer perversen masochistischen Sucht, sich selber schlechtzumachen. Judith: Natürlich stellt ein Kind alles auf den Kopf, einen selber auch. Auf der künstlerischen Seite nehme ich am stärksten eine größere Freiheit wahr. Solche einschneidenden Erlebnisse rücken das Verhältnis, was im Leben wie wichtig ist, zurecht. Die Musik ist mir noch sehr wichtig, aber ich nehme sie nicht mehr so wichtig. Ich nehme sie nicht mehr so schwer. Musik ist immer noch meine größte Leidenschaft. Ich habe mich sehr gefreut, wieder mit der Arbeit anzufangen, und es hat mir ganz großen Spaß gemacht. Das war ja vorher nicht klar. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich mir noch weniger G edanken darüber gemacht habe, ob man versteht, was ich da schreibe, oder ob das irgendjemanden interessiert. Ich habe mit einer Leichtigkeit geschrieben, aber auch schneller und müheloser als früher. Insgesamt habe ich das Gefühl gehabt, dass eine Sorglosigkeit reingekommen ist und ein neues Selbstverständnis – das Gefühl, es einfach so gut zu machen, wie ich kann. Die Wahrnehmung ist mir nicht so wahnsinnig wichtig. Es macht natürlich Spaß, mit diesem Grundgefühl wieder nach außen zu gehen. Weil ich mir denke, ach guck mal, jetzt sitze ich hier und gebe wieder Interviews. Es macht natürlich einen viel kleineren Teil meines Lebens aus, weil ich immer mit einem halben Ohr denke, was treibt denn das Kind gerade? Ich finde das sehr schön. Ich habe eine große Befriedigung empfunden, als das Album fertig war und ich gemerkt habe, das ist garantiert nicht die Platte, die die Leute erwarten, die sich wünschen, dass die neue Mütterlichkeit durchschlägt. Sowas befriedigt mich. Ich enttäusche solche Erwartungen sehr gerne. »>

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