Live


Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Ob ein Jerry Harrison oder die konzertierte Aktion der College-Radios - sie haben Ed Kowalczyk & Co. den Weg an die Spitze der Charts geebnet

Der amerikanische Traum: Um den ersten Platz der US-Top 200 einzunehmen, brauchte ‚Throwing Copper‘, Lives zweites Album, nicht mehr als zwölf Monate. Anfang Mai vergangenen Jahres plazierte es sich zum ersten Mal in den Billboard-Charts, um sich dann fast genau ein Jahr später an der Spitze zu etablieren. Inzwischen haben Live weit mehr als zwei Millionen Exemplare des Albums verkauft, pro Woche gehen noch immer 100.000 Einheiten über die Ladentische. Kein Wunder, denn die geradlinige Mischung aus Folkharmonien, engagierten Texten, die zum Teil vom indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti inspiriert sind, und kräftigen, psychedelischen Gitarrensounds, kommt bei einem Publikum, das mit Bands wie R.E.M. aufgewachsen ist, sehr gut an. „Unter Prachtstücken wie ‚The Dam At Otter Creek‘ oder ‚T.B.D.'“, frohlockt ‚Die Welt‘, „hätte gewiß auch manch ‚Großer‘ gern seine Signatur gesehen.“

Wie dem auch sei: Mit Songs wie ‚Selling The Drama‘, ‚Lightning Crashes‘ und ‚I Alone‘, die ungeschminkt von verlorener Liebe und den alltäglichen Unglücken des Lebens künden, sorgt die Band in den letzten Monaten für zunehmende Hysterie bei ihren amerikanischen Fans. Dabei beginnt die Erfolgsstory von Live ganz unspektakulär Mitte der achtziger Jahre in ‚Edgar Fahs Smith Middle School‘ in York, Pennsylvania, wo sich Bassist Patrick Dahlheimer, Gitarrist Chad Taylor und Schlagzeuger Chad Gracey zum ersten Mal in der Band „First Aid“ treffen. Etwas später stößt auch Sänger Ed Kowalczyk, Jahrgang 1971, dazu. Unter dem Namen „Public Affection“ erspielt sich das Quartett mit Cover-Versionen von Songs wie ‚Pretty In Pink‘ von den Psychedelic Fürs, ‚Don’t You (Forget About Me)‘ von den Simple Minds und ‚Boys Don’t Cry‘ von The Cure schnell eine wachsende Fangemeinde. „Der erste Song, an dem wir uns versuchten“, erinnert sich Kowalczyk leicht verschämt, „war ‚Summer Of ’69‘ von Bryan Adams.“ Zwei Jahre später erscheint mit ‚The Death Of A Dictionary‘, in einer Auflage von 2.000 Stück, das erste Album der Formation, allerdings nur auf Kassette. Von da an geht es steil bergauf. Nach einem Showcase im legendären New Yorker Club CBGB nimmt Gary Kurfirst, der Entdecker von Blondie, den Talking Heads und Dee Lite, die Band für sein Label Radioactive unter Vertrag. „Eine Szene wie in einem schlechten Film“, erinnert sich Patrick Dahlheimer: „Nach unserer Show kam er auf uns zu und erklärte großspurig, er habe Großes mit uns vor. Wir dachten nur, wer zum Teufel ist dieses glatzköpfige Arschloch?“ Letzteres sorgte immerhin dafür, daß die Gruppe ihren Namen nach langen Diskusionen in Live änderte und unter der Regie von Jerry Harrison, des früheren Keyboarders der Talking Heads, die EP ‚Four Songs‘ einspielte. „Für uns war und ist Jerry genau der richtige Produzent“, erzählt Ed Kowalczyk. „Er half uns, unsere Fehler in den Griff zu bekommen und unser Songwriting zu verbessern.“ Ein Jahr später erscheint das Debütalbum ‚Mental Jewelry‘, von dem die Band innerhalb kurzer Zeit über 400.000 Einheiten absetzt: „Wir konnten den Erfolg kaum fassen“, fährt er fort. „Ich war ein i9Jähriger Junge aus der sogenannten Mittelschicht, der gerade mal zehn Schallplatten besaß, und plötzlich war alles anders. Jedenfalls mußte ich mich nicht mehr auf dem College langweilen.“ Ein Glück, daß die Band zumindest die College-Radiostationen auf ihrer Seite wußte. „Ein wichtiger Grundstein für unsere Karriere“, wie Patrick Dahlheimer freimütig zugibt, „denn ohne das College-Radio, daß unsere Songs von Anfang an spielte, obwohl wir noch keine einzige Chartsplazierung vorzuweisen hatten, wären wir nicht da, wo wir heute sind.“ Sänger und Gitarrist Ed Kowalczyk und Bassist Patrick Dahlheimer sind sich aber ebenso einig, daß neben dem massiven Airplay die endlosen Tourneen ein weiterer Grund für den Erfolg der Band sind. Seit 1992 ist man fast durchgehend auf Tour, kürzlich wäre ihnen eine Reise im Bandbus fast zum Verhängnis geworden: „Wir waren ständig müde und hatten fürchterliche Kopfschmerzen“, erinnert sich Chad Taylor, „bis wir endlich merkten, daß der verdammte Bus ein Leck im Auspuff hatte und den Innenraum ständig mit Abgasen füllte. Mann, dabei hätten wir draufgehen können.“

Allen Widrigkeiten des Tourlebens zum Trotz läßt Patrick Dahlheimer die Vergangenheit auch mit einem weinenden Auge Revue passieren: „Manchmal sehne ich mich zurück zu den Tagen, als unser Publikum noch überschaubar war. Mittlerweile kommen viele Leute zu unseren Konzerten, die bestenfalls einen Song von uns kennen. Nimm zum Beispiel Woodstock II“, hält er frustriert inne, „das war ein ziemlich unerfreuliches Erlebnis. Es machte keinen Spaß dort zu spielen.“

Doch trotz des enormen Erfolgsdrucks, der auf der Band lastet, gehen die vier Schulfreunde ihren Weg mit bewundernswerter Konsequenz weiter. „Wir werden den Kontakt zu unseren Wurzeln und unseren Freunden auch dann nicht verlieren, wenn wir zehn Millionen Platten verkaufen sollten“, versichert Ed Kowalczyk. „Und auf Leute, die sich jetzt plötzlich als unsere Freunde ausgeben, obwohl sie uns jahrelang ignoriert haben, können wir getrost verzichten.“ Auf den obligatorischen Vorwurf, daß manche Live-Kompositionen ein wenig nach ihren größeren Brüdern im Geiste namens R.E.M. klingen, kann Ed Kowalczyk nur müde lächeln: „Sicher ist R.E.M. eine unserer Lieblingsbands. Doch bei genauem Hinhören erkennt man sehr schnell, daß unsere Songs individuell sind und sich nicht aufs Kopieren bekannter Musterbeschränken.“