London auf einem Bierdeckel


The Go!Team, Blood Red Shoes, Pipettes - das Seebad Brighton macht gerade Furore mit den etwas anderen Bands. Wo sich in den Sixties Mods- und Rocker legendäre Raufereien lieferten, wird heute auf engstem Raum emphatisch genetzwerkelt. Notizen aus dem neuen Vergnügungspark des Britrock.

Wohin bloß mit dem Koffer? Das Ding steht überall nur im Weg herum. Es ist kein Durchkommen mehr in Shiges Chaos-Apartment im Zentrum Brightons. „Das ist mein Shop“, sagt Shige, öffnet den blöden Koffer und holt nacheinander eine Flasche Jack Daniels, Klamotten und CDs hervor. Aus den Laptop-Boxen zwitschert und blubbert es elektronisch, die Skelett-Masken an der Wand glotzen entsetzt, als könnten sie mit diesen Beats niemals Freundschaft schließen. Go!-Team-Bassist Jamie Bell schnappt sich die nächstbeste Gitarre, einen Kinderbass mit „Dick“-Aufkleber, und jammt grinsend mit. Shige macht schlapp, er hat gestern bis in die Puppen hinter dem DJ-Pult gestanden und gekifft.

An besseren Tagen ist Shigeru Ishihara als Partyfachkraft DJ Scotch Egg im Vorprogramm des Go! Team im Einsatz. Dann wirft er seinen Gameboy an und feiert den Triumph des Gabbertechno über den Rock’n’Roll-Mythos. „Manchmal schmeißt Shige auch hartgekochte Eier ins Publikum“, erzählt Sam Dook, der Alleskönner beim Go! Team. „Du musst dir diese Indie-Kids im Publikum vorstellen, die sich ein bisschen für die Nacht fein gemacht haben. Und dann so etwas.“

Lektion eins: In Brighton geht (fast) alles. Die 250.000-Einwohner-Stadt an der britischen Südküste, vor allem bekannt als das größte Seebad der Insel, macht gerade Furore als eine Art Musik-Wundertüte. Als veritabler Vergnügungspark des Britrock. Es gibt zwar keinen Sound Of Brighton, dafür aber eine hochdynamische, von früh bis spät netzwerkelnde Szene, ein Bandprogramm voller Kontraste und kruder Kombinationen, einen Haufen genremixender Pop-Afficionados. Brighton, Hauptstadt der etwas anderen Bands: von den melodramatischen Indie-„Swing Out Sisters“ Pipettes über das Disco-Grunge-Duoinfernale Blood Red Shoes bis zum Go! Team, der größten Versuchung, die Popmusik 2007 heimsucht. Aber auch die Kooks nicht zu vergessen, die gerade an einem neuen Album arbeiten, Electric Soft Parade, die Brakes und British Sea Power, Electrelane, Lucky Jim, Bat For Lashes. Und wie wär’s mit Maths Class, Metronomy und Restlesslist – schwer next-big-thing-verdächtig, googeln und myspacen Sie, bevor andere es tun!

Als Vorhut des neuen Brighton Rock schlugen Electric Soft Parade mit dem Album Holes In The Wall in den Trendblogs des Jahres 2002 auf, da waren die Brighton-Boys Tom und Alex White gerade mal 16 und 18 Jahre alt. Damals war das Go! Team noch ein Bedroom-Projekt des szenebekannten Nerds und Charity-Shop-Freundes Ian Parton. Die erste Go!-Team-Single erschien auf dem kleinen Pickled-Egg-Label, das vorher schon „Easter Songs“ von Sam Doo ks Band 100 Pets veröffentlicht hatte.

Das Go!-Team-Debüt Thunder, Lightning, Strike stellte Parton fast im Alleingang fertig. „Dann trudelte ein Angebot für einen Festivalauftritt in Schweden ein. Aber ein Go! Team existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht“, erzählt Jamie. Jan hatte die Idee zu einer Band, war sich aber nicht sicher, ob das funktionieren würde. „Die Band wurde im Eilverfahren rekrutiert, über Freundes-Freunde, Musik-Bekannte und Inserate. „Keiner von uns kannte den anderen. Okay, sagten wir uns, es ist ein Trip nach Schweden. Niemand hat sich Gedanken gemacht, was daraus werden könnte“, erinnert sich Sam Dook. Im Bandverbund ist dann dieses unverwechselbare The-Go!-Team-Hurra! entstanden. Das neue Album Proof Of Youth steht jetzt da wie ein Festakt der Ausgelassenheit und Überdrehtheit, ein Party-Pop-Album zum Wegkreischen, zum Nächtedurchtanzen und Schule- oder Jobschwänzen am Morgen danach. Was man den Go!-Team-Aufnahmen nicht unbedingt anhört: Sie sind aufwändigste Bastelarbeiten – mutig gefrankensteint, mit Loops und Samples angereichert, mit echten und geklauten, manipulierten, vervielfachten Chören.

„Wir hatten nachher mehr Tracks, als ein Computer bearbeiten kann „, erzählt Jamie. Die Sample-Manie geht auf das Konto von Bandchef Ian Parton. „Ian wühlt sich durch Unmengen von Musik, kauft Schallplatten, das Stück für ein Pfund. Zeug, von dem jeder sagt, das ist die pure Geldverschwendung. Aber hier und da findet Ian drei Sekunden voller Magie. Darum geht’s doch in der modernen Popmusik“, findet Jamie Bell, der dem Go! Team dieses verzerrte Basswummern schenkt. „Wir hören die immer gleichen Beats und Samples, lan ist auf der Suche nach etwas, das niemand zuvor entdeckt und benutzt hat.“

Das Go!-Team-Markenzeichen ist der konsequente Basement-Sound, sie spielen Songs aus der Schmuddelschule. Aufgenommen wird ihre Musik mit billigen alten Grundig-Mikrofonen, das Schlagzeug fahren sie ständig in den roten Bereich. „Esgibt Songs, in denen Chi, Sam und Ian Drums spielen, drei Drummer für zwei Drumkits“, so Jamie. Instrumente werden unter den sechs Bandmitgliedern im Handumdrehen gewechselt, Sicherheiten verworfen. „Vielleicht wird das nächste Album eine Trash-Metal-Geschichte.“

sS nimmt Wunder, dass diese Sechserbande noch nicht zur Bewerbung des aktuellen, multikulturellen, spaßhaften, schwulenfreundlichen, aber auch ein bisschen spleenigen Brighton Verwendung gefunden hat. The Go! Team als „United Colours Of Brighton“, als Monkees des Cut & Paste-Zeitalters: Derblasse Genius Ian, die japanische Drummerin Chi Fukami, der gute Geist Jamie am Bass, Rapperin Ninja, die wie die kleine Schwester von Lil‘ Kim ausschaut, Multinstrumentalistin Kaori, und Sam, einziger echter Brightonian in der Band, ältestes von acht Kindern einer Lehrerfamilie und musikalisch mit halb Brighton verbandelt.

Lektion zwei: Brighton ist Spitze. 93 Prozent der Brightonians bezeichnen sich in einer Umfrage der „National Lottery“ als glücklich, keine andere Stadt im weiten Königreich kann solch‘ fantastische Gutfühl-Werte erzielen. Sollte das etwa damit zu tun haben, dass jeder zweite Mensch unter 30 hier in einer Band spielt, dass Brighton in der Danceclubs-pro-Kopf-Statistik ganz vorne liegt? Haben wir schon erwähnt, dass Brighton seit Jahren auch die Hauptstadt der Drogentoten auf der Insel ist? Wenn es mit dem Klimawandel so weitergeht, orakelt Julie Burchill, die große alte Schnepfe des Punk-Journalismus in ihrem letzten Buch, wird Brighton eines Tages mehr Ibiza als Cannes gleichen. „Wer schaut sich nicht Heber an, was hinreißende junge Mädchen mit hinreißenden Jungs treiben – und wenn es dabei um Drogen geht-, als das, was diese Mädchen mit schmutzigen alten Männern für Geld tun.“

Im Zweifelsfall hat Julie Burchill ihre Eindrücke in den Lanes gesammelt, die in Brighton „Laines“ geschrieben werden: die poshe Retro-Kitsch-Meile mit aufreizend teuren Second-Hand-Läden, mit Bookund Record-Shops, mit Saftbars, do-it-yourself-gestylten Restaurants und einem erklärtermaßen vegetarischen(!) Schuhgeschäft. Im Dachgeschoss eines Klamottenladens in Kensingtcjn Gardens versteckt, residiert Colin in seinem „Edgeworld“-Record-Shop wie in einer Funkleitzentrale. Hier laufen die Drähte zusammen: Edgeworld ist Konzertagentur, Infotheke und ein von oben bis unten vollgequetschtes Plattenstudio mit Schwerpunkt Underground, von einem John-Peel-Besuch geadelt.

Die London Road etwas abseits des Zentrums sieht gleich eine Ecke abgerückter aus. Hier wohnt Sam Dook in einer Musiker-WG mit Gemeinschaftsküche, improvisierten Mini-Studios, hintendran der Piratensender 4A. Hausfrieden garantiert – im Untergeschoss befindet sich eine Leichenhalle. Heute spielt Cellist Simon Janes in Sams Bedroom seinen Part für ein Cover des Leonard-Cohen-Songs „Who By Fire“ ein. Zwei Etagen darüber bastelt Iain Paxon in seiner Kemenate an den jüngsten Songs seiner Band Hamilton Yarns, aufgenommen mit einem uralten 8-Track-Kassettenmaschinchen. Gerade erreicht Sam eine Mail mit dem Rohmix eines Go!-Team-Tracks mit Chuck-D-Vocals. Donnerndes Inferno im bedroom.

Lektion drei: Brighton ist genusssüchtig. Das Seebad hat eine lange Tradition als Vergnügungsmeile der Briten, von den Lords und Earls und Dukes, die Brighton zu ihrer Badewanne deklarierten, bis zum Parka-Pop-Aufbruch der Sixties. In den frühen 6oern spielten die Who (anfangs unter dem Namen The High Numbers) als Beatkapelle zur Unterhaltung in den „Florida Rooms“ am Pier auf. Das war noch vor den sportlichen Raufereien, die sich Mods und Rockers 1964 am Strand lieferten. Gegen die Monstersause allerdings, die Big-Beat-Ballermann Fatboy Slim alias Norman Cook im Juli 2002 auf dem Brighton Beach mit einer Viertelmillion Partytouristen feierte, nimmt sich der legendäre, im Film „Quadrophenia“ verewigte „Brighton Rumble“ von 1964 doch eher wie ein bescheidenes Provinzhauen aus.

Lokalheld Cook machte – nach seinem Gastspiel bei den nordenglischen Housemartins Mitte/ Ende der 80er-Jahre – Brighton zur Partymeile Südenglands. Brighton wurde zum Synonym für den Bumms, den die Hauptstädter suchten – und zum Fluchtpunkteines alternativen Lebensstils, den man in London teuer bezahlen musste. Erst ging der Verkauf an die Besserverdienenden aus London ganz still vonstatten, dann schossen die Immobilienpreise in die Höhe. Heute sind 75 Prozent des Wohneigentums im Besitz von Londonern. Die Kaste der Kreativen hat sich ihr London by the sea „schön“ gemacht, mit all den Coffee- und Giftshops und Organic-Food-Läden. Prominente Teilnehmer des „Besser-leben-in-Brighton“-Traums: Nick Cave, Jimmy Somerville und Paul McCartneys Ex in spe, Heather Mills.

Der aktuelle Bandboom markiert die jüngste Etappe dieser Invasion. Bands und Labels verlagern ihr Domizil nach Brighton, der guten Rock’n’Roll-Bedingungen wegen. Davon erzählen die Geschichten von Kooks, Maccabees und Fat Cat Records – das Label, das vor sieben Jahren von London in den Süden übersiedelte und Bands wie Sigur R6s und Animal Collective der Welt vorstellte. Was ist für das Label an Brighton so anziehend? „Das große Musiker-Netzwerk in der kleinen Stadt“, antwortet Dave Cawley von Fat Cat. „Der Enthusiasmus für Musik“, sagt Blood-Red-Shoes-Dmmmer Steven Ansell, selbst ein Zugereister. „Als Band kommst du hier sehr leicht zurecht, es gibt zahlreiche Studios, Proberäume und tolle Clubs, alles auf engem Raum. Du musst nicht durch die halbe Stadt reisen wie in London. Und Brighton hat eine Geschichte als Bohemia by the sea, für die Engländer ist Brighton eine Hippiestadt.“

Die Blood Red Shoes kehren gerade von der „NME New Music Tour“ zurück, sie haben heute abend ein Heimspiel im Concorde 2, einem mittelgroßen Indie-Club an der Promenade. Steven Ansell und Laura-Mary Carter spielen eine Art Kontrastprogramm zum Multisoundspektakel des Go! Team: geringer Input, zwei Musiker, zwei Instrumente, ein Abschied vom klassischen Bandgedanken. „Wie leicht das plötzlich war, Songs zu schreiben“, erinnert sich Steven, der ohne Partnerin Laura-Mary zum Interview erschienen ist. „Es gab plötzlich keine vier,fünf Leute mehr, die untereinander ausgefochten haben, was gut und was schlecht war. Laura und ich improvisieren, arbeiten sehr spontan. Es ist sehr direkt.“ Und es klingt manchmal, als hätte man die polternden Kinder von Nirvana in die Disco geschickt- so, macht mal!

Im September 2006 stellten die Blood Red Shoes sich die Alles-oder-nichts-Frage: „Entweder werden wir eine große Band und machen Karriere, auch wenn ich das Wort hasse, oder eben nicht. Wir schmissen unsere Jobs, hatten kein Geld mehr, um unsere Miete zu zahlen, und haben auf dem Fußboden im Studio geschlafen. Wir waren obdachlos, ein halbes Jahr lang.

Inzwischen können sie sich eine Wohnung nicht weit vom West Pier leisten … Zur Fotosession taucht Laura-Mary Carter plötzlich doch noch auf, sie musste nur mal eben Make-up auftragen. Wenn das Freebutt’s nicht gerade wieder geschlossen worden wäre, hätten wir dort fotografiert. Das Freebutt’s, die Legende, der Club, in dem sie alle gespielt haben: die Großen, als sie noch klein waren, Blur und Mogwai. DJ Scotch Egg und sein Kumpel Shitmat machten das Freebutt’s zum Tempel ihrer „Wrong music“-Gemetzel; Blood Red Shoes und die Pipettes gaben ihre ersten Konzerte dort. Die Grundschule des Brighton Rock. Nur zu laut für die neuen Nachbarn.

Sam Dook nimmt uns mit in den Pub im Obergeschoss des Freebutt’s, der heute wenigstens geöffnet hat. Freunde von Sam drehen Krautrockplatten auf den Turntables. „Wir bewegen uns alle in denselben sozialen Gefilden, Bars und Clubs. Jeden Montag

findet eine HipHop-Open-Mic-Night statt. Selbst Leute, die in Gitarren-Bands spielen, mischen da mit, es wird nie zu einer reinen HipHop-Veranstaltung“, erzählt Sam. „Musikerin Brighton unterstützen einander wie selbstverständlich, Hilfe ist nur ein Handyklingeln weit weg.“

Die Stadt, die sich selbstbewusst zum Kaff von Welt bekennt, profitiert auch von der Nähe zu London, wo die großen Plattenfirmen ihre Headquarters haben. Brighton ist keine Stunde mit der Bahn von London entfernt. „Für mich ist Brighton London auf einem Bierdeckel“, sagt Gordon Grahame, der Popromantiker von Lucky Jim. „Eine Art Disneyland für Rock’n’Roll-Typen.“Wenn die Dämmerung einsetzt und man einen Blick auf die See wirft, könnte man den Palace Pier versehentlich für dieses Himmelreich des Vergnügens halten, ein disneyhafter Familienjahrmarkt mit Geister- und Achterbahnen in allen Variationen.

Nur eine Kopfdrehung weiter taucht der West Pier auf; das letzte Restchen Seebadglanz, ein gusseisernes Skelett, das stückchenweise im Wasser verschwindet. In Brighton lebt man mit beidem, mit Spektakel und Verfall, mit Glamour und Melancholie. Die Rock’n’Roll-Typen gehören genauso zum Stadtbild wie die Sprachschüler im Sommer und die Rentner am Kieselstrand. An den Sonnenmilch-Tagen schieben sie sich gemeinsam durch die Gassen und die prachtvollen Straßen an der Promenade mit ihren Regency-Bauten. Und die Kinder steuern zielstrebig auf die Shops zu, deren abbröckelnde Fassaden seit Ewigkeiten für die örtlichen Zuckerstangen werben: „Brighton Rocks“.

„Die Touristen halten diese Stadt nun mal am Laufen“, sagt Alex White, Gitarrist und Organist von Electric Soft Parade und den Brakes. Das halbe Jahr ist Alex auf Tour. Jedes Mal, wenn er zurückkommt, muss er tief durchatmen: „Brighton ist meine Heimat, meine Stadt, mein New York. Ich liebe meine Stadt immer wieder aufs Neue. Und ich weiß nicht einmal, warum.“

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