„Man zollt mir Respekt“


Zwei Jahre nach dem großen Comeback genießt Morrissey sein Leben in einer neuen Wahlheimat. Ein Gespräch über mediterrane Lebenslust, zwei verschiedene Viscontis, Ennio Morricone und uninspirierende Megastars.

Ein M ziert das blaue T-Shirt von Stephen Patrick Morrissey genau über der Brust. Wir sind in einem Hotelzimmer mit Panoramablick über den Dächer Roms, im obersten Stockwerk des Hotels De Russie am Ende der Via Del Babbuino. Hier hat Marion Brando gewohnt, als er vor drei Jahren zum letzten Mal nach Rom reiste. Morrissey spricht sachte und ruhig, besonnen, er ist entspannt und freundlich, in Jeans. Als erstes gibt er Auskunft darüber, warum er Rom als neuen Wohnsitz gewählt hat und seine neue Platte Ringleader Of The Tormentors hier aufnahm.

Morrissey: Ich habe mir Rom gar nicht bewußt ausgesucht, sondern Rom hat mich gewählt. Ich war zuvor schon so oft zu Besuch in Rom, aber ohne jemals wirklich von der Stadt berührt worden zu sein, weiß der Himmel, warum. Vielleicht weil ich einige Jahre voller persönlicher Finsternis durchlebte, aber als ich letztes Jahr im Januar nach Rom kam, war ich einfach nur hingerissen, total eingenommen von Rom – von allem: den Leuten, dem Stil, der Sonne, der Architektur, der Mode und der Lebensfreude, die die Leute ihrer bloßen Existenz abgewinnen können. Sie scheinen sich nicht um ihre schreckliche Regierung zu scheren, jedenfalls lassen sie sich davon nicht so sehr tangieren, daß sie nicht trotzdem Vergnügen und Freude empfinden könnten. Die Leute sind auch keine Stubenhocker, sie flanieren in den Straßen, und überall pulsiert das Leben. Ich war so hin und weg, daß ich beschloß, zu bleiben. Jetzt bin ich seit fast einem Jahr ununterbochen hier und habe das Album in Rom aufgenommen, mit dem Produzenten Tony Visconti, der aus einer italienischen Familie stammt, mit Ennio Morricone und dazu vielen italienischen Kindern als Chor in ein paar Liedern. Rom hat mich im Sturm erobert.

In der Single „You Have Killed Me“ zitieren Sie Künstler wie den Regisseur und Dichter Pier Paolo Pasolini, die Schauspielerin Anno Magnani und den Regisseur Luchino Visconti. Wie haben Sie das italienische Kino und die italienische Kultur kennengelernt? Und sind Sie mit den Stars in Verbindung getreten?

Innerlich. Ich habe niemanden kontaktiert, aber ich habe mich in den italienischen Film vertieft, habe ihn regelrecht mit jeder Pore aufgesaugt. „Rocco und seine Brüder“ von Visconti hat ja schon viele inspiriert und beeinflußt. Aber vergangenes Jahr hat es auch bei mir klick gemacht, alles hatte plötzlich Sinn, und ich dachte: Was für ein wunderschönes Land! Und es tut mir sehr leid, daß nicht mehr britische und amerikanische Bands hierherreisen, daß sie Italien – soweit ich das beurteilen kann – oft links Hegen lassen. Künstler und Musiker scheinen hier nicht so oft in großem Stil vorbeizuschauen; mir kommt die Bevölkerung in Sachen Musik und Konzerte regelrecht ausgehungert vor.

Der erste Satz von „You Have Killed Me“ lautet: „Pasolini is me…

Ich liebe Pier Paolo Pasolini, habe alle seine Filme gesehen. Er war einzigartig und mit so vielen Talenten gesegnet: Er war ein guter Regisseur, Schriftsteller, Journalist, und nicht zu vergessen: Er sah immer sehr gut aus. Sein Vermächtnis ist an jeder Ecke Roms zu spüren, einfach überall.

Wo haben Sie eigentlich das Martinshorn aufgenommen, das am Anfang von „The Youngest Was The Most Loved“ aufheult?

Das ist der Klang Roms, „the sound of Rome“, ein unverwechselbarer Klang, den sonst keine Stadt der Welt hat. Als wir nachts aus unserem Studio kamen, dem Forum an der Piazza Euclide, lief jemand an uns vorbei und rief etwas, das wie „eccelente, eccelente“ klang, das haben wir auch aufgenommen und in einem Song verarbeitet. Wir liefen einfach mal vier Minuten aus dem Studio raus, um das aufzunehmen. Es klingt unglaublich, und es ist für mich der Sound der Stadt, und dieser Sound klingt einfach gut.

„Dear God, Please Help Me“ ist auch so ein Song voller Italien-Flair. Wie entstand er? Klingt wie eine Art laizistisches Gebet…

Man kann nicht in Rom sein, ohne die Religion zu bemerken. Ihre Präsenz ist beeindruckend und allgegenwärtig wie ein Ausrufezeichen. Aber trotzdem lief ich die Straßen entlang, bereit, jeden und einfach alles von ganzem Herzen zu lieben. Darum geht es in dem Stück. Ich hatte das Gefühl, von mir selbst auferlegte Ein- und Beschränkungen loszuwerden. Die sieben Jahre davor hatte ich in Los Angeles gelebt – das ist eine sehr furchteinflößende Stadt: Die Leute sind irre nervös und reizbar, sie sorgen sich sehr – angefangen von dem, was sie tun, bis zur Polizei. Man läuft nicht einfach mal auf der Straße herum, noch kann man einfach so an Leuten vorbeispazieren. Man kommt sich nicht nahe, es ist eine sehr streng strukturierte Stadt. Hier in Italien fühle ich mich endlich so richtig mitten unter Menschen. Tiefempfundene Gefühle wurden und werden hier in mir aufgewühlt. Manche Nächte sind unheimlich belebt und geschäftig, aber in anderen sind die Straßen ganz leer, und es ist sicher, sehr sicher und leer.

Welchen Ort mögen Sie in Rom am allerliebsten?

Die Villa Borghese. Aber ich mag jedes Steinchen in Rom und natürlich auch Trastevere.

Sie haben gesagt, daß Sie in Kalifornien Ihr Faible fürs Autofahren wiederentdeckt haben. Setzen Sie sich auch in Rom ans Steuer?

Ich bin schon halbwegs intelligent. Ich könnte nie und nimmer in Rom Auto fahren, der Verkehr ist der Wahnsinn. Aber als Beifahrer finde ich es saukomisch, durch Roma zu flitzen: Die Leute machen einfach ganz genau das, was sie wollen. Es ist verrückt, Kamikaze!

Was halten Sie von den „Bella Donnas“ in ihren Pelzmänteln ?

Die sind so deprimierend. Sie sagen: „Ich trage Pelz und ich bin dumm. Und es sieht unwahrscheinlich unattraktiv aus. Vielleicht wußte man in den 80er Jahren noch nicht soviel über dieses Thema, aber inzwischen weiß man Bescheid, und es gibt keine Ausreden. Pelz ist ein Symbol des Horrors. Alle Leute, die ich kenne, sind angewidert, wenn sie Pelze sehen, und sie sind auch angewidert, daß kultivierte und intelligente Frauen immer noch Pelze tragen. Ein absolutes Rätsel. Frauen wie Madonna und Victoria Beckham tragen Pelz, was ein totaler Widerspruch zu dem ist, was sie zu sein vorgeben: Beide behaupten von sich, richtig gute Mütter zu sein, aber sie tragen trotzdem Pelz. Der massive Widerspruch liegt darin, daß sie buchstäblich entweder das Kind oder die Mutter von jemanden tragen. Sie können also gar keine guten Mütter sein, wenn sie Pelz tragen, das bleibt auf ewig ein Widerspruch.

Der große italienische Filmkomponist Ennio Morricone hat auf dem neuen Album einen Song arrangiert. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Morricone arbeitet schon seit Jahren im Forum-Studio, und viele Leute da kennen ihn, weil er dort ein und aus geht. Aber sie winkten gleich ab, als ich nach Morricone fragte – er sei generell nicht an Kollaborationen interessiert und weise deshalb jeden ab. Trotzdem ließ ich ihm meinen Song zukommen. Und er sagte: „Doch, ich bin interessiert, ich könnte mir vorstellen, mit dabei zu sein.“ Er schuf ein sehr, sehr gut ausgearbeitetes, richtiggehend ausgeklügeltes Stück mit Orchester und allem drum und dran. Das war eine große Überraschung, denn alle dachten, er würde nur ein paar Töne beisteuern. Wir verbrachten den ganzen Tag im Studio, obwohl es schon schwierig ist, mit ihm zu kommunizieren – er interessiert sich nicht für Menschen. Aber das ist auch gut und richtig so, denn er ist der Maestro, er scheint in seiner eigenen Welt zu leben, und durch seinen großen Namen hat er alle Freiheiten, genau das zu tun, was ihm beliebt. Aber er war voll des Lobes über den Song „Dear God, Please Me“, als er ihn mit den Arrangements von Tony Visconti hörte. Und wir waren höchst erfreut, daß er mir zugesagt hatte. David Bowie und U2 hatten davor schon Abfuhren kassiert. Es war eine große Ehre für mich, Ennio und sein Orchester und Tony Visconti in diesem phantastischen Studio spielen zu hören, dabei zu sitzen im (nördlichen) Herzen Roms. Er war so, wie man in Italien sagt, „perfetto“. Himmlisch …

Wie haben Sie denn Tony Visconti kennengelernt?

Vor gut 20 Jahren habe ich Tony zum Mittagessen eingeladen, Johnny Marr und ich wollten ihn damals dafür gewinnen, THE QUEEN IS DEAD zu produzieren. Was er aber abgelehnt hat. Dann, vor zehn Jahren, sollte er eigentlich mein Album TOUR ARSENAL produzieren, was wieder nicht zustande kam. Wir sind also schon seit Jahren dafür bestimmt, zusammenzuarbeiten … und jetzt plötzlich klappt’s, weil Tony Zeit und Lust hatte, nach Rom zu kommen. Seine ganze Familie stammt aus Italien, und er kam supergerne hierher zurück. Mit ihm zu arbeiten, war überwältigend – er ist hochbegabt, fachkundig ohne Ende, sehr erfahren und niemals der Vergangenheit zugewandt, er schaut immer nach vorne. Oft höre ich: „Er hat David Bowie und T.Rex produziert…“ Okay, aber das ist ewig und drei Tage her, und Tony ist nicht in dieser Epoche verhaftet geblieben, sondern mit der Zeit gegangen. Er ist sehr clever, und ich glaube, wir haben ein phantastisches Album gemacht.

System Of A Down, The Libertines, Ryan Adams, Franz Ferdinand, sogar JK Rowling finden The Smith und Morrissey toll und sind Fans. Welchen Einfluß hatten Sie und die Smiths Ihrer Meinung nach ?

Mich überrascht besonders, daß unser Einfluß schon seit Jahrzehnten zu einer Konstante geworden ist. Andauernd höre ich sehr junge Bands, die davon schwärmen, wie The Smith oder ich sie inspiriert haben. Das ist eine große Ehre. Denn in der Musik ist es so, daß man sehr berühmt werden kann, 60 Millionen Alben verkauft und absolut niemanden damit inspiriert. Es gibt so viele Künstler, deren Songs sich rund um den Globus in Unmengen verkaufen, die aber keinen Menschen inspirieren.

Sowie Madonna?

Ja, Madonna ist das perfekte Bespiel. Sie hat 60 Millionen Alben verkauft, aber sie hat weder das Leben von irgend jemandem damit berührt oder verändert, noch wird sie, wie es aussieht, von irgendeinem ernstzunehmenden Künstler respektiert. David Bowie hat 1990 einen Morrissey-Song („I Know It’s Gonna Happen Someday“, Anm. d. Red.) aufgenommen, was mich unendlich gefreut hat.

Haben Sie das Buch „Der Fliegenfänger“ (Originaltitet: „The Wrong Boy“) von Willy Russell gelesen?

Das sollte unbedingt verfilmt werden. Ich mochte das Buch, man kann sich zum Teil darin wiederfinden. Das Leben gibt mir so viel, und es ist richtig gut zu mir – was damit zu tun hat, daß ich weder 60 Millionen Alben verkaufe noch global besonders wahrgenommen werde und nie auf MTV laufe. Aber man zollt mir Respekt. Das ist unbezahlbar.

The Queen Is Dead erschien vor 22 Jahren. Wenn Sie heute an The Smiths denken, dann…?

Dann denke ich, die waren etwas ganz Einzigartiges – zu der Zeit. Ich bin stolz darauf, daß sich im Rückblick gezeigt hat, daß The Smiths kein Hype waren. In die Gruppe wurde nie Geld gepumpt. The Smiths waren plötzlich einfach da – und niemand wußte sofort, was sie waren. Und das machte unseren Erfolg für mich sehr aufregend, denn niemand hatte den Erfolg vorhergesagt oder groß angekündigt. The Smiths waren wie sonst keine Band, sie existierten in ihrer eigenen Welt, gehörten weder einer Jugendbewegung noch sonst irgendetwas an. Deshalb waren sie sehr subversiv und wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Die Songs, finde ich, waren sehr stark und sind sehr staTk geblieben. Sehr starke, überzeugende Songs.

Was ist Ihr Lieblingssong von The Smiths?

Fragen Sie mich lieber nicht, denn ich liebe fast alle Songs von The Smiths und mag nur eine Handvoll nicht recht leiden.

Was hört Morrissey gerade für Musik ?

Alles Mögliche, aber nicht viel neues Zeug. Die Auswahl ist riesig: viel Indie aus den 80ern, guten Mainstream-Pop, manches aus den 60ern, vieles aus den 70ern. Die Vergangenheit ist für mich wie ein großes musikalisches Bild, aus dem man viele Ausschnitte wählen kann.

Glauben Sie, daß sich die Leute 22 Jahre nach „Meat Is Murder mehr Gedanken zum Thema Tierrechte machen ? Sie haben letztes Jahr eine Auszeichnung von der Organisation PETA bekommen.

Ja, ich glaube, daß es in dieser Frage ein größeres Bewußtsein gibt und mehr Unterstützung. Viele Leute sagen: Mir sind die Tiere zwar egal, aber nicht meine Gesundheit, deshalb könnte ich mir vorstellen, Vegetarier zu werden. Mir ist das als Grund gut genug.

Sind Sie eigentlich Veganeroder Vegetarier?

Vegetarier. Veganer trinken keine Milch und tragen keine Wolle. Es gibt nicht allzu viele vegetarische Restaurants in Rom. Eines ist in deT Via Margutta, einen Katzensprung von Fellinis Haus entfernt. Aber zum Glück gibt es hier auch nicht viele Metzgereien. Ich glaube, da sind ganz viele verschwunden und haben dicht gemacht – super.

Waren Sie am 7. Juli 2005 (dem Tag der Bombenanschläge in London, Anm. der Red.) in Rom? Und wie haben Sie sich gefühlt?

Ich war hier in Rom. War keine Überraschung. Vor den Bombenanschlägen in London hat sich Blair lange Zeit sehr ruhig und bedeckt gehalten und danach beim G8-Treffen in Schottland verkündet, London werde weiterleben. Klar, das ist für ihn leicht zu sagen: Blair muß weder die U-Bahn noch den Bus nehmen oder eine Straße überqueren, jeder Schritt, den er macht, ist gut bewacht. Blair schert sich einen feuchten Dreck um die Leute, die ihn gewählt haben, um die britische Bevölkerung insgesamt. Er ist genau wie Bush durch und durch egoistisch.

Verfolgen Sie die Politik in Italien?

Nicht besonders genau, es ist total deprimierend. Aber Politik wird mir nie lustige Unterhaltung sein oder ein Lächeln auf meine Lippen zaubern können, solange sich nicht drastisch etwas ändert. Was mich aber inspiriert, ist die Art und Weise, wie die Leute hier mit der Situation umgehen: Sie lassen sich ganz bewußt nicht die gute Laune verderben. Sie leben trotzdem, und sie haben trotzdem ihren Spaß und sagen sich: Klar haben wir eine grauenhafte Regierung, aber das ist nicht alles, was zählt. Wohingegen die Leute in England unterdrückt und erdrückt sind und wegen ihrer Regierung antriebslos geworden sind.

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