Massive Attack: Pop Politik Pornos


Fünf Jahre sind seit "Mezzanine", dem letzten Streich von Massive Attack, vergangen. Jetzt sind die Pioniere der anspruchsvollen modernen Clubmusik wieder da. Und einmal mehr geht es ihnen beileibe nicht nur um Musik.

Bristol im Dezember 2002. Robert Del Naja, besser bekannt unter seinem Künstlernamen 3D als kreativer Kopf von Massive Attack, schaut aus dem Fenster und erblickt leichten Schneefall. Da würde er am liebsten alles stehen und liegen lassen. Die westenglische Hafenstadt wird im Winter nicht so häufig mit Schnee zugedeckt. Vorsichtshalber verabredet sich Del Naja zu einer Schneeballschlacht. Ob er sich zu der wirklich durchringen wird, ist allerdings fraglich. Der Mann tut nichts lieber als im warmen Studio zu sitzen, dort droben im altehrwürdigen Stadtteil Clifton, wo man auch Antiquitätengeschäfte und kleine Cafes vorfindet. Die entspannte Umgebung scheint für ihn wie geschaffen zu sein. Dort fand er den Faden wieder, an dem er ein neues Kapitel von Massive Attack aufziehen konnte.

Knapp fünf Jahre sind seit Veröffentlichung des dritten und bislang erfolgreichsten Albums „Mezzanine“ ins Land gegangen. Diese fünf Jahre waren die schwersten in der turbulenten Geschichte des Projekts. Das jüngste Leiden begann damit, dass Andrew Vowles alias Mushroom, lange Jahre treuer Wegbegleiter von Del Naja und Grant „Daddy G“ Marshall, nach der letzten Welttournee ausstieg – eine Entscheidung, die nicht überraschend kam, denn schon während der Aufnahmen zu „Mezzanine“ war die Band laut Del Naja in Richtungskämpfe verstrickt. Mushroom wollte den Sound in Richtung Soul und R&B lenken, den anderen beiden Bandmitgliedern schwebte damals etwas in der Art von New Wave und Rock vor. In der Vergangenheit hatte Mushroom seine Auffassung über die musikalische Richtung von Massive Attack noch unterdrücken können, doch 1999 war er die Kompromisse leid. Aus dem dreiköpfigen Kern der Formation wurde also ein Duo, aber selbst das arbeitet mittlerweile nicht mit vollem Einsatz, denn Daddy G ist Vater geworden und hat sich entschieden, die damit einhergehenden Pflichten ernst zu nehmen. Auf dem neuen Album ist seine bewährte Bassstimme folglich nicht zu hören, und auch an wesentlichen Entscheidungen über Covergestaltung, Tourneeplanung oder Endabmischung der Platte war er nicht beteiligt. „Wenn man einen Menschen achtzehn Jahre lang kennt, ist es an der Zeit, ihm eine Atempause zu gönnen, wenn er diese wünscht. G ist aber weiterhin Mitglied der Bond und wird bald wieder zu mir stoßen“, so Del Naja, für den sich daraus eigentlich eine bequeme Position ergibt – schließlich ist niemand mehr da, der ihn in seiner kreativen Bewegungsfähigkeit einschränken könnte. Beste Voraussetzungen für ungestörtes Arbeiten also. Oder etwa nicht?

Nein, ganz so einfach scheint es dann doch nicht gewesen zu sein. Als Eintänzer macht Del Naja, wie er findet, keine glückliche Figur, weshalb er nach dem Ausstieg von Mushroom auf die Idee kam, mit der Band Lupine Howl (zwei Dritteln der kürzlich aufgelösten Spiritualized) aufzunehmen. Die nachfolgenden Sessions dauerten anderthalb Jahre und brachten über achtzig Musikstücke hervor. Dann aber fand 3D nichts davon veröffentlichungswürdig. „Es ist wirklich wunderbare Musik, und Lupine Howl sind absolut großartig. Doch es war unmöglich, aus den langen psychedelischen Jams, die wir aufs Band brachten, eine kompakte Songeinheit zu schaffen, die auch im Pop-Kontext Sinn macht. Das war vielleicht frustrierend! Wenn man so lange an Material arbeitet, möchte man natürlich, dass sich die Mühen auch auszahlen. „Zumal bei den Aufnahmen auf Barbados und in der englischen Grafschaft Surrey einige Kosten anfielen. Da wunderte es nicht, als über den englischen „New Musical Express“ Spekulationen über die endgültige Auflösung von Massive Attack lanciert wurden. Schließlich entschied sich Del Naja, zurück nach Bristol und gemeinsam mit Neil Davidge, dem Co-Produzenten von „Mezzanine“, ins Studio zu gehen. Dort wollte er das neue Album „aus dem Bauch heraus“ erneut angehen. Im Sommer 2002 zeichnete sich ab, dass diese Methode zu einem fertigen Produkt führen würde.

Wer die musikalische Entwicklung von Massive Attack zurückverfolgt, wird feststellen, dass ihr Sound mit der Zeit immer düsterer geworden ist. Das sagenumwobene Debüt „Blue Lines“ drückte die allgemeine Feierstimmung in der Dance-Music zu Beginn der neunziger Jahre mit viel melancholischem Soul aus – ein Ansatz, der sich für den „Sound Of Bristol“ mit Leuten wie Portishead. Tricky oder Smith & Mighty im Nachhinein als wegbereitend erweisen sollte. Der Zweitling „Protection“ kam auf einer wahren Woge von Dub-Rhythmen daher und wirkte wesentlich introvertierter. Mit „Mezzanine“ schien die Band nicht nur innere Streitigkeiten, sondern auch die Anspannung vor dem nahenden Jahrtausendwechsel zu verarbeiten. Wer dachte, die Stimmung könne sich nach diesem schweren Brocken unmöglich weiter verfinstern, sieht sich getäuscht. Über „1OOth Window“, dem neuen Werk, liegt ein ganz und gar dunkler Schatten. In jedem Song verdichten sich sinistre Soundschwaden. Textlich dagegen sind die klarsten Worte zu vernehmen, die man von dieser Band je gehört hat. Das Schwelgen im mystischweltflüchtenden „Karmakoma“ ist vorbei. Obwohl Del Naja noch immer schwer zu entschlüsselnde Poesie bevorzugt, lassen er und seine wichtigsten Gäste Sinead O’Connor und Horace Andy wesentlich größeres Realitätsbewusstsein als bisher zu. Die Zeile „Take a look around the world, you see such mad things happening, there are few good men, ask yourself if he’s one of them“ aus dem auch als Single erscheinenden „Special Cases“ liefert einen wichtigen Hinweis: Die Welt wird als aus den Fugen geraten dargestellt, sowohl auf privater als auch auf globalpolitischer Ebene.“In unserer Musik war schon immer ein soziales Bewusstsein zu erkennen. Nur nicht auf ‚Mezzanine‘. Diese Platte vermittelte einen kalten und distanzierten Eindruck. Damals hatten die Mitglieder in der Band Angst, sich die Meinung zu sagen, wohl auch wegen der Befürchtung, alles könne eskalieren. Deshalb hatten wir auch Elizabeth Fräser von den Cocteau Twins gebeten, für uns zu singen. Ihre geheimnisvolle Sprache stellte das geeignete Mittel dar, der unmittelbaren Wirklichkeit, die uns umgab, zu entfliehen. Dieses Mal konnten wir uns leisten, eine Sinead O’Connor zu nehmen. Sie ist eine entschlossene Person, die ihre Argumente eindringlich und schlüssig vermitteln kann“, glaubt DelNaya.

Wer keine internen Probleme mehr hat, kann sich ungestört den Krisen von Land und Erde widmen, könnte man denken. Es ist aber Sinead O’Connor, die den Song „A Prayer For England“ singt. Die Irin versucht darin, das Elend der Kinder in britischen Großstädten zu verstehen. Wirklich weit liegt Bristol ja nicht von der grünen Insel entfernt. Dennoch stellt sich die Frage, warum gerade eine „Ausländerin“ wie O’Connor so engagiert über britische Probleme singt und nicht die Briten selbst. „Wir sind in diesem Land viel zu apathisch geworden. Schuld daran sind achtzehn Jahre des Dahinsiechens unter einer rücksichtslosen konservativen Regierung, die das Volk abstumpfen ließ. Es ging so weit,

dass sich niemand traute, in den frühen neunziger Jahren gegen den Golfkrieg zu opponieren. Es erschien einfach zu schlüssig, wenn eine konservative Regierung sich entschied, gegen ein anderes Land in den Krieg zu ziehen. Jetzt haben wir eine Labour-Regierung, und von der erwartet man das nicht. Deshalb beginnen die Briten ihre politische Stimme wieder zu finden.“ Del Naja treibt diesen Prozess aktiv mit voran: Gemeinsam mit Damon Albarn von Blur hat er sich einer Friedensinitiative angeschlossen, die gegen den drohenden Irak-Krieg Stimmung macht zum Beispiel mit einer doppelseitigen Anzeige im „New Musical Express“. Es folgten Friedensmärsche auf Londons Straßen, an denen die beiden Musiker teilnahmen. „Am Anfang war es für uns beide enttäuschend, dass sich nur wenige Leute aus der Musikszene unserer Initiative anschlossen. Nun aber gibt es Schätzungen der Organisationen Compaign For Nuclear Disarmament und Stop The War, nach denen um die 20.000 Unterschriften nur wegen der Anzeige im ‚NME‘ eingegangen sind. Keine schlechte Ausbeute, wenn man bedenkt, dass sich die Menschen in diesem Land eben nicht mit Politik beschäftigen. „Allmählich scheint sich in Popstar-Kreisen diesbezüglich Solidarität herauszubilden. Paul Weiler hat den Song „Bullels For Everyone“ geschrieben, zögert aber mit einer direkten Beteiligung an Anti-Kriegs-Veranstaltungen. Die amerikanische Punkband Green Day sammelt auf ihrer Website ebenfalls Unterschriften gegen die Politik der Bush-Administration. Hat Del Naja vor, sich als offizieller Sprecher oder Anführer einer neuen Friedensbewegung zur Verfügung zu stellen? „Die Leute suchen nach einer gemeinsamen Stimme aus der Gruppe heraus“, glaubt er. „An diesen Märschen teilzunehmen war eine gute Erfahrung, weil Menschen unterschiedlicher Alterklassen und Nationalitäten dabei waren und zu erkennen gaben, dass es in dieser Frage eine richtige und eine falsche Sichtweise gibt. Ich denke aber nicht, dass Anführer oder Friedenskämpfer gefordert sind. In den reichen Industrienationen neigt man da gerne zu Bequemlichkeit. Man pickt sich eine Person heraus, die für alle sprechen soll. Das erinnert an dunkle Zeiten aus der Vergangenheit, als die Kirche Kontrolle über die Meinung der Menschen ausübte und damit Möglichkeiten der Willensbildung wissentlich unterband. Wirbrauchen keinen Anführer, sondern Meinungsvielfalt und eine hohe zahlenmäßige Beteiligung.“

Der Wunsch nach mehr Engagement der Menschen geht mit dem einher, was Del Naja mit dem Album „100th Window“ grundsätzlich suggerieren will. Den Titel hat er aus einem Buch über Internet-Sicherheit. Danach bedeutet das einhundertste Fenster (die Doppelbedeutung bezogen auf das PC-Programm Windows ist beabsichtigt) einen nicht lokalisierbaren Raum, in dem man ungeschützt jedem Zugriff von außen ausgesetzt ist. „Das ist der Albtraum der Menschheit: Die große Unbekannte, die uns angreifbar und verletzbar macht. Im Informationszeitalter wollen wir uns einerseits von der Außenwelt abschotten, auf der anderen Seite sind wir aber gierig nach Information über die Welt. Das widerspricht sich genauso wie Bewunderung für Hocker, die in das System großer Firmen eindringen, und der gleichzeitige Unwille vieler Menschen, ganz normale ‚Hacker‘ in ihr eigenes Leben eindringen zu lassen. Auf diesem Album geht es also um Kontakt, Fürsorge, Kommunikation und die seltsamen Wege, die man dafür zurücklegen muss“

Del Naja geht mit gutem Beispiel voran. Er ist kein Einsiedler. Wer Bristol besucht, kann den 36-Jährigen in der bandeigenen Bar antreffen. Das „Nocturne“ getaufte, höchst stilvoll eingerichtete Etablissement ist offiziell zwar nur für Mitglieder gedacht, doch wer die Türsteher in einem guten Moment erwischt und nicht zu billige Casual Wear trägt, findet auch so Zutritt.

„Mein Vater war nicht gerade begeistert, als ich ihm erklärte, ich hätte mit der Band eine Bar eröffnet. Er war nämlich selbst Zeit seines Lebens Gastwirt im Pub und kennt das Geschäft nur zu gut. Ich habe ihm aber versprochen, niemals an den Zapfhahn zu gehen. Dass wir viel Geld in die Einrichtung investiert haben, aber nicht unbedingt großen Gewinn mit der Bar machen, bestätigt seine Befürchtungen. „Auch die andere Nebenbetätigung des Musikers hat sich in letzter Zeit nicht wie gewünscht entwickelt: Mit dem Label Melankolic wollten Massive Attack Nachwuchskünstlern eine Chance zur Entwicklung experimenteller Ideen geben. Doch die Firma wurde inzwischen aufgelöst, da die aktuelle Krise der Plattenindustrie solide Geschäftskalkulationen erschwert. Die Probleme des Musikgeschäfts hat Del Naja also sehr wohl registriert. Dass er im Angesicht der Ungewissen Zukunft nicht auf die sichere Karte gesetzt und kein leicht verkäufliches Album eingespielt hat, spricht für seine künstlerische Integrität. „Niemand in Massive Attack hatte je auch nur im Ansatz den Ehrgeiz, ein großer Popstar zu werden. Wir hatten noch das Glück, in einer Zeit unter Vertrag genommen worden zu sein, in der man Musikern noch alle Freiheiten und vor allem Zeit bei der Entwicklung ihrer Musik ließ. Bis jetzt können wir uns über den Umgang mit der Plattenfirma nicht beschweren. Die Leute dort haben wohl gemerkt, dass wir ihnen jedes Mal eine durchdachte Arbeit anbieten, wenn sie einmal fertig ist. Einen Schnellschuss wird es nicht geben. Auf dieser Basis konnten wir uns ein gewisses Maß an Anonymität bewahren. Wir gehen auf Tournee, kehren dann aber wieder voller Vorfreude noch Hause zurück, wo wir all unsere Freunde wiedersehen. Da bleibt kein Platz für Ego-Eskapaden.“

Im Studio sollen schon Grundideen für ein weiteres Album Kontur angenommen haben. Ein Track mit Tom Waits ist in Planung. Daneben plant der Bandchef eine erneute Kollaboration mit dem New Yorker Rapper Mos Def, nachdem die im Frühjahr veröffentlichte Single „I Against I“ ein Erfolg war. Sollte das aber wieder alles über den Haufen geworfen werden und es im Extremfall zur Auflösung von Massive Attack kommen (derzeit unwahrscheinlich), gäbe es eine verlockende Ausweichmöglichkeit. Del Naja hatte nämlich im Sommer 1999 begonnen, mit Liam Howlett von Prodigy zusammenzuarbeiten. Erster Release war der Song „In-Flight Data“ für den Hardcore-Pornofilm „The Uranus Experiment“. Als zweiter Track war ursprünglich ein Beitrag zum Soundtrack zum wesentlich massentauglicheren Streifen „The Beach“ mit Leonardo DiCaprio geplant. Doch der Titel „No Souvenirs“ wird sobald nicht in die Läden kommen, da Del Naja und Howlett wegen der undurchsichtigen Abrechungspraxis für exklusiv lizensierte Filmkompositionen misstrauisch geworden sind und den Song deshalb blockieren. „Liam hat mich vor kurzem erst angerufen und vorgeschlagen, den Song auf einem anderen Soundtrack zu veröffentlichen. Allerdings ist dieses Stück nun schon über drei Jahre alt. Wir werden es wohl überarbeiten müssen. Aber das ist kein Problem. Liam ist ein prima Kerl, und sollte Massive Attack wirklich einmal das Zeitliche segnen, könnte ich mir gut vorstellen, längerfristigmit ihm zu arbeiten.“ Aber das ist noch Zukunftsmusik. Zunächst einmal schaut Del Naja aus dem Fenster in die weite Welt hinaus oder in die Seelen seiner Mitmenschen – wenn der Blick nicht durch zu viel Schnee verstellt ist.

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