Mehr als Hochzeiten und Todesfälle


In vielen Kritiker-Jahrescharts unter den Top Ten, mit David Bowie auf der Bühne - Arcade Fire aus Montreal gehörten zu den schönsten kanadischen Überraschungen des Jahres 2005!

Das Gespenst des Todes warf dunkle Schatten über Funeral, das passend betitelte Debütalbum von Arcade Fire. Seit The Soft Bulletin von den Flaming Lips 1999 hat der nordamerikanische Indie-Underground kein Werk, das durch den Verlust geliebter Menschen inspiriert wurde, mehr so enthusiastisch aufgeommen wie die Platte des Quintetts aus Kanada, die jenseits des Atlantik bereits 2004 und im Frühjahr 2005 dann auch in Europa erschien. Ähnlich wie bei dem Flaming Lips-Album geht es auch in Funeral um seelisches Abreagieren. Darum, angesichts von drückendem Kummer nach Gründen zu suchen, warum das Leben dennoch lebenswert ist. Einen solchen Grund kann man durchaus in der Schönheit von Arcade Fires kunstvoll konstruierter und ebenso üppig wie abwechslungsreich orchestrierter Musik finden. Die Geburtsstunde der Band schlug kurz nachdem Gitarrist und Sänger Win Butler in einer Kunstgalerie auf dem Gelände der Concordia University von Quebec erlebt hatte, wie Regine Chassagne, deren Familie während der Diktatur von Francois „Baby Doc“ aus Haiti geflohen war, Lounge-Standards sang. Win und Regine heirateten im Sommer 2003 und um die beiden herum formierte sich mit Keyboarder Richard Parry, Bassist Tim Kingsbury, Drummer Jeremy Gara, Geigerin Sarah Neufeld und Wins jüngerem Bruder Will Butler, einem Multi-instrumentalisten, schließlich Arcade Fire. Drei der Todesfälle, die viele der Songs auf Funeral inspirierten, ereigneten sich im Sommer 2003 und Anfang 2004: Einer betraf Regine Chassagnes Großmutter, ein anderer Richard Parrys Tante, und der dritte, und für Funeral wohl bedeutsamste, den Großvater der Butler-Brüder, Alvino Rey, einen in den dreißiger Jahren renommierten Swing-Gitarristen. Er war in den Sixties die treibende Kraft hinter der „King Family Show“ gewesen, einer Art Musical- und Variete-Sendung voller patriotischer Hymnen und Spirituals, und hatte bis in die 80er Jahre mit Swing-, Surf- und Exotica-Combos getourt. Alvino Rey gilt als Pionier eines Pedal Steel-Sounds. der wiederum später zur Grundlage für den sogenannten „Space Age Pop“ in den Sixties wurde, einem noch heute gern für Lounge-Compilations ausgebeuteten Exotica-Subgenre. Der ME traf sich mit seinem hochgewachsenen Enkel Win Butler, einem Sänger, Gitarristen, Pianisten und einstigen Theologie-Studenten, nach einem Konzert von Arcade Fire in Chicago.

Ihr habt in den letzten 24 Monaten einen ungeheuren Aufstieg erlebt, werdet jetzt international von der Musikpresse, von Fans und selbst von berühmten Kollegen beachtet. Was muß man ober über die Frühgeschichte der Band wissen?

WIN BUTLER: Ich stieß schon ziemlich bald, nachdem ich von Texas nach Montreal gezogen war, auf Regine. Anfangs hat uns vor allem die musikalische Neugier zusammengebracht, der Spaß daran, Songs auszutüfteln und dabei Dinge zustande zu bringen, die wir auch selbst aufregend fanden. Von da aus hat sich dann alles Weitere ergeben. Alleine hatte ich aber auch schon in der Junior High School versucht, Songs zu schreiben.

Wieviel Einfluß hatte dein Großvater auf deine musikalische Entwicklung?

Der war wohl mehr indirekt, weil wir nicht in der selben Stadt gelebt haben. Allerdings hat er mir, als ich noch in der Mittelstufe war, meine erste elektrische Gitarre geschenkt. Aber durch das Beispiel meines Großvaters galt es in meiner Familie als relativ normaler, akzeptierter Lebensentwurf, die Musikerlaufbahn einzuschlagen. Meine Mutter hat mir erzählt, daß ihre Eltern meistens zuhause waren, wenn sie als Kind von der Schule heimkam – und die waren beide Musiker. Also nicht dieses vagabundenhafte, ungeregelte Leben, das man Musikerfamilien immer nachsagt, sondern ganz normale, geregelte Verhältnisse. Von daher kam es in meiner Familie niemandem verrückt oder gar verwegen vor, daß ich schließlich auch Musiker werden wollte.

Gibt es irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen der Musik von Alvino Rey und deinem Sound?

Eigentlich nicht, das war halt doch eine komplett andere Zeit. Er hat während der Depressionszeit als Banjo-Spieler angefangen und dann später mit einer Art Hawaii-Gitarre eine Bigband geführt. Er war so eine Art exotischer Duke Ellington.

Und jetzt führst du Jahrzehnte später auch so eine Art Bigband…

Okay, aber die ist definitiv viel kleiner als seine!

Rechner ihr euch eigentlich selbst dem sogenannten „Ork-Pop“ – oder auch „Orchestral Pop“-Genre zu?

Ich weiß nicht so recht. Für mich ist das eher so eine Art Beatles-Ding, was wir machen. Von denen habe ich schon früh gelernt, daß die richtige Instrumentierung mindestens so wichtig wie irgendwas sonst ist. Viel Phantasie und Aufmerksamkeit für das, was ein Song an Instrumentierung wirklich braucht. Deswegen werden wir immer sehr viele unterschiedliche Instrumente einsetzen, je nachdem, was der jeweilige Song eben so erfordert.

Horst du beim Komponieren schon genau, wie der Song nachher klingen soll? Hast du dabei dann auch schon bestimmte Klangfarben und Instrumente im Kopf?

Ja, sehr häufig. Regine und ich schreiben ja viel gemeinsam, da kommt dann schon einiges zusammen. Und die Band hat auch viel Einfluß auf das Endprodukt, auf die Instrumentierung und das Arrangement. Aber ich behalte normalerweise die Regie in der Hand, und die anderen fügen sich dann ins Gesamtbild ein.

Woran merkst du es, wenn du einen wirklich guten Song geschrieben hast?

Nun, normalerweise schreibe ich mir kaum welche von meinen Einfällen, gerade was Textzeilen oder Melodielinien betrifft, auf. Darum ist es dann immer ein gutes und verläßliches Zeichen, wenn ich beispielsweise eine Hookline, die mir beim Singen unter der Dusche eingefallen ist, nach zwei Wochen immer noch im Kopf habe. Das ist meine Methode, mich selbst zu filtern. Denn du kannst dich ja nicht hinsetzen und dir vornehmen, „ich schreibe jetzt aberwas ganz besonders Gutes“-so funktioniert das nicht. Im Grunde mußt du das Arbeiten an der Musik als deinen schönsten Zeitvertreib auffassen und dann hoffen, daß das, was dabei herauskommt, vielleicht auch noch anderen gefallt.

Verstehst du Funeral als Konzeptalbum?

Nein, es war jedenfalls nicht so, daß wir von Anfang an ein bestimmtes übergeordnetes Konzept gehabt hätten. Ich glaube, die meisten Songschreiber haben eben einfach eine bestimmte lyrische Welt, in der sie sich bewegen, so bestimmte Bilder und Worte, zu denen sie ganz unabsichtlich immer wieder zurückkommen. Und vot allem tendieren Songs, die in einem bestimmten Zeitabschnitt geschrieben worden sind, dazu, sich alle um das selbe Grundthema zu drehen – nur vielleicht aus verschiedenen Blickwinkeln. So ist es zumindest bei den Songs auf Funeral.

Hat dich die große Resonanz auf Funeral überrascht?

Oh ja! Mir ist das, was die äußere Welt so zu bestimmten Dinge denkt, meistens ziemlich schleierhaft, weshalb ich es eigentlich auch aufgegeben habe, darüber nachzugrübeln. Aber unser gemeinsames Ziel ist es, möglichst viel auftreten und möglichst vielen Leuten unsere Musik vorstellen zu können. Daß der Erfolg von Funeral in der Hinsicht jetzt so viel bewegt, habe ich also nicht vorausgesehen, aber es ist wirklich toll.

Arcade Fire gelten bereits als eindrucksvolle Liveband. War es am Anfang nicht schwierig, diese so barocken Songs auf der Bühne richtig umzusetzen?

Nun ja, die meisten Livebands, die ich mag, versuchen ja eigentlich gar nicht, ihre Songs auf der Bühne wirklich plattengetreu umzusetzen. Andererseits: Den Song „Wake Up“ haben wir sogar tatsächlich ganz bewußt für die Liveshows geschrieben …

Habt ihr schon Pläne, in welche Richtung es mit eurem nächsten Album gehen soll?

Wir haben uns in Montreal Räumlichkeiten organisiert, wo wir mit ein paar Ideen herumspielen wollen. Vor allem möchte ich aber, daß wir unsere musikalischen Grundauffassungen dabei klar im Auge behalten. Und wenn es uns zusätzlich aber gelingt, ein paar gute Sounds sozusagen aus der Luft aufzuschnappen und zu etwas zusammenzusetzen, das dann auch noch Sinn macht, tja, dann …

arcadefire.com