Mehr Untier Als Tier?


Ihm eilt ein Image als Wahnsinnsknabe voraus, und daran ist JAY REATARD wohl nicht ganz unschuldig. Die Wahrheit sieht freilich halb so wild aus.

Es heißt, er sei mehr Tier als Mensch. Schlimmer: mehr Untier als Tier. Es heißt, seine Eltern hätten ihm als Kind eine Art Zaumzeug um den Kopf geschnallt – zum Schutz der Klassenkameraden. Er heißt Jay Lindsey. Doch auf der Bühne und auf seinen zahllosen Platten (bisher hat der Mann aus Memphis, Tennessee ca. 1000 Songs geschrieben und einen Großteil davon auf Dutzenden von EPs, 7″-Singles, Compilations etcetera veröffentlicht) heißt er 10 Musikexpress Jay Reatard. In politisch überkorrekten Zeiten, in denen die Tierrechtsorganisation PETA die Pet Shop Boys auffordert, ihren Namen zu ändern, nennt sich dieser Typ Hans Spasti. “ Nein, bei mir haben noch keine Menschenrechtler angerufen“, lacht der seinem Klischee völlig widersprechend aufgeräumt und höflich wirkende Reatard. „Ich mache mich weder mit meinem Namen noch in meiner Musik über Behinderte lustig ich mache mich über MICH lustig. Außerdem verkaufe ich weltweit vielleicht 20.000 Platten.

Da ist der Einfluss von einem Comedian wie Seth Rogen, der in seinen Filmen pausenlos das Wort ,retard‘ benutzt, doch immens größer“, sagt er. Außerdem seien „Namen ja nur Namen. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, ab dem es kompliziert wird, diesen Namen zu tragen, kann ich ja glücklicherweise auf meinen bürgerlichen zurückgreifen.“ Das lässt wohl noch auf sich warten. Denn bislang hat der Künstlername nur einmal größeren Anstoß erregt: „Es gibt da diesen Posterkünstler“, erinnert sich Reatard merkbar amüsiert, „dessen Band mit uns und der kanadischen Punkrockband AIDS Wolf für einen Abend gebucht war. Seine Band zog sich dann davon zurück, der Typ strich den Namen seiner Band auf den von ihm entworfenen Ankündigungspostern mit einem großen ,Abgesagt!‘-Aufdruck durch und stellte das Poster in einer schicken Galerie aus. Ein künstlerisches Statement gegen Bands mit unsensiblen Namen. Die New York Times hat sogar eine Story darüber gebracht!“

Zeiten wie diese liegen lange zurück. Mit der Punkszene hat der 29-Jährige heute nicht mehr viel zu tun. Zwar basieren alle seine bisherigen Werke, das aktuelle Album WATCH ME FALL ist keine Ausnahme, auf einem DIY-Prinzip und würden technikfixierte Gitarrenlehrer auf die Barrikaden schicken. Doch längst haben melodieverliebte Refrains Reatards Musik in etwas sehr Pop-Nahes verwandelt. Die in seinen frühen Jahren (Reatard hat entgegen seiner landläufigen Wahrnehmung als Newcomer seine erste EP GETREM STU’ID bereits 1998 veröffentlicht) charakteristische Grobschlächtigkeit tritt heute primär nur noch als Dekoration in Erscheinung. Die Abkehr vom wüsten Punk war dabei nicht nur eine geschmackliche Entscheidung: „Viele meiner Idole aus dem Punk, wie etwa David Thomas von Pere Uhu, stellten sich als Arschlöcher heraus, als ich sie kennenlernte. Mit Punks habe ich viele schlechte Erfahrungengemacht. Leute aus dem Indie-Bereich wie] Mascis von Dinosaurjr., die Jungs von Sebadoh und Bradford Cox von Deerhunter waren da ganz anders. Mit denen bin ich heute fast befreundet.“

Sein Punk-Lifestyle hat sich ohnehin erübrigt: „Ich habe mit 15 die Schule geschmissen, bis heute keine Ahnung von Rechtschreibung, bin mit 16 von zu Hause ausgezogen, konnte mich mit all meinen Bands nie aus dem Garagenrock-Ghetto befreien – und jetzt gehört mir ein ganzes Haus.“ In dieses kehrt Reatard auch während einer mehrwöchigen Europatournee alle paar Tage zurück, sorgt für sich, seine Freundin und seinen Hund, „um nicht verrückt zu werden“. Ein vernünftiger Mann. Die Geschichte mit dem Kopfzaumzeug stimmt übrigens auch nicht mal zur Hälfte. Sie geht auf einen Verständnisfehler zurück. Reatard hatte sich in einem frühen Interview als „helmet boy“ bezeichnet. Laut Slang-Wörterbuch ist das jemand ,“der sich wie ein Behinderter benimmt“ oder „Dummes tut“. Weder musste Reatard jemals eine Kopfspange tragen, noch mussten seine Mitschüler Angst vor ihm haben. Nach einem Gespräch mit ihm bleibt daran kein Zweifel.

www.myspace.com/jayreatard Anmerkung: Die für den 3. Juli vorgesehene Veröffentlichung von WATCH ME FALL wurde kurz nach Redaktionsschluss auf den 14,8. verschoben