POPKOLUMNE, FOLGE 255

Wer kuschelt besser? Metal, Punk, Rock und Rap im Schmuse-Test


Linus Volkmann will das Grauen 2023 so nicht stehen lassen und schenkt uns noch mal etwas Gefühl.

Ein global unerfreuliches Jahr geht mit 2023 zu Ende. Linus Volkmann will das Grauen so nicht stehen lassen und schenkt uns noch mal etwas Gefühl: Mit einem zeitlosen wie heiteren Blick auf Kuschelrock, Kuschelmetal, Kuschelrap und Kuschelpunk.

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Kennt ihr kuscheln? Das ist diese interessante Tätigkeit, bei der man ziellos seufzt, schnurrt, brummt und höchstens mal heimlich zum Höhepunkt kommt. Kuscheln ist vielseitig einsetzbar und scheint in einem Jahr, das sich vor allem über Gewalt und globale Untergangsszenarien definiert hat, ein kostbareres Gut denn je.

Doch kuscheln ist nicht gleich kuscheln. Man kennt es ja, da möchte man mit einer anderen Person zärtlich sein und bohrt ihr versehentlich in der Nase oder leckt an ihren Vorderzähnen oder tätschelt ihre Uhr. Richtig kuscheln will gelernt sein. Sonst kann man sich gleich flach auf den Boden legen, den Staubsaugroboter anstellen und das Beste hoffen.

Hilfe im Kuschel-Genre verspricht seit eh und je … natürlich die Musikindustrie. Die hat nämlich einen ziemlichen Narren an der Kuschelei gefressen, wie wir zirkusnahen Popjournos gern sagen.

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Die Rechnung bei den Plattenfirmen ist dabei sehr einfach: Man geht davon aus, dass viele Hörer:innen sich nach Intimität sehnen und daher leichte Beute für Random-Kuschel-Sampler darstellen. Denn wer schmusen (Synonym für kuscheln, um Wortwiederholung zu vermeiden) möchte, kauft sich gern erstmal eine Compilation zum Thema. Eine andere Person wird sich dann – so hofft man zumindest – irgendwie schon einstellen. Wenn also mal wieder die Ratlosigkeit die Think-Tanks der Plattenindustrie korrodiert, wird einfach alles, was nur entfernt nach Ballade klingt, auf einen Sampler gepackt, dazu zum Beispiel das Bild von einem rosigen Baby mit Flügeln und einer Windel (Gott Amor) aufs Cover packen … der Rest geht von selbst.

Die CD-Ständer und die Flohmarkt-Plattenkisten in aller Welt sind voll mit diesen Dingern. Doch auch wenn bestimmt der ein oder die andere dazu schon mal die Münze der Liebe getauscht hat (Musikexpress-Lingo für ficken), handelt es sich hier meist um zusammengewürfeltes Resterampen-Bingo.

Überhaupt: Plattenkisten, CD-Ständer? Von wo sendet dieser Text? Aus dem Jahr 1999, oder was? Heute gibt es Playlisten zum Kuscheln, die sind natürlich auch furchtbarer Kitsch mit Oldie-Radio-Swag, aber machen sich – wegen digital – nicht ganz so zum Affen wie in echt produzierte Schmuse-Sampler.

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Vier davon schicke ich hier nun mal in einen Käfigkampf der zarten Berührungen. Dimmt das Licht, macht die Duftkerzen an und legt Parfum auf, hier kommt:

The great battle of the Kuschel-Compilations!

Moment, kurzer Einschub noch! Das hat zwar nur bedingt mit Feelings zu tun, aber ich habe auf diesen Veröffentlichungen auch mal die Geschlechterverhältnisse gezählt. Ihr werdet staunen … Kuscheln scheint ganz offensichtlich Männersache. Wer heute immer noch denkt, der arme Mann würde von der Woke-Kultur bald selbst marginalisiert werden, sollte hier besonders gut hinschauen. Diese homegrown Statistik jedenfalls ist ein Mahnmal dafür, wie absurd die Musikbühnen an den Faktor Penis gebunden waren (und bis heute sind).

KUSCHELROCK

DAS ALBUM Patient Alpha des Fummelns in der Diddlmaus-Bettwäsche.
DAS COVER Bin wie die meisten Kulturschaffenden ziemlich angekotzt davon, dass aktuell bei vielen nicht ganz so einmaligen künstlerischen Projekten immer gesagt werden muss, dass könne die KI heute schon mindestens genauso gut. Stimmt nämlich nicht – hier allerdings würde ich sagen, es ist okay, wenn man die nächsten Kuschelrock-Cover halt von einem angegeilten Roboter machen ließe. De facto würden diese zufälligen Romantik-Gebrauchsbilder sogar davon profitieren, wenn eine der Personen 13 Finger hätte. Wäre wenigstens mal irgendwas los bei diesen Motiven.
DIE BANDS Phil Collins, Foreigner, Chris de Burgh, u.a.
DIE QUOTE 49/3 (17 Acts setzen sich zusammen aus 49 Männer und 3 Frauen)
DER SONG, BEI SICH DIE MEISTEN GEFÜHLE REGEN „Love Hurts“ Nazareth (Wut aufs Formatradio)
DAS FAZIT Der Monolith unter den vertonten Unterwäschestürmern. Studienräte-Erotik beim Überkochen (also auf 30 Grad) – wer beim Abspielen dieser Platte zu Eisprung, Erektion, Sekretbildung neigt, hat es wahrlich geschafft in der Bundesrepublik.
DER KUSCHELFAKTOR ******
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METAL BALLADS

DAS ALBUM Wer braucht überhaupt Metal-Balladen? Können die langhaarigen Musiker nicht einfach schnell Gitarren spielen, Satan huldigen und abrocken, wie Gott es für dieses Genre vorgesehen hatte? Ich verlange doch auch nicht von dem Schlagzeuger der Muppetband, dass er den Rhythmus zu Enya vorgibt. Die dennoch unvermeidlichen Balladen auf Metalplatten der Achtziger waren daher meistens eher so gähn statt geil. Imagine all diese Ausfälle auf ein Album gepackt. Grundgüter? Ja, genau!
DAS COVER Absolut keine Ahnung, warum alle immer um die „Mona Lisa“ mit ihrem öden Strandpromenade-Portraitmalerei-Style rumstehen. Das hier ist doch objektiv viel schöner. Ein expressives Airbrush-Gemälde, das im Hochgebirge spielt … Wer denkt da nicht an Deichkind und die Zeilen „Ein Drache und ein Krieger kämpfen auf einem Berg / Airbrushgemälde – leider geil!“ Aber seriously, wie sind die beiden Liebenden bloß da hoch gekommen? Sie trägt ja nicht mal Schuhe – und das, wo sich in den Bergen das Wetter doch so schnell wandeln kann. Doch was zählt, sind die Emotions, sein Tattoo und ihre Lederhose. Wer beim Anblick dieses Lustballetts in schwindelnden Höhe nicht in Stimmung kommt, sollte sich die Nippel besser mal von einer Autobatterie kurzschließen lassen (natürlich nur im Konsens und mit kinky Hintergrund, versteht sich).
DIE BANDS Scorpions, Gary Moore, Quiet Riot, u.a.
DIE QUOTE 55/1 (Die Acts sind hinten drauf abgebildet, das hat diese Zählung sehr leicht gemacht im Gegensatz zu den anderen. 55 Dudes und die Sängerin der Band Zed Yago)
DER SONG, BEI DEM SICH DIE MEISTEN GEFÜHLE REGEN „You’re All I Need“ von Mötley Crüe (das Gefühl dabei: Ekel vor dieser als Ballade getarnten Hymne über häusliche Gewalt)
DAS FAZIT Bis auf einige Ausfälle die schlüssigste Bums-Musik hier. Zumindest wirkt die Sammlung der Acts nicht so wahnsinnig zufällig wie bei den anderen drei Compilations. Das hier ist der Soundtrack zu dem weltweiten Dorfmärchen, dass der grimmige Metal-Typ von gegenüber in Wahrheit voll der gutmütige Bär ist, mit dem man sich eine große Pizza und einen gemeinsamen Bausparvertrag teilen kann.
DER KUSCHELFAKTOR *****
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SCHMUSE RAP

DAS ALBUM Glänzt durch die kürzeste Spielzeit der vorgestellten Platten. Pro-Tipp daher: Bereits erregt die Nadel fallen lassen, sonst wird es zeitlich eng mit dem Akt.
DAS COVER „Haben wir nicht letztens noch irgendein Schwarz-Weiß-Hetero-Motiv aus dem Mülleimer der Kuschelrock-Produktion bei den Kollegen gefischt? Dieses Foto, das selbst denen zu blurry und zu blöd war! Bügel das doch kurz und dann ab in die Litho!“
DIE ACTS L.L. Cool J, Slick Rick, P.M. Sampson, u.a.
DIE QUOTE 19/2 (elf Acts und da lese ich 19 Typen und zwei Frauen raus)
DER SONG, BEI DEM SICH DIE MEISTEN GEFÜHLE REGEN Culture Beat „Tell Me That You Wait“ (und zwar Verwirrung, warum das überhaupt unter Rap fällt)
DAS FAZIT Zwei der Rapper sind hier gleich doppelt vertreten. Aber auch ansonsten hört man, dass diese Compilation nicht aus dem Vollen schöpft, sondern einfach das Kuschelrock-Prinzip auf eine andere Käuferschaft ummünzen will. Keyword dabei: Münzen!
DER KUSCHELFAKTOR ****
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KALTE STERNE (BRD-Punkrock- & Undergroundballaden)

DAS ALBUM Weird System – das war ein Hamburger Kultpunk-Label der 80er-Jahre, das sich für Sampler wie „Paranoia in der Straßenbahn“ verantwortlich zeichnete. In den Nullerjahren versuchten die Betreiber aus ihrem alten, crediblen Fame eine Geschäftsidee zu machen. Das misslang und findet seinen Peak in dieser waidwunden Männchen-Lamento-Doppel-CD des Jahres 2006 … Der unverstandene Punkmann, auf dem die Last der Welt ruht, und wie ihn das heiße Dreadlockgirl trösten soll. Parole: Jammern statt kuscheln.
DAS COVER Ich habe schon unzählige Sätze zu diesem Jahrhundert-Cover geschrieben. Nichts aber wird diesem Bild gerecht. Ich beschwöre euch daher hier einfach: Zieht es groß und guckt es euch in Ruhe an. Synapsenparty garantiert!
DIE BANDS Slime (!), Tomte (!!), Turbostaat (!!!), Tocotronic (!!!!), u.a. (!!!!!)
DIE QUOTE 104/1 (28 Acts setzen sich zusammen aus 104 Männern und einer Frau – Saskia Lavaux von Schrottgrenze. Heute wäre der FLINTA-Anteil sogar doppelt so hoch. Denn bei Slime spielt seit der letzten Reunion Nici Bass – doch der hier vertretene Song stammt aus der Slime-Herren-Ära)
DER SONG, BEI DEM SICH DIE MEISTEN GEFÜHLE REGEN „Nur zu Besuch“ Die Toten Hosen (Entsetzen)
DAS FAZIT Sicher nicht nur in dieser Aufzählung die mit Abstand skurrilste Schmuse-Scheibe. Der immense Fremdschämfaktor in Absprache mit dem Look des Produkts machen es zu einem unverzichtbaren Trash-Item der hiesigen Punkhistorie. Musikalisch besonders interessant, dass hier Romantik mit prätentiöser Schwermut verwechselt wird. Nicht jedes langsame Stück ist eben ein Love-Song.
DER KUSCHELFAKTOR ***

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