Meine schöne, neue Welt


Ein Garten in Paris. Ein Zimmer in Brighton. Dort wartete Nick Cave nicht auf Inspiration. Deren Existenz verneint er weiterhin. Doch er tankte Ruhe und Gelassenheit - gleich für zwei Alben.

Jahre lang stilisierte sich Nick Cave auf seinen Alben in der Nacktheit seiner mentalen Leiden. In seinen Shows schien er die Sünden seines Publikums auf sich nehmen zu wollen. Auf NO more shall we part (2001) entdeckte er dann jedoch den göttlichen Trieb zum Überleben, kurz daraufzog er mit dem anarchistischen Rundumschlag Nocturama (2003) das Resümee aus den ersten zwei Jahrzehnten. Und jetzt gleich zwei Alben: ABATTOIR blues und THE lyre of Orpheus. Man kann sie als Katamaran nehmen, doch genauso gut stehen beide CDs für sich, denn die eine ist laut, die andere eher leise. Blixa Bargeld hat die Band verlassen, für ihn kam von Gallon Drunk James Johnston. Doch der entscheidende Wandel geht von Cave selbst aus. Er entledigt sich seines Psychoballasts und kleidet das ihm eigene Pathos in ein Gewand aus Optimismus, Vitalität und spiritueller Diesseitigkeit. „There She Goes My Beautiful World“ ist vielleicht der beste Song, den Cave jemals geschrieben hat. Eine Geschichte, die in Paris begann …

Wieso in Paris?

Paris ist eine wunderschöne Stadt, es war Frühling, und mein Hotelzimmer lag gegenüber den Tuillerien. Ich wachte stets morgens gegen fünf Uhr auf. Darüber bin ich nicht froh, aber es ist nun mal so. Bevor die Anderen erwachten, konnte ich morgens zwei Stunden im Garten verbringen. Das gab mir vor den langen Sessions Gelassenheit. Normalerweise hat man ja nicht den Luxus eines Aufhahmeorts, an dem es ruhig und schön ist. Wenn man in London aufnimmt, steckt man eben in diesem beschissenen London fest. Diesmal hatte ich alle Zeit, darüber nachzudenken, was ich am Tag zuvor gemacht hatte und am nächsten tun würde. Auch das Studio war wunderbar. Serge Gainsbourg hatte dort aufgenommen, und sie hatten noch all das alte Equipment.

Paris ist die Stadt der Kathedralen. Auch deine neuen Platten wölben Räume aus Licht und Dunkel sich über dem Hörer.

Die beiden Alben basieren viel mehr auf der Zusammenarbeit mit den Musikern der Band als früher. Sechs Monate vor den eigentlichen Aufnahmen fand die Session mit Geiger Warren Ellis, Drummer Jim Sclavunos und Bassist Martin Casey statt. Fünf Tage allein in einem winzigen Studio. Ich kam mit völlig leeren Taschen. Wir fühlten uns frei, einfach alles zu tun, jammten und meißelten Stücke zwischen Progrock, Blues und Heavy Metal. Mit zehn Stunden brauchbarem Material zog ich mich in mein Büro in Brighton zurück, machte Songs daraus und schrieb neue Songs, die davon inspiriert waren. Der Songwriting-Prozess war völlig anders als in der Vergangenheit, denn die Band war von Anfang an dabei.

Die Bad Seeds klingen heute wie eine Mischung aus Jazz-Band und barockem Kammerorchester.

Schon Nocturama trug uns ein ganzes Stück in Richtung improvisierter Jazz. Die neuen Platten sind die Frucht der letzten, aber die Songs sind viel besser. Die rhythmischen Strukturen erlauben uns viel mehr spielerische Freiheit, solange die Energie stimmt. Wir bewegen uns auf eine sehr freie Musik zu. Vor zehn Jahren waren unsere Songs schön und einzigartig, aber die einzelnen Parts waren genau strukturiert und erlaubten kaum Freiheiten. Wir spielen sicher keinen Jazz, aber es fühlt sich wie Jazz an. Vor allem in den langsamen Stücken, die rhythmisch vertrackter sind. Es ist auch kein Gospel.

Aber in vielen Songs arbeitet ihr mit einem Gospel-Chor. Wie konntest du die Spontaneität der Band mit der Statik eines Chors in Einklang bringen?

Es war kein großer Chor, sondern nur sechs Sänger. Diese Entscheidung hatten wir lange vor den Aufnahmen getroffen, so dass wir sie schon zu den Proben in die Songs einbeziehen konnten. Die hatten keine Ahnung, welche Art von Musik wir machten, und steckten voller Fragen. Wir machten ihnen ganz wenige Vorgaben, aber sie lernten ganz schnell. Als es endlich an die Aufnahmen ging, hörten sie die Songs ganz anders als bei den Proben. Sie sagten okay und sangen. Das gibt den Songs eine gewisse Dringlichkeit. In einem Lied arbeiteten wir nach dem Ruf-und-Antwort-Prinzip. Teilweise fanden sie es schwierig, zu antworten, lachten und machten Krach. Wir ließen diese Geräusche in der Musik, was sie viel lebendiger machte. Host du dich viel mit Chormusik beschäftigt, um festzustellen, was du willst? Ich habe in der Vergangenheit viel Gospel-Musik gehört. Aber für dieses Album war Gospel weniger wichtig als AI Green und James Brown. Vor allem wie sie ihre Background-Sänger einsetzten, beeindruckte uns. Speziell bei AI Green klingen sie oft sehr weit weg, was die Musik wunderschön macht.

Die Mitglieder der Bad Seeds haben so viele verschiedene geografische, kulturelle und musikalische Backgrounds. Wie kommen all diese Elemente in der Band zusammen?

Organisatorisch ist die Band ein Albtraum. Zum Glück nimmt mir jemand diesen Part ab. Aber es gibt kein Mitglied der Bad Seeds, dem ich nicht absolut vertrauen würde. Ihre Haltung stimmt mit meiner überein. Keiner von ihnen tut irgendwas, das ich nicht mögen wüTde. Wenn ich will, dass Warren etwas mit einem Song macht, schreibe ich ihm nichts vor, sondern kann einfach davon ausgehen, dass es etwas Großartiges sein wird.

Warum ist Blixa Bargeld gegangen, und wie hat der Zugang von James Johnston die Band verändert?

Blixas Gründe für seinen Abschied kennt nur er allein. Für mich ist es ein großer Unterschied, denn er war einfach immer da. Aber aus dieser Situation ergeben sich viele neue Möglichkeiten. Blixas Lücke wird von Warren Ellis ausgefüllt, der jetzt Mandoline und elektrische irische Bouzouki spielt, um unglaublich schwere und perkussive Sounds zu erzeugen. Auch Mick Harveys Gitarre klingt nicht mehr wie eine Rock’n’Roll-Gitarre, sondern eher wie perkussives Stakkato. James Johnston spielt regulär Orgel. Ich hatte stets Orgel in Songs, aber sie wurde immer im Nachhinein hinzugefügt. Jetzt ist sie ein Hauptinstrument der Band. Und wenn er Gitarre spielt, arbeitet er wie ein Vieh, nicht wie Blixa, der immer diese gewisse ironische Distanz auf der Gitarre rüberbrachte.

Der Song „There She Goes My Beautiful World“ klingt wie das Credo der beiden neuen Platten. Du sagtest mal, du glaubst nicht an Inspiration, sondern ausschließlich an Arbeit. Dieser Song klingt jedoch wie ein Tribut an die Inspiration.

Es ist eigentlich ein verzweifelter Song – der erste, den ich schrieb für die Alben. Meine Einstellung hat sich nicht verändert. Ich habe ein Datum im Kalender: Montag beginne ich mit der Arbeit; und zu dem vorgegebenen Termin muss das Album fertig sein. Das hat nichts mit Inspiration zu tun. Die ersten drei oder vier Wochen verbringe ich im Zustand totaler Agonie. Ich fühle mich völlig erschöpft, bevor ich überhaupt anfange. In besagtem Song sage ich: Bitte gib mir wenigstens irgendwas! Ich beginne mit ein paar Blumennamen, die ich einem Buch in meinem Büro entnommen habe. Bedeutungslose, aber schöne Wörter. So baute sich der Song langsam auf und gab am Ende ein Statement von Schönheit ab. Es ist eine Metapher dafür, wie langsam die Songs zu mir kommen.