Millennium Special: Die 90er


Grunge und Garbage Rap und Remix, Britpop und Big Beat - die 90er boten für jeden etwas. Und in Kurt Cobain hatte das Jahrzehnt seinen tragischen Helden.

ALS WÜRDE MUNCHS GEMÄLDE „DER SCHREI“ LEBENDIG: Die Augen glühen wie das Fegefeuer, der Mund ist weit aufgerissen, das Gesicht von Schmerz verzerrt, derweil um diese Gestalt herum ein Inferno Dante’schen Ausmaßes tobt: schrill, schockierend, alles verschlingend. Butch Vig, altgedienter Produzent und Musiker, erinnert sich dieses Augenblicks am 29. September 1991 noch heute nicht ohne Schaudern: „Kurt sah in dem Video aus, als käme er geradewegs aus der Hölle, als würde er jeden Moment explodieren.“ Fünf Tage vorher ist „Nevermind“ erschienen, das zweite Album einer jungen Gruppe aus Seattle, Nirvana mit Namen, produziert von eben jenem Butch Vig. Gerade mal 50.000 Stück werden in die Läden gekarrt. Nun hat das Video von „Smells Like Teen Spirit“ auf MTV Premiere: Die Bilder von Schmerzensmann Kurt Cobain, der mit all der Arroganz seiner 24 Jahre „here we are, now entertain us“ herausschreit, lassen keinen kalt. Wer das gesehen hat und noch einen Funken liebe für den Rock’n’Roll hegt, flippt völlig aus, rennt in den nächsten Laden, kauft sich die Platte, spielt sie Freunden vor, die völlig ausflippen, in den nächsten Laden rennen … Es ist ein großer Moment: wie in den Fünfzigern, als Elvis „Heartbreak Hotel“ sang; wie in den Sechzigern, als die Beatles „Yeah Yeah Yeah“ grölten und die Stones „I can’t get no satisfaction“; wie in den Siebzigern, als Johnny Rotten „Anarchy In The UK“ bölkte; wie in den Achtzigern, ais Bono „in the name of love“ die weiße Flagge schwenkte. Wie jene trifft Kurt Cobain die Kids ins Herz und das zahnlose Pop-Entertainment ins Mark. Mit einem Knaller, der nicht nur „Smells Like Teen Spirit“ heißt, sondern auch so klingt. Am 11. Januar 1992 ist es so weit: „Nevermind“ verdrängt Michael Jacksons „Dangerous“ von der Spitze der Charts.

Weit mehr als zehnmillionenma! hat sich dieser Geniestreich seither verkauft, der den Grunge, jenen hart rockenden, nicht allzu viel Spaß, dafür umso mehr Intensität versprühenden Sound aus Seattle, weltweit etabliert. Dabei ernten Nirvana, Pearl Jam oder Soundgarden mit ihren von Punk und Metal-Heroen wie Black Sabbath oder Led Zeppelin gleichermaßen beeinflussten Klängen im Grunde nur, was Bands wie die Pixies, Hüsker Du oder Mudhoney gesät haben. Im Gegensatz zu ihnen sind Kurt Cobain oder Eddie Vedder jedoch zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es ist die Zeit der Flanellhemden, der schlaffen Schlurfigkeit der Slacker, der von Schriftsteller Douglas Copeland ausgerufenen „Generation X“. Den Slogan liefert ein gewisser Beck Hansen: „I’m a loser, baby, so why don’t you kill me.“ Dass dieser Song vom Künstler selbst eigentlich als Scherz gemeint war Wen kümmert’s? I

Kurt Cobain, die Gallionsligur des Alternative Rock, taumelt unterdessen von einer Krise in die nächste. Bei Kontakten mit der Außenwelt kauert er oft genug wortlos vor sich hin starrend in der Ecke, die Arme um die Knie geschlungen, von Magenschmerzen gepeinigt. Drogeninduzierte Zusammenbrüche häufen sich, da vermögen selbst die Heirat mit Hole-Sängerin Courtney Love und die Geburt von Töchterchen Frances Bean nichts zu ändern: Cobain ist am Ende. Als Arbeitstitel für das „Nevermind“-Folgewerk „In Utero“ wählt er „I Hate Myself And I Want To Die“. Wenig später, am 5. April 1994, jagt ersieh eine Ladung Schrot in den Kopf. Sein Tod löst die wüstesten Spekulationen bis hin zu Mordtheorien aus, die allenfalls in denen ihresgleichen finden, die sich um das Ableben von Jim Morrison ranken. Audi im Grad der kultischen Verehaing, die ihnen entgegenschlägt, gleichen sich die beiden. Doch es gibt einen gewaltigen Unterschied: Der Sänger der Doors war in der Tat ein Sprecher seiner Generation, der Frontmann von Nirvana nur der seiner Fans.

DENN IN DEN NEUNZIGERN IST DIE JUGENDKULTUR endgültig in Stämme zerfallen, deren Mitglieder sich in ihren musikalischen Vorlieben, in ihrer Kleidung, in ihren Ritualen, ja sogar in ihren Lieblingsdrogen derart unterscheiden, dass sie genausogut von verschiedenen Planeten kommen könnten. Nur ein paar hundert Meilen südlich von Seattle beispielsweise, wo das Wetter freundlicher und der Fun-Faktor höher ist, werfen sie Punk, Funk, Metal und Pop in einen Topf, rühren kräftig um, und fertig ist der Sound für Surfer und Skateboarder, sinnigerweise „Crossover“ genannt, der am unterhaltsamsten von den Red Hot Chili Peppers, am politisch korrektesten von Rage Against The Machine rübergebracht wird. Die gleiche Klientel sprechen Green Day, Offspring oder Rancid mit ihrem Puppenstuben-Punk an, derweil an der Ostküste Sonic Youth vor sich hin avantgardieren oder die Smashing Pumpkins mit jedem Album mehr den Seventies-Rock zu rehabilitieren scheinen. Und auch die Damenwelt meldet sich mit Nachdruck zu Wort: mit rotzigem Rock von „Riot Girls“ wie Courtney Love; mit „Was sind wir heute wieder intensiv“-Klängen von Tori Amos; mit posthippieskem Filigran-Folk von Heather Nova bis Jewel; mit selbstbewussten Statements zum Geschlechterkampf von Liz Phair bis P.J. Harvey; mit patentem Pop von Sheryl Crow bis Penelope Houston.

All diese (und noch ein paar mehr) Szenen treffen sich allenfalls beim alternativen Festival-Zirkus „Lollapalooza“ oder seinem weiblichen Pendant „Lilith Fair“, und gehen wieder auseinander, als wäre nichts gewesen. So wenig gemeinsames Lebensgefühl war nie, so viel musikalische Abwechslung allerdings auch nicht. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Besetzungsliste des nostalgischen Kollektiv-Schlammbads Woodstock II anno 1994: Sheryl Crow, Cypress Hill, Zucchero, Henry Rollins, Nine Inch Nails, Crosby, Stills & Nash, Peter Gabriel, Salt’N’Pepa, Bob Dylan, Metallica, limmy Cliff, Allman Brothers Band und viele andere mehr. „Beliebigkeit pur“, höhnen die einen, „erlaubt ist, was Spaß macht“, kontern die anderen.

Da wird eben auch HipHop nicht ausgespart, eine ansonsten sehr autarke Szene, die – so sie nicht auf Namen wie Arrested Development oder Fugees hört – weitgehend damit beschäftigt ist, sich im eigenen Lager Respekt zu verschaffen. N.W.A. („Niggers With Attitüde“) haben dafür 1989 mit ihrem Album „Straight Outta Compton und Tracks wie „Fuck Tha Police‘ oder „Gangsta Gangsta“ ein neues Genre definiert: Fortan ist – gemäß der ungeschriebenen Gesetze des „Gangsta-Rap“ – weniger von „black brothers“, „black power“ oder „fear of a black planet“ die Rede, sondern von Wummen, Wichsem und Weibern. Ein regelrechter Krieg zwischen Westcoast- und Eastcoast-Rappern beginnt, und es muss erst Blut fließen, ehe die Beteiligten zur Besinnung kommen. Am 7. September 1996 wird Tupac Shakur in Las Vegas erschossen, ein halbes Jahr später mit Notorious B.I.G. ein weiterer prominenter Rapper in Los Angeles abgeknallt. In ihren Texten haben sie Gewalt und Tod beschworen. Lind plötzlich scheint – zum allgemeinen Entsetzen – die Grenze zwischen Kunst und Realität zu verschwimmen. Dr. Dre, Snoop Doggy Dogg oder Ice-T schlagen fortan lieber versöhnlichere Töne an statt weiter großspurig den „Copkiller“ heraushängen zu lassen. Doch auch hier gilt: Die Stammesangehörigen (und ein paar selbsternannte Jugendschützer) diskutieren sich die Köpfe heiß, dem Rest der Welt ist’s herzlich egal.

Den Engländern ohnehin, denn die haben genug mit sich selbst zu tun. Dortzulande besinnen sich nämlich in der ersten Hafte des Jahrzehnts etliche junge Männer auf das reiche musikalische Erbe ihres Eilandes, von Beatles, Kinks, Who über Bowie, Bolan, Roxy Music bis zu Smiths, New Order, Paul Weller. Die Medien haben schnell ein Etikett zur Hand („Britpop“), die Musikindustrie ebenso rasch einen neuen Slogan, („Buy british“), und überall schießen Bands wie Pilze aus dem Boden, nennen sich Gene oder Suede, Supergrass oder Manie Street Preachers, Radiohead oder Verve. Doch sie alle spielen im Sommer 1995 nur Nebenrollen. Es geht einzig um eines: Wer wird die Nase vorn haben? Dämon Albarn oder Noel Gallagher? Blur oder Oasis? London oder Manchester? „Country House“ oder „Roll With It“? „The Great Escape“ oder „(What’sThe Story) Moming Glory“? Der ganze Hype endet schließlich schiedlich und friedlich: Blur gewinnt den Singles-Wettlauf, Oasis den der LPs, und heute interessiert das alles vermutlich keinen Menschen mehr. Damals übrigens auch nicht alle, denn aus „Madehester“ kommen nicht nur Oasis, sondern auch die Happy Mondays oder die Stone Roses, die den ehrgeizigen Versuch starten, Hippies und House, Song und Groove zu vermählen, was teilweise auch gelingt, wenn man nur genügend bunte Pillen einwirft und sich auf „Raves“ genannten Parties die Seele aus dem Leib tanzt.

ÜBERHAUPT: DER DANCEFLOOR BEBT. AUS DER VON DJ Frankie Nuckles 1979 kreierten Verbindung von Disco und elektronischer Musik ist längst – mit deutlich höherer Schlagzahl -Techno geworden, der bei Mega-Events durch Berlin oder Zürich dröhnt oder in verschwitzten Clubs für kollektive Ekstase sorgt. Verlieren sich bei der ersten „Love Parade“ 1989 an der Spree noch lediglich ein paar Dutzend Partywillige hinter einem einzigen Zugwagen, so entwickelt sich das Open-Air-Spektakel schnell zur weltgrößten Sommer-Party – wenige lahre später schon werden hier die Jugendlichen, deren Phantasie-Kostüme in allen Farben des Regenbogens schillern, nach Hunderttausenden gezählt. Und die Dancemusic gebärt dazu neue Stile am laufenden Meter: Goldie popularisiert Drum’n’Bass, die Chemical Brothers oder Prodigy schichten ihre Big Beats zu wahren Soundwällen auf, und die einst gesichtslose Szene hat endlich ihre Helden. Zu denen zählen fraglos auch zwei Österreicher, die sich als wahre Studiohexer, Remix-Künstler und gefragte DJs einen Namen machen: Peter Kruder und Richard Dorfmeister. Als Wiener lassen’s die Herren gern etwas lockerer angehen. Und befinden sich in guter Gesellschaft, denn aus der britischen Provinz sind gleichfalls relaxtere, mitunter gar zeitlupenhaft schleifende Klänge zu vernehmen. „Triphop“ nennt sich ein weiterer gelungener, gleichwohl nicht allzu langlebiger Beitrag Albions zur Musik der Dekade. Massive Attack, Tricky oder Portishead fesseln das Publikum mit atmosphärisch dichten Alben und lenken die Blicke vorübergehend nach Bristol.

In „good old germany“ wundert man sich unterdessen gewaltig. Vor allem darüber, dass die deutsche Sprache sich als extrem Charts-tauglich erweist. Längst vergessen sind die oft ungelenken Versuche aus den Siebzigern, das heimische Idiom auf die Pop-Ebene zu hieven, vergessen auch die grassierenden Albern- und Plattheiten der Neuen Deutschen Welle in den Achtzigern. Nun geht – ausgerechnet im vermeintlich uramerikanischen Genre HipHop – eine Generation junger Künsder an den Start, die die Sprache der Straße, ihrer Straße wohlgemerkt, sprechen. „Früher wollten wir auch immer so singen und so sein wie die großen Jungs aus dem Ghetto mit ihren Malcolm-X-Vorbildern und so“, erinnert sich 1993 ein gewisser Thomas Dürr aus Stuttgart. Doch dann kam 1992 „Die da“ und stieß, so Michael Bernd Schmidt, bekannt als Smudo, „wirklich Türen auf. Über 400.000mal verkauft sich dieser Smash-Hit. Fortan sind die Fantastischen Vier dick im Geschäft, und deutscher HipHop auf dem Weg zum Soundtrack des Jahrzehnts. Auch dank vielversprechender Aktivitäten in Frankfurt und Hamburg. Von „Mainhattan“ aus sorgen Moses Pelham und Thomas Hofmann zunächst als bissige Rapper des Rödelheim Hartreim Projekts, später dann als ausgebuffte Geschäftsleute mit der Firma 3 P Productions für Furore und machen aus Sabrina Setlur und Xavier Naidoo veritable Stars, derweil oben im Norden Fettes Brot, Fischmob, Fünf Steme Deluxe und andere fleißig am Status Hamburgs als Deutschlands gar nicht mal so heimlicher HipHop-Hauptstadt arbeiten.

Während in den USA Rapper als böse Finger und Feindbild von Sittenwächtern, Waffengegnern, Feministinnen und Wahrern der „family values“ gelten, stehen ihre deutschen Kollegen eher – sieht man von vereinzelten Querschüssen direkt aus Rödelheim ab – für familientaugliche Unterhaltung im besten Sinn. Die Rolle der Finstermänner übernehmen andere. Die Böhsen Onkelz zum Beispiel, die noch Ende der achtziger Jahre „Türken raus“ grölten, sich später zwar von der rechten Szene lossagen, aber dennoch weiter ein Skinheadpublikum ziehen. Oder die mindestens ebenso umstrittene Formation Rammstein, die es mit Primitiv-Parolen, Rumms-Rhythmen, Clips in Leni-Riefenstahl-Ästhetik und allerlei Feuerzauber an die Spitze der Charts und in den Soundtrack von David Lynchs „Lost Highway schaffen. Oder Witt, zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle Goldener, neuerdings eher ein apokalyptischer Reiter.

Lassen wir’s gut sein und erwähnen stattdessen interessantere Phänomene. Beispielsweise, dass die deutsche Sprache nicht nur zu HipHop, sondern auch zu frischen, jungen Gitarrenbands prächtig passt; als da wären Selig, Tocotronic oder die Sterne. Oder dass Elektroniktüftler, die sich hinter blumigen Pseudonymen wie Mouse On Mars oder Air Liquide verbergen, Kraftwerks maschinelle Bleeps mit den ambienten Flächen von Klaus Schulze oder Tangerine Dream verbinden und damit international Aufsehen erregen. Und sogar Propheten, die zu Hause in Übersee nichts gelten, finden hierzulande eine Heimstatt. Anno 1997 wendet sich Peter Holsapple bei einem Auftritt seiner Continental Drifters in Athens/Georgia folgendermaßen an sein Publikum: „If you like our music and want to buy our records you just have to go over to Germany.“ In der Tat: Nicht nur die Continental Drifters, auch die Walkabouts und diverse andere Roots-Rock-Recken kriegen daheim so recht kein Bein auf den Boden, stoßen jedoch zwischen Garmisch und Flensburg allemal auf offene Ohren. Ähnlich ergeht es Wilco oder Son Volt, Hazeldine oder Freakwater, die nach allem, was man hört, finanziell gerade mal ihr Auskommen haben. Und das trotz famoser Alben. Ein Schicksal, dass sie mit einer Reihe ebenso famoser Singer/Songwriter teilen, die dem darbenden Genre die dringend nötige Blutauffrischung geben, aber über den Status von Geheimtips nicht hinauskommen: Vic Chesnutt oder Jack Logan, Elliott Smith oder Johnny Dowd, Dave Alvin oder Carol Elliott.

Deren Existenzsorgen kennen die alten Helden natürlich nicht. Oder doch? jedenfalls mischen sie immer noch fleißig mit: die Rolling Stones etwa, die mit „Bridges To Babylon“ zum x-ten Mal auszuchecken versuchen, wie oft ihr Publikum auf den gleichen Trick reinfällt, und dabei – wie immer – ganz große Kasse machen; Neil Young, der nach seinen kruden Experimenten der Achtziger zum „Godfather of Grunge“ aufsteigt, mit Pearl Jam auf Tour geht und sich zum Ausklang des Jahrhunderts noch einmal mit den Kollegen Crosby, Stills & Nash zusammentut; Pink Floyd, die, obwohl längst zum Monument erstarrt, mit gigantischem Tourneezirkus durch die Welt ziehen und – wie auch lagger und Richards – gemeinsame Sache mit dem Volkswagen-Konzern machen; Bruce Springsteen, der nach zehn Jahren Pause und einem Abstecher ins sozialkritische Fach die E-Street-Band wieder zusammentrommelt; R.E.M und U2, die nach dem Aufstieg in die Superstar-Liga immer wunderlicher werden und dennoch konstant die Stadien füllen; Queen, die mit einem schon vom Tod gezeichneten Freddie Mercury ihr letztes Album aufnehmen; David Bowie, der sich an Drum’n’Bass versucht und mit seinem Werk als erster Rockmusiker an die Börse geht. Selbst Vorruheständler melden sich zurück und lassen die Neunziger auch zur Dekade der Reunions und Comebacks werden – The Band und Velvet Underground, Eagles und Traffic, Black Sabbath und Blondie, Kiss und Lynyrd Skynyrd, Eurythmics und Johnny Cash, Patti Smith und Randy Newman – und der Revivals: Guildo Hörn und Dieter Thomas Kuhn wollen den Schlager neu beleben und verschwinden zum Glück alsbald wieder. An einem Tag wird das eigentlich zu Recht in Vergessenheit geratene, weil unerquickliche Easy Listening abgefeiert, am nächsten ein mäßig originelles Swing-Revival ausgerufen, am übernächsten dreht jemand einen Film über Bowie und Iggy – plötzlich ist Glamrock ieder in aller Munde, und androgyne Gestalten wie Marilyn Manson oder Placebos Brian Molko bevölkern die Titelseiten. Für ziemlich genau eine Woche, jeder bedient sich nach Lust und Laune aus dem großen Gemischtwarenladen, zu dem Pop geworden ist, ohne den theoretischen Unterbau vergangener (pseudo-)revolutionärer Tage. „Die Idee der Langlebigkeit“, sinniert Beck Hansen, selbst einer der größten Eklektiker der Dekade, gegenüber „Entertainment Weekly“, „ist in den Achtzigern zu Grabe getragen worden. Damals konntest du noch für mehr als ein oder zwei Alben etwas zu sagen haben. Jetzt wechseln die Hörer ihre Vorlieben für Trends und Stile derart schnell, dass Musiker ihrer künstlerischen Entwicklung am besten mit Hormonspritzen auf die Sprünge helfen sollten, um mit diesem Tempo Schritt zu halten.“

Es sei denn, man besitzt die Chuzpe eines Sean „Puff Daddy“ Combs, der 08/15-HipHop-Tracks mit Led Zeppelin- und Police-Versatzstücken zu Megasellem aufmotzt. Oder tüftelt an Marketingstrategien, die aus einem alten Kahn, einem Eisberg, einer Schnulze und einer mittelmäßigen Sängerin einen Welthit zaubern – siehe Celine Dions „My Heart Will Go On“. Eine andere Möglichkeit: Per Casting werden aus fünf zielgruppenorientiert ausgewählten Mädels (oder lungs) die Spiee Girls (oder Take That, die mit Robbie Williams immerhin einen vielversprechendes Talent hervorbringen). Ende der 90er gilt: „We’re only in it for the money“ (Frank Zappa) – könnte man meinen. Doch weit gefehlt: Dass Image und Marketing nicht alles sind, beweist der Erfolg einiger steinalter Männer aus einem fernen Land. Vielleicht liegt’s daran, dass die Senores vom Buena Vista Social Club Stil mitbringen, Grandezza, Können und klasse Songs. Eigenschaften, die das Publikum stets überzeugt haben – und immer noch und immer wieder zu finden sind: bei Kurt Cobain, Björk oder den Fugees; bei U2, R.E.M. oder Madonna; bei Johnny Rotten, Bruce Springsteen und Patti Smith; bei den Beatles, den Rolling Stones und Dylan; bei Elvis, Chuck Berry und Buddy Holly; bei Robert Johnson, dem größten aller Bluesmänner, und bei Hank Williams, dem größten aller Countysänger. Der übrigens hat einmal gesagt: „Ein Song ist nichts anderes als eine vertonte Geschichte.“ lind das wird wohl so bleiben. Mag derzeit auch Ratlosigkeit darüber herrschen, wie sich der Pop nach Presley und Prince, nach Prodigy und Pink Floyd im nächsten Millennium anhören wird, Kurt Cobains Satz könnte ein guter Anfang sein: „Here we are, now entertain us.“