Musikminister


Während die Politik den Umzug nach Berlin vollzogen hat, hält die Indie-Fraktion des alternativen Labels Normal Records in Bonn Stellung.

Von allen guten und bösen Pohtgeistem verlassen, groovt die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn heute wie ein sibirisches Altenheim. Aber: ‚ITie Only Way Is Up -, endlich kann sich Bonn eine regierungsunabhängige Identität zulegen. Und ein Mann, der einen großen Teil dazu beiträgt, arbeitet bereits seit 20 lahrcn fleißig daran, der beschaulichen Stadt am Rhein ein Charaktergesicht zu geben: 1980, als noch kaum jemand wusste, was „Independent“ wirklich bedeutete, sorgte der fanatische Musikfreak und Idealist Eduard Rühmann dafür, dass man in Bonn Vinyl erwerben konnte, das nicht in den Fabrikhallen der Croßkonzeme in den Mainstream gepresst wurde. In seinem „Normal“ Planenladen gab es jede Menge britische Importe, das Gebäude war eine Kult-Adresse für Opportunisten: „Vor der Türe standen immer so viele Punks, dass ich mich gar nicht reingetraut hab“, erinnert sich Volkard Steinbach grinsend. Aus dem alternativen und unkonventionellen Shop, in dem „jeder mal an der Kasse stehen durfte“ (Eduard), wurde 1982 ein ebenso unkonventionelles Label, und der Journalist Steinbach ist inzwischen als Minister für Information und Promotion fest an Bord. Die Richtlinienkompetenz liegt bei Eduard Rühmann, und der hat schon zu Beginn bewiesen, dass er den richtigen Geschäftssinn hat – kurioser Weise mit einer kleinen Pleite: 1984 folgte er einer Eingebung und schloss einen mündlichen Vertrag mit einer jungen Dame namens Natalie Merchant, die gerade mit ihrer Band 10000 Maniacs das Debüt „The Secrets Of The I Ching“ aufgenommen hatte. Ganze drei Monate war Eduard für seine Newcomer-Entdeckung zuständig, dann flatterten die ersten Briefe von Anwälten ins Haus. „Ein Major-Label hat sich für unsere Band interessiert. Auf dem Briefkopf stand ,New York – Tokyo – London, und die wollten uns auf 100.000 Dollar verklagen. Da haben wir furchtbare Angst bekommen und aufgegeben“, lacht Eduard. Vielleicht ein wenig verbittert? „Die behaupteten, unser mündlicher Vertrag sei ungültig. Aber wir hatten die Master-Bänder und die ganze Produktion übernommen. Das hätten wir locker anfediten können“, spekuliert er jetzt mit ein wenig mehr Erfahrung. Wichtig ist das höchstens noch „aus Prinzip“, die Geschichte des kleinen labeis ist auch ohne das später fast totgeschwiegene Normal-Debüt der 10000 Maniacs eine erfolgreiche: Dinosaurlr, Kastrierte Philosophen, Abwärts und Penelope Houston haben auf Normal CDs veröffentlicht. I leute hat das Label mit Chris Gicavas, Eric Andersen und dem 1997 verstorbenen Townes Van Zandt einige bedeutende Songschreiber im Programm. Qualität war Eduard Rühmann überhaupt stets wichtiger als der große kommerzielle Erfolg. Sympathischer Beweis dafür: Der Kult-Produzent und -Filmemacher Russ Meyer (nach unzähligen „Thanks, but no“ an Major-Adressen) erlaubt allein dem Bonner Normal Label, die Soundtracks zu seinen Ballon-Busen-Streifen zu pressen. Solche schrägen Sachen macht Thomas Hanlage (Chefdes HamburgerSub-Labels Q.D.K.), dereine nie versiegende Quelle für obskure Compilaüon-Ideen zu sein scheint (siehe Track 1, 4 und 13 rechts). Ein Herz für’s Geschäft schlägt noch immer in Eduards Brust, doch ist es nur zur Hälfte Spaß, wenn er heule sagt: „Wir hören uns Demos schon noch an. Echt. Aber so viele Bands will ich gar nicht mehr unter Vertrag nehmen. Die kommen dann immer ganz begeistert, und wollen mir ihren neuen Song vorspielen. Das ist doch auch anstrengend, oder?“ (lin)

ROGER ROGER Big Band Riff 1 53

Die ersten zwei Minuten auf der CD im ME swingen wie eine Hollywood-Schaukel. Geschmacks- und Trendpolizisten aufgepasst: Der Franzose Roger Roger war mit über 500 Aufträgen einer der aktivsten Filmkomponisten aller Zeiten, sein Werk wurde allerdings erst nach seinem Tod 1996 teilweise veröffentlicht. „Big Band Riff“ stammt aus dem obskuren Sampler „Betty Page – Private Girl. Eine Hommage an eines der berühmtesten Pin-Up Girls des Jahrhunderts. Page (Foto) ist heute 75. In den sieben Jahren, in denen sie in den 5oern im Blitzlichtgewitter stand, erregte sie in den USA genug Aufsehen, um sogar im Senat diskutiert zu werden.

LOUIS T1U.ETT Feeling Free 316

Ein Bluesriff von Canned Heat verarbeitet der Rockpoet aus Sydney in „Feeling Free“, darüber verspielt er ein launiges Piano und treibt den Song durch seine staubige australische Heimat. Bis zum achtzehnten Lebensjahr beschäftigte sich der Melancholiker nur mit Klassik. In der Phase der Selbstzerstörung entdeckte er als Erwachsener auch den Blues, Rock und Jazz. Über die Jahre hat sich Tillett zu einer der herausragenden Persönlichkeiten des australischen Underground-Rock entwickelt und liefert als Studiomusiker und Solokünstler regelmäßig hochwertige Arbeit ab.

CHRIS CACAVAS

Smolder4:l2

„Du singst ja wie Neil Young , kann eine handfeste Beleidigung sein.Tatsächlich hat Cacavas in seiner Stimme den gleichen Nicht-Elan wie der Meister, er bringt dazu allerdings auch eine ähnlich rohe Kraft, songschreiberisches Talent und einen kantigen Charakter mit. Neben Chuck Prophet ist Cacavas das zweite Ex-Mitglied der kalifornischen Rocker Green On Red, das überdurchschnittlich gute Solo-Alben veröffentlicht und klassischen Folk-Rock in zeitgenössisches Design verpackt. In San Francisco ist Cacavas seit fast zwanzig Jahren als sensibler Studio- und Session-Keyboarder begehrt, auf seinen drei Solo-Alben zeigt er jetzt, dass er als Gitarrist und Sänger das Zeug zum Bandleader hat.

ERKIN KORAY Istemen 325 Wertvollste Raritäten versammelt der“Asian Psychedelic Music“-Sampler, der in der Reihe „Love Peace & Poetry“ erschienen ist. Die meisten der auf diesem Album versammelten Künstler versuchten Ende der 6oer, mit selbstgepresstem Demo-Vinyl Plattenfirmen zu beeindrucken, für einen Vertrag hatte es letztlich aber nie gereicht. Koray hat es auf die CD im ME geschafft, da er eine schillernde Ausnahme ist: Vermutlich hat er es auf Grund seines unfehlbaren Haarmodegeschmacks in den Sixties in seiner türkischen Heimat zu ansehnlichem Starruhm gebracht. „Istemen“als Beispiel, wie kurios Einflüsse englischer und amerikanischer Popmusik in nichtwestlichen Ländern verarbeitet werden.

THE SILOS

Northern Lights 3:54

Walter Salas Humara lebt seit einigen Jahren in Los Angeles und reformierte dort 1997 The Silos mit neuem Line-Up (u.a. mit Chuck Prophet). Eine ausgedehnte Amerika-Tour lässt hoffen, dass er die Band wieder als Hauptprojekt betrachtet, was nach seinen seltsamen Nebenjobs (z.B. der Produktion der LP „Smell Is In The Air“ der Punkband NORMAL

„Die Stinkin'“) eher erfreulich ist. Mit spärlichen Sound-Effekten modernisiert der Exil-Kubaner Humara auf der CD „Heater“ bisweilen zurückhaltend den Folk-Rock Sound, der in „Northern Lights“ auf der CD im ME aber noch in seiner klassisch-traditionellen Form dargeboten wird.

BARBDONOVAN Restless Soul 3:43 Etwas grau war die Kindheit und Jugend von Barb in der Industriestadt Detroit, und ihre Songs beschönigen nichts. Bevorzugt handeln ihre Geschichten von kleinen Fehlern -Männer, Frauen, sie selbst, ach, die ganze Welt ist nicht perfekt! Die von Dylan und Creedence beeinflussteDonovan lebt heute in Austin/Texas und beklagt die selbstgewählte Tristesse ihres Lebens mit trauriger Wärme und viel Herz. Sie war gut befreundet mit Townes Van Zandt, der ihr songschreiberisches Talent und ihre Ehrlichkeit schätzte.

TOWNES VAN ZANDT ToLive’sToFly3:21 einzige) Begleiterde^ nruiLui Folk-Poeten aus Texas. Nach jahrzehntelanger Arbeit als Songschreiber und Kneipen-Performer kam der überraschende Durchburch erst in den 9Oern. In den Jahren vor seinem Tod 1997 spielte der melancholische Barde in vollen Häusern. Seine Anhängerschaft wurde größer und sein Gesundheitszustand labiler – seine Konzerte waren je nach Tagesform von überwältigender Intensität oder schlichtweg ein Trauerspiel. „To Live’sTo Fly“ wurde an einem grandiosen Abend in Bochum 1994 mitgeschnitten.

PENELOPE HOUSTON Innocent Kiss 3:20 Houston ist ein Juwel der kalifornischen Singer/Songwriter-Szene in San Francisco, obwohl sie sich ursprünglich in der Punk-Szene einen Namen gemacht hatte. Ende der 70er führte sie die Avengers an, die als eine der ersten Punk-Bands der Westküste Pionierarbeit leisteten. Erst 1988 begann Houston mit ihrem Solo-Debüt eine Karriere als von Kritikern geliebte, vom Publikum aber permanent unterschätzte Folkbardin. Ungewohnt ist in der Tat ihre unausgebildet klingende „Indie“-Stimme, die mit wackeliger Zärtlichkeit durch die akustischen Arrangements taumelt. Dahinter stehen aber Songs von einer Schönheit, die manch Majestät nicht hatte.

HANNAH MARCUS Los Alamos 425 Ebenso geprägt von der Folk-Tradition in San Francisco ist die introvertierte Sängerin Hannah Marcus, die in diesen Wochen in Los Angeles im Studio ist, um ihre neue Normal-CD aufzunehmen. Während ihrer Kindheit in New York lernte sie Violine, Cello und Flöte von ihrem Vater, einem klassischen Komponisten, der Hannah ein Gespür für komplexe musikalische Strukturen vermitteln konnte. 1987 zog sie nach San Francisco, wo sie als Künstlerin Erfahrung sammelte und mit Mitgliedern von American Music Club und der Penelope Houston Band arbeiteWerk der schwierigen Romantikerin, ME/Sounds liefert mit einem Rough Cut von „Los Alamos“ eine exklusive Preview.

MYRNALOY Ntght In Hipstertown 3:15 Die harte Truppe aus Bonn galt einst in Ermangelung von Alternativen als eine der innovativsten deutschen Bands. Und tatsächlich bleibt unklar, woher Myrna Loy ihre verqueren Ideen und schaurig-schrägen Mixturen aus Rock, Pop, Dance und Ambient nahmen. Das Werk dieser Band ist selbst international relativ einzigartig. „Night In Hipstertown“stamrnt von dem 92er Album „Immerschön , seither ist es still um Myrna Loy geworden. Möglich, dass die Band am 15. Dezember 1993 die Lust am Musizieren verlor, an diesem Datum starb die große Hollywood-Diva Myrna Loy.

BRUCE HAACK Bods4:10 Als Ende der 60er George Harrison mit Moog-Synthies eine der ersten Elektronik-Platten einspielte („Electronic Sound“), bastelte Bruce Haack bereits seit Jahren an einer furchterregenden Tonmaschine. Aus dem Inventar eines Radiosenders in iraubte und lötete er ein kabelvernetztes Monstrum, das-obwohl Haack nie Elektronik studiert hatte tatsächlich Piepser von sich gab und Grundlage für Aufnahmen zwischen 1969 und 74 wurde.

Seine Kompositionen ungewöhnlich zu nennen, ist stark untertrieben, die „Songs“ sind so seltsame Gebilde, dass Haack das meiste davon nur für Kinderplatten produzierte vielleicht für das einzige Publikum, das seine Musik verstehen konnte.

LOW-Fl GENERATOR Jungle Drums 2:34 Ein Bruce Haack der Gegenwart ist Marcel Immel aus Wiesbaden, der auf Grund einer Demo-Einsendung von Normal-Chef Rühmann entdeckt wurde. Song für Song findet der Elektronik-Frickler stilvolle Variationen, um seine Ton-Collagen mit innovativen Samples und Klangfetzen aufzuwerten, die Ideen sind funky und unterhaltsam: Auf seinem Debüt „Stereo“ verkuppelt er Heinz Piper mit Peter Alexander, und Walter Ulbricht (Schnipsel aus seiner Rede gegen die schädliche westliche Beatmusik) mit Blondie. Ein neues Album ist in der Planung, Jungle Drums“ ist die exklusive Vorab-Hörprobe auf der CD im ME/Sounds.

MADISON Man On The Moon 3:33 „Porn To Rock heilst die Triple-X-Compilation, auf der diese Rock-Rarität erschienen ist: Die. „Musiker“auf dem Samplersind ausschließlich „Stars“ von „Adult Movies“. Manche der traurigen Hardcore-Helden kamen tatsächlich mit vergleichsweise ehrenhaften Absichten nach Hollywood, sie strebten eine Karriere als Rockstar an. Nach derfinanziellen kam dann allerdings die moralische Bankrotterklärung, die Überbleibsel sind diese Songs von unterschiedlichster Qualität. Ride On, Madison Stone.

ERIC ANDERSEN Cold Country 5:07 Der 56-jährige Andersen fand einst über Jack Keruac zum Musikerleben: Inspiriert von „On The Road“ trampte er mit seiner Gitarre von New York nach San Francisco, wo er tatsächlich die Beat-Poeten Allen Ginsberg und Neil Cassedy kennenlernte. Seine eigene künstlerische Selbstfindung begann Mitte der 60er, als sich Andersen im New Yorker Greenwich Village einen Platz in der Songwriter-Szene um Bob Dylan erspielte. In den 8oern zog sich der stille Sänger vom Business zurück, erst in diesem Jahrzehnt begann er in seiner neuen Heimat nahe Oslo, wieder konzentriert musikalisch zu arbeiten. Im Frühjahr wird ein neues Album erscheinen. Für ME/S hat Andersen einen exklusiven Rough-Cut von „Cold Country“ zur Verfügung gestellt, (lin) T Roger Roger Big Band Riff 1:53 2 Louis Tille« Feeling Free 3:16 3 Chris Cacavas Smolder4.i2 4 Erkin Koray Istemen 3:25 S The Silos Northern Lights 3:54 6 Barb Donovan Restless Soul 3:43 7 Townes Van Zandt To LivesTo Fly 3:21 8 Penelope Houston Innocent Kiss 3:20 9 Hannah Marcus Los Alamos (unmastered version) 4:25 10 Myrna Loy Night In Hipstertown 3:15 11 Bruce Haack BOQSAMO 12 Low-Fi Generator Jungle Drums 234 13 Madison Man On The Moon 3:33 14 Eric Andersen Cold Country (unmastered version) 5:07