Mystisch


SALLY HÜPFT AUF UND AB. SALLY ARBEITET für Atlantic Records UK. Sie ist diejenige, die uns in Heathrow abholt, aber ihre erste Frage ist nicht, wie wir Tori Arnos‘ neue Platte finden oder ob wir gut vorbereitet sind. Sie fragt, ob wir unsere Badehosen dabei haben. Sie trägt ein geblümtes Sommerkleid und ist fest entschlossen, kein Arbeits-, sondern ein Urlaubswochenende zu verbringen. Der Chauffeur, der uns von London nach Cornwall bringt, heißt James. Wie sonst. )ames hat sein halbes Leben damit verbracht, Rockbands und Michael Jacksons Equipment durch Luropa zu fahren und ist sichtlich froh, daß dieser Irrsinn vorbei ist. Auch für ihn ist dieser Wochenendjob ein extrem entspannter Ausflug, und spätestens als wir an der Brücke nach Wales vorbeifahren und in einem pittoresken Örtchen den ersten Stop einlegen, hat die Ausflugsstimmung die ganze kleine Gaippe erfaßt. Ist es nicht schön? Oh ja, es ist schön. Wunderbar sogar. Das Gras ist saftig-grün, der Himmel zart-blau, die Blumen platzen vor Farbe. Die Lläuser sind klein und meistens etwas schief. Das Meer ist vor der Tür. Die Temperatur liegt bei 18 Grad, erfrischend, sehr angenehm. Sandstrände gibt es in allen Geschmacksrichtungen – vom seichten Familienplanschen bis zur einsamen Steilküstenbucht mit abenteuerlichen Gesteinsformationen. Liberhaupt: Steine. Stonehenge ist unweit, noch näher sind die rudimentären Liberreste von Tintangel, König Arthurs legendärer Burg.

Um es komplett zu machen, heißt unser Hotel Camelot. Und doch sind Ritter und Zauberer denkbar weit entfernt. 15 Jahre ist es her, daß Myra Ellen Arnos „Die Nebel von Avalon“ gelesen hat. Damals war sie 21, hat in LA. gelebt und war von jeder Art von Karriere noch weit entfernt. Jetzt liest sie so was nicht mehr. Es ist real und gleichzeitig entmystifiziert. Ihre neuen Nachbarn erzählen ihr Geschichten von Geistern und Kornkreisen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie über Fußball oder die Benzinpreise reden. „Es hat nichts mit New Age zu tun“, betont Tori vorsorglich, „das ist nicht meine Welt. Das ist mir zu klischeehaft, zu konformistisch.“

Auch wenn vieles in Tori Arnos‘ Musik und in der Ästhetik ihrer Cover eine andere Sprache spricht, scheint die Sonne heute so strahlend, daß man ihr glauben muß. Kein Zwielicht, keine Zweifel. Im Gegenteil: Es herrscht so viel südeuropäische Gelassenheit um uns, daß Tori Arnos eher einem Blumenmädchen gleicht als einer seelensuchenden Schmerzensfrau. Alle Projektionen, alle Bilder verschwimmen: die Puppenkiste namens „Little Earthquakes“, der rotgelockte Engel von „Under The Pink“, der hexenhafte Outlaw mit Gewehr und Ferkel an der Brust von „Boys For Pele“, die hinter Glas gepreßte Nixe „From The Choirgirl Hotel“. Das Klavier. Die Schuld. Die Sühne. Der Vater. „Father, I killed my monkey“ beginnt das neue Album, einen biographischen Schritt weiter. Vater, ich bin frei. Wieder reibt sich die Psychoanalyse die I lande, wieder präsentiert sich Tori Arnos als die ihr Leben und Leiden am expressivsten vor sich her tragende Künstlerin weit und breit. Mit ihr führt man kein Interview. Hier wird für begrenzte Zeit eine Schleuse geöffnet, und es ist ratsam, die eigene Position vorher gut zu wählen. Sonst findet man sich am Lnde fünfzigfach gedreht in der Böschung, benommen und wie angefixt, doch die Klappe ist zu. Dazu sieht sie dir aus fünfzig Zentimeter Entfernung mitten in die Pupille und greift in besonders dramatischen Phasen deine Hand. „Moment“, denkst du irritiert, bist, selbst wenn der sexuelle Aspekt überhaupt keine Rolle spielt (was nicht der Fall ist) angenehm berührt, wichtig, einzigartig und mußt aufpassen, darüber nicht eingewickelt zu werden. Strategie oder nicht? Exhibitionismus? Keine Frage: Die 36jährige ist Profi, und sie weiß genau, was sie tut. Davon kündet schon ihr erstes Auftreten. Barfuß und zielstrebig geht sie über den Rasen, zeigt über verschwörerisches Zwinkern das kleine Einmaleins der Manipulation: „Ihr Journalisten wißt gar nicht, wieviel ihr von euch preisgebt“, sagt sie kurze Zeit später, „ich bin eine Jägerin. Ich jage Frequenzen, ich jage Sounds, und ich jage Emotionen. Und manchmal jage ich die, die mich herausfordern. Es gibt diese Seite von mir, die Blut in den Mundwinkeln hat.“ Es gibt viele kämpferische Toris, eine davon ist Begründerin der US-Selbsthilfeorganisation RAINN (Rape, Abuse and Incest National Network) für mißhandelte Frauen, und dann gibt es „einen Teil von mir, den du deiner Mutter nicht vorstellen möchtest.“

Gerade jetzt, durchdrungen von Licht und Leichtigkeit, scheinen diese Agressionen aber weit weit weg. Die Menschen hier sind ausnahmslos gelöst und glücklich. England feiert Sommer wie selten zuvor und verwandelt sich dabei in ein ganz anderes England, als jenes, das mit seiner monströsen Geschichte, seiner Kultur und seinem Nebel so naheliegend als Heimat von Tori Arnos erscheint, daß man sich manchmal erinnern muß, daß sie ja eigentlich Amerikanerin ist und aus North Carolina stammt. Seit knapp zwei Jahren ist Bude in Comwall eine feste Adresse und gewinnt zusehends an Bedeutung, auch wenn es nicht wirklich Zuhause ist. Einen solchen Ort gibt es nicht. Tori hat Immobilien an so unerschiedlichen Plätzen wie Irland und der Karibik. Dahin geht sie ab und zu, um Rennboot zu fahren. Seit knapp zwei Jahren ist sie verheiratet, hat mit Mark, ihrem englischen Mann, der auch ihr Produzent ist, hier an der Küste von Comwall in einer alten Scheune ein High-Tech-Studio aufgebaut. „Von draußen sieht es aus als wäre es 200 lahre alt, und innen ist es ein Raumschiff“, berichtet sie stolz. Es ist ihr Refugium, nur auf ihre Kreativität, ihren nächsten ‚Tornado wartend. Außerdem steht da ihr Baby, ihr Fetisch, ihr Piano, das berühmte “ Bösendorfer“. Nach zwei klavierorientierten Alben steht das „Böse“, wie es anspielungsreicherweise heißt, jetzt allerdings nicht mehr ganz so im Vordergrund. „To Venus And Back“, die Platte, die ursprünglich nur eine Sammlung von Live-Mitschnitten der letzten Tour sein sollte, ist ein weiterer Schritt in Richtung zeitgemäßer, halb gespielter und halb programmierter Produktion aus den Tiefen jener ehrwürdigen Techno-Scheune. Die Erklärung, warum es denn so schnell und ungeplant schon wieder ein Album gibt, sagt viel über Tori Arnos: „Die Stücke sind zu mir gekommen.“ Sie empfängt Signale. Die Wüste spricht zu ihr, die Erde spricht zu ihr. Sie ist die Stimme höherer Gewalten. Kein Wunder, daß es im Internet Seiten mit Namen wie „Church of Tori“ und „Force of Tori“ gibt, wo fast ironiefreie Anbetung betrieben wird.

TORI AMOS IST EIN STAR, KEIN RIESENGROßER, aber ein beständiger. Ein Markenzeichen, eine Ware, eine menschgewordene Frauenzeitschrift und wie diese im ständigen Spagat zwischen beständiger Produktivität und Ausdruck. Tori Arnos vereint die Gegensätze – Leidenschaft und Arbeit, Disziplin und Passion: “ Es geht nur beides, es muß ein Hin und Her geben, wie beim Tennis. Wenn jemand nur Asse schlägt, ist das langweilig.“ Von der neuen Platte spricht sie als ihrem „Cindy Sherman-Album“. Wie die exzentrische Fotografin verwandelt Tori sich ständig und bleibt doch die gleiche. Das sollen die Songs umsetzen. Ein besonders opulenter trägt den Titel „Glory Of The 80s“ und endet mit den stockend hingehauchten Worten „Nineteen-eighty-five“. Das liegt genau in der Mitte jenes berühmt-berüchtigen Jahrzehnts, das für alle, die es bewußt miterlebt haben, der Inbegriff musikalischer Abgründe ist: Keyboardburgen und synthetische Drums, Kitsch und Pathos, Liberproduktion und Stadionsound. Auf der Rückfahrt durch sanft hügelige Weiden und Wiesen läuft auf BBC Radio 1 „Broken Wings“ von Mr. Mister, eine Blaupause der flehenden, seifigen Pop-Definition dieser Zeit und sofort wird klar: Das ist die Welt von Tori Arnos, ihr Klang, ihr Ausdruck, ihre Sentimentalität, die Ende der kalten 90er sehr nach Kitsch schmeckt. Trotzdem oder gerade deswegen kann Tori in ihren besten Momenten auf einen sonst gut verborgenen Knopf drücken, der macht, daß wider besseren Wissens plötzlich ein verklärtes Sehnen einsetzt, ein Wunsch nach lustvollem Leiden und Gefühlsaufwallungen in Panavision. Manchmal hat Tori Arnos Angst, daß es keinen nächsten Tornado geben wird: „Aber dann ißt du an einem Tag wie heute ein Eis und plötzlich hast du den weißen Hai an der Leine. Wenn du wach bist, wird dir so was passieren, bis zu deinem letzten Atemzug.“ Spricht’s und bricht abrupt ab. Eine Stunde ist vergangen. Wir haben uns einmal um Erde, Venus oder was auch immer gedreht, und jetzt trennen sich die Leben wieder. Ihres geht ins Studio, meines an den Strand.