Nils Lofgren Der furchtbar kleine Wahnsinns-Gitarrist


Es gibt wenige Musiker oder Gruppen, bei denen die Schere zwischen Kritiker-Euphorie und schwacher Publikumsresonanz so weit auseinanderklafft wie bei Nils Lofgren. Allenfalls Little Feat wären da noch zu nennen. Dabei rennt der 25jährige Amerikaner jetzt schon seit sieben Jahren dem verdienten Erfolg hinterher, angespornt von Lobeshymnen wie „All You Need Is Lofgren“(New Musical Express). Mit dem Longplayer „I Came To Dance“ hat er unlängst einen neuerlichen Anlauf genommen; mit einer Tournee durch die Städte München, Köm und Hamburg stellt er sich hierzulande im Juni zum erstenmal auf der Bühne vor.

„Es ist schön, ein Lieblingskind der Kritiker zu sein“, umschreibt Nils Lofgren sein Insider-Trauma. „Aber was soll ich mit Bergen von bedrucktem Zeitungspapier? Leben kann man davon schlecht. Ich fände es besser, wenn all die Schreiber was gegen mich hätten und stattdessen dreihunderttausend Kids meine Platten kaufen würden.“

Bei Licht besehen spricht etliches dafür, daß Nils auf seinen ersten Verriß wird länger warten müssen als auf seinen dreihunderttausendsten Fan. Und eines weiß er auch genau: ohne die zu faustdicken Pressemappen gebündelten Lobeshymnen der Rock-Journalisten hätten sich seine Plattenfirmen wohl kaum dazu entschlossen, dem unverstanden Wunderknaben immer wieder noch eine weitere Chance zu geben. Ohne sie säße “ die Antwort des Rock auf Olga Korbut“ (Melody Maker) heute vielleicht nicht einmal mehr auf der Reservebank, sondern wäre ganz aus dem Spiel.

Apropos Korbut: die feinsinnige Parallele zum dreikäsehohen Eislauf-Däumelinchen zielte auf verzweifelte Versuche des Gitarren-Däumelings Lofgren (Länge über alles: 154 cm), durch Show-Gimmicks Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. 1974 war es ihm nämlich zu bunt geworden, sich ini Vorprogramm von Heavy-Acts wie J. Geils oder Black Oak Arkansas für ein desinteressiertes Publikum zu verheizen: Er kreierte den Salto rückwärts mit umgehängter Gitarre, spielte sie mit den Zähnen und hinter seinem Rücken und schwätzte davon, eines Tages während des Auftrittes durch einen Feuerreif zu springen. Zwei Jahre später und nach etlichen deftigen Stürzen schwor er dem gefährlichen Unfug ab: „Ich habe zwar noch jede Menge Ideen für eine originelle Show“, erklärte er, „aber die bleiben solange in der Schublade bis ich allein wegen meiner Musik zu breiter Anerkennung gekommen bin.“

Seine Musik: das ist ein unwiderstehliches Stichwort, um noch einmal in die Pressemappe zu langen. „Lofgren steht in der romantischen Tradition des Teenager-Rebellen“, sinniert da die „Washington Post“, und „Record World“ präzisiert: „Einfache Riffs in immer neuen Variationen, mit Lyrics, die naiv sind im Sinne bester RockÜberlieferung. Chicago’s „Free Weekly“ hört „ein vor Lebendigkeit strotzendes Destillat von zehn Jahren Rock-Gitarre“ heraus, und der „New Musical Express“ behauptet bündig: „Die beste Musik, die man derzeit kaufen kann.“

In Nils musikalischem Werdegang gibt es drei entscheidende Jahre. Das erste ist 1965. Der Sohn eines schwedischen Vaters und einer sizilianischen Mutter ist just von Chicago nach Washington gezogen, als er zum erstenmal die Beatles und die Stones hört — im Radio, versteht sich. Später beginnt er Jimi Hendrix zu vergöttern, stellt das Akkordeon in die Ecke, auf dem er jahrelang beflissen geübt hat, und versucht sich als Gitarrist in diversen VorstadtBands. SY

Das zweite Datum: 1969. Nils gründet zusammen mit dem Bassisten Bob Gordon und Drummer Bob Berberich das Power-Trio Grin, das rasch zum heißesten Tip in Washington D.C. wird und fünf Jahre lang besteht. Aber wichtiger noch: zur selben Zeit haben seine Versuche Erfolg, sich an den schon legendären Rock-Poeten Neil Young heranzumachen. Nils tut es mit der gleichen unbekümmerten Selbstbewußtheit, mit der er später Stephen Stills fragt, ob dieser nicht bei Grin mitmischen wolle; mit der er den Stones klarzumachen versucht, daß er der einzig wahre Nachfolger von Mick Taylor sei; und mit der er seinem Idol Keith Richard anbietet, mit ihm zu jammen (als dieser ablehnt, entsteht der Song „Keith Don’t Go“). Im Falle Young ist ihm das Glück hold: Nils darf in der Garderobe vorspielen und stößt auf wohlwollende Anerkennung. Ergebnis ist seine Mitwirkung auf dem 1970 veröffentlichten Young-Bestseller „After The Goldrush“. Lofgren erfährt erst zwei Tage vor Aufnahmebeginn, daß er statt Gitarre Piano spielen soll — seitdem kann er’s, wenn auch zunächst nur mit rechts, der Akkordeon-Hand. Die Bekanntschaft mit dem sensiblen Young hat über die persönliche Entwicklung des jugentlichen Lofgren hinaus Folgewirkungen auch für seine musikalische Zukunft. Nicht nur, daß er auf dem 1970er Debüt-Album der Young-Truppe „Crazy Horse“ und auf dessen späteren Platten-Requiem „Tonight’s The Nights“ mitwirkt – Young macht ihn auch bekannt mit David Briggs, der bis 1976 Nils Produzent bleibt. Briggs versteht es, seinen talentierten Schützling in zahlreichen Plattensessions unterzubringen, genauso, wie er Lofgrens Gruppe Grin und später dessen Solokarriere entscheidende Impulse gibt.

Das erste Grin-Album wurde noch vor den „Goldrush“-Sessions in Angriff genommen und kommt 1971 heraus. Es wird seltsamerweise ein Flop, genauso wie die vielgerühmte Nachfolgeplatte „1 + 1“ (Ende 1971); ein Experiment, bei dem Lofgren nicht länger versucht, konträre Stile zu integrieren — er schneidet Liebesballaden und Knochenrock hart gegeneinander. Dann aber geht’s kreativ bergab. Nils wird es zuviel, als Grin-Mädchen-füralles Gitarre spielen und singen, komponieren und arrangieren zu müssen, mit sinnlosem Tourneestreß im Nacken. Das Album „Let It All Out“ (1972) läßt das schon deutlich merken, „Gone Crazy“ (1973) dann ist der Grin-Abgesang. Am 8. Juni 1974 macht die Gruppe mit einem Abschiedskonzert in der Heimatstadt Washington Schluß. Ein überkritischer Lofgren im Nachhinein: „Grin war zu dürftig, zu jung, zu unreif. Grin hat sich immer nur nach Grin angehört, nicht nach mir. Deshalb ist ‚Nils Lofgren‘ nicht meine Fünfte, sondern meine erste Platte.“

Das erwähnte Debüt-Album kommt nach sechsmonatigen Vorarbeiten Anfang 1975 heraus. Lofgren hat zwei Studio-Asse für sich gewinnen können: Aynsley Dunbar am Schlagzeug und Wornell Jones am Bass. Das Resultat läßt aufhorchen.

Solch sehnsuchtsvoll verträumte Rock-Poesie, so kristallklare und doch handfeste Melodien, soviel kompositorische Qualität ohne jede Schwachstelle hat man lange nicht mehr zu Gehör bekommen. Bis auf die Cover-Version des Carole-King-Titels „Goin‘ Back“ stammen alle Songs von Nils selbst. Nach einem Jahr Bühnenabstinenz geht er auch wieder auf Tour, zusammen mit seinem Bruder Tom (Rhythmus), Scotty Ball (einem ex-Symphoniker aus Phoenix, Bass) und Mike Zack (Drums). Ende 1975 entsteht dabei im Rahmen einer Radio-Live-Übertragung das Aufnahmeband zu „Back It Up“, einem Longplayer, der später von der Plattenfirma als „autorisierte Raubpressung“ in 2.000 Exemplaren an Presseleute verschickt wird und heute als Rarität bei Sammlern hoch im Kurs steht. Das zweite Album folgt im Frühjahr 1976 und ist unbestritten Lofgrens kreativer Höhepunt. „Cry Tough — pull down your soul /You just need another shot of Rock ’n‘ Roll“, lautet die Devise des Titelsongs. Nils hält, was er verspricht. Das „heißeste Gitarrenalbum des Jahres“ (Rock ’n‘ Roll News) ist ungeschliffener, ohne die gelegentliche kommerzielle Süße seines Vorläufers, anspruchsvoll und perfekt in Szene gesetzt. Lofgren glänzt in leidgetränkten, bisweilen arroganten, dann wieder hoffnungsfrohen Gesangsparts und nicht minder kontrastreichen, mal rauh-rockigen, mal melodisch-jazzigen Gitarren-Phrasierungen. Die Studio-Verantwortung geteilt haben sich Dave Briggs, der die Hälfte der Stücke mit der bewährten Rhythmus-Sektion Dunbar/ Jones einspielen ließ.und AI Kooper, der einiges mehr an Musiker-Aufwand betreibt.aber gottlob nicht überproduziert. Er ist es auch, unter dessen Regie der Yardbirds-Klassiker „For Your Love“ in eine Reggae-inspirierte Fassung gebracht wird.

Auf seinem jüngsten Album, „I Came To Dance“(besprochen in ME 4/77) hat Lofgren erstmals eigenverantwortlich produziert, zusammen mit Drummer Andy Newmark,den er im Sommer ’76 in New York kennengelernt hat. Mit von der Platten-Partie sind des weiteren Bruder Tom (Rhythmus), der Leon-Russel-Intimus Reverend Patrick Henderson (Piano) sowie Wornell Jones am Bass. „I Came To Dance“ vereint die Vorzüge beider Plattenvorläufer: den Schuß naiver Kommerzialität von „Nils Lofgren“ und die intellektuelle Vertracktheit von „Cry Tough“. Wenn Nils mit diesem üppig arrangierten Album in den Charts nicht Fuß faßt, dann mit keinem mehr.

Auf seiner diesjährigen Tour begleiten ihn die genannten Musiker, mit Ausnahme Newmarks, der an einem Soloprojekt arbeitet und die Drumstöcke an Dave Plashton abgegeben hat. Bisher nur für eine Fernseh-Aufzeichnung in Deutschland zu Gast, wird „der Welt dienstälteste Teenager“ (The Village Voice) dann auch einem breibreiten Live-Publikum demonstrieren daß er momentan wirklich der heißeste Gitarren-Feuerwerker ist.