Wollen wir dieses Frauenbild? Eine feministische Kritik der Haftbefehl-Doku

Die Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ romantisiert Nina Anhans Leidfähigkeit als Stärke. Warum das gefährlich ist – und was es über unser Frauenbild verrät.

„Babo – Die Haftbefehl-Story“ steht seit Tagen auf Platz eins der Streaming-Charts von Netflix, wurde Millionen Mal angeschaut, ist in den sozialen Medien in aller Munde. Roh, ungefiltert, echt – das sind die Begriffe, die über die allseits hochgelobte Dokumentation fallen. Kompromisslos, eindrücklich, sagenhaft – so decken sich begeisterte Stimmen, die die Doku nicht nur als filmischen Erfolg, sondern auch als selten unzensierte Nacherzählung eines einzigartigen Rapper-Lebens feiern, und das sicherlich nicht zu unrecht. Mittendrin, weniger laut, weniger präsent, weniger sensationsergreifend steht im Film eine weinende Frau, deren Rolle nicht ganz passt in den Kanon begeisterter Stimmen, die den Film in den Himmel loben.

Nina Anhan, deutsche Influencerin und Unternehmerin, lernte Aykut Anhan, die deutsche Raplegende, die besser bekannt unter dem Namen Haftbefehl ist, 2010 kennen. 2016 heiratete das Paar, wenig später folgte die Geburt von Sohn Noah und Tochter Aliyah. Nina Anhan ist die Frau, die an der Seite ihres Mannes stand, egal, wo das sie hinführte. Die Frau, die durch abgrundtiefe Verzweiflung und tiefste Drogensucht, durch Zeiten, in denen ihr Mann, so erzählt es die Dokumentation, Stunden nach einer Drogenüberdosis nach der Wiederbelebung wieder zehn Gramm Koks durch die Nase ballerte, immer zu Haftbefehl stand und sich weigerte, ihn aufzugeben – aus Liebe, wie sie sagt.

Sie liebt Aykut Anhan, aber nicht Haftbefehl

In der Doku, in der Nina Anhan mehrmals zu Wort kommt, beschreibt sie die Herausforderungen und den Schmerz, den die unverarbeiteten Traumata und die Drogensucht ihres geliebten Ehemanns in die Familie brachten – auch wenn dieser seine Familie ebenso sehr zurückliebt, wie die Doku zeigt.

Dass sie sich ihr altes Leben zurückwünscht, sagt sie in dem Film. Dass sie sich 24/7 um ihre Kinder kümmert, faktisch alleinerziehend ist. Dass sie alles versucht hat – Trennung, die Kinder wegnehmen – um ihren Ehemann zu zwingen, das Kokain zu lassen – ohne Erfolg. Und dass sie Aykut Anhan liebt. Aber nicht Haftbefehl.

Die Reaktionen auf die Dokumentation lauten großflächig: ‚Welch starke Frau!‘ Und vor allem: ‚Jeder Mann verdient eine solche Frau an seiner Seite.‘ „So eine tolle Frau“, kommentierte beispielsweise eine Nutzerin die Szenen einer weinenden Anhan.

Instagram Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Instagram
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Die Romantisierung des Schmerzes einer Frau

Dass Nina Anhan eine Frau von bemerkenswerter Stärke ist, steht außer Zweifel. Dass der Rapper Haftbefehl als Legende in die Geschichte des Deutschrap eingehen wird, ebenso. Ob Zuschauer:innen der Dokumentation sich am Leid eines Rappers erfreuen, sich an der tragischen Existenz ihres Lieblingsrappers ergötzen, den man während des Films faktisch beim Sterben zuschaut – das ist eine Diskussion, die man legitim führen kann und sollte. Aber dass der Schmerz einer Frau romantisiert und glorifiziert wird, ist das vielleicht größte Problem, auf das die Dokumentation unfreiwillig ein Schlaglicht wirft.

In den sozialen Medien häufen sich Kommentare, die Nina Anhan als die perfekte Ehefrau beschreiben – eine Frau, die durch dick und dünn, und durch die wahrhaft tiefsten Abgründe, zu ihrem Mann steht. Das Recht zu beurteilen, ob Frau Anhans Entscheidungen im Bezug auf ihre Ehe richtig oder falsch oder irgendetwas dazwischen waren, liegt allein bei Anhan selbst. Auch die Frage, was für ihre Kinder das Beste ist, möge man vertrauensvoll bei der Mutter belassen. Aber dass die Stärke einer Frau auf ihre Fähigkeit reduziert wird, für ihren Mann zu leiden, ist aus feministischer Sicht verheerend.

Kritische Stimmen werden laut

Erfrischenderweise werden in den sozialen Medien langsam auch verstärkt Meinungen laut, die sich mit der Darstellung Nina Anhans in der Dokumentation und ihrer Position in Haftbefehls Leben kritisch befassen. Leider scheinen diese bislang ausschließlich von Frauen zu stammen. Eine Nutzerin auf Instagram kommentierte: „Warum ist Nina nur stark, weil sie bleibt? Sie wäre genauso stark, wenn sie sich entscheiden würde, zu gehen.“ (@sabrina_carpador) Eine weitere fragt: „Warum sind Frauen nur gute Frauen, wenn sie Dinge aushalten?“ Und das stößt uns mit der Nase auf eine wichtige Grundsatzfrage: Dürfen wir der gefühlten Romantisierung der emotionalem Belastung einer Frau durch ihren Mann derart Raum geben, wie es gerade geschieht? Eine Romantisierung, die weniger die Macher der Dokumentation betreiben, als vielmehr ihre Zuschauenden bzw. diejenigen, die in Social Media kommentieren?

Instagram Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Instagram
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Dass dem Verhalten von Haftbefehl gegenüber seiner Frau in den ersten Reaktionen auf den Film wenig Beachten geschenkt wurde, weist auf ein gesellschaftliches Grundsatzproblem hin. Dabei soll hier unangezweifelt sein, dass Aykut Anhan mit den schweren Folgen einer traumatischen Kindheit zu kämpfen hat, somit selbst in der Opferrolle ist. Dass scheinbar von Frauen in unserer Gesellschaft erwartet wird, die Folgen seines anschließenden, ihr gegenüber negativen Verhaltens, das in diesen Traumata verwurzelt ist, so hinzunehmen, ist ein Armutszeugnis über den Fortschritt im Vermögen unserer Gesellschaft, die Lasten von Trauma, Schmerz und Verlust gleichmäßig auf verantwortungsvollen Schultern zu verteilen. Eine Nutzerin kommentierte auf Instagram: „Die Frauen jeder Generation regulieren, halten, tragen den Schmerz des Traumas, das Männer in patriarchalen Strukturen nicht oder zu lange nicht anfassen wollen“ (@katharinaseckauthor) – und, man möge hinzufügen, können.

Es geht weniger um Haftbefehl, als vielmehr um ein gesellschaftliches Perspektivenproblem

Dieser Argumentation zu folgen, bedeutet in keinster Weise, Haftbefehl die alleinige Schuld zuzuweisen oder als Sündenbock zu positionieren. Denn die Dokumentation zeigt uns folgeschlüssig, wie hart der Rapper mit den Erfahrungen zu kämpfen hat, für deren Erfahren er nichts konnte. Ebenso auch, dass er sich bemüht, aus Liebe heraus für seine Familie das Bestmögliche zu tun. Problematisch ist vielmehr der romantisierende Blick einer versammelten Zuschauer:innenschaft auf eine Frau, die in erster Linie Mitleidende ist. Zurecht äußert eine Nutzerin auf Instagram: „Selbstaufgabe wird mit Liebe verwechselt und Leiden mit Loyalität“ (@patrycja.sloniecka). Ebenso zurecht fragt eine weitere: „Würdet ihr die Doku auch so feiern, wenn es eine Frau wäre? Eine Künstlerin mit Koksproblem wäre keine Legende, sondern eine Rabenmutter.“ (@tina.mulli)

Instagram Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Instagram
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

In der Reaktion auf die Haftbefehl-Doku werden also auf besondere Weise Geschlechterungleichheiten deutlich, mit denen wir uns kritisch auseinandersetzen sollten. Eine kritische Auseinandersetzung, die es erlaubt, eine Dokumentation für ihre Ehrlichkeit und beeindruckende Umsetzung zu feiern und einen Künstler für seine einzigartige, unvergleichbare Rolle als Rap-Genie – und die dennoch kritische Fragen zu der Verteilung von Verantwortlichkeitsrollen stellt. Dazu gehört auch die wichtige Fragestellung an uns selbst, welches Bild wir an junge Frauen vermitteln möchten, die sich in ähnlichen Beziehungen wiederfinden oder eines Tages vielleicht finden werden. Zum feministischen Empowerment gehört einerseits klarzustellen, dass Nina Anhans Entscheidungen allein die ihrigen sind und kein Marktplatzgut zum Verurteilen und Feilschen. Gleichzeitig gehört dazu die Überlegung, ob wir jungen Frauen beibringen möchten, dass ihre Stärke allein darin liege, in leidbehafteten Beziehungen zu bleiben. Viel allgemeiner betrifft ja nicht nur junge Frauen, sondern vielmehr alle Menschen, die sich in Beziehungen befinden, welche ihnen Leid verursachen.

Weibliche Stärke – gleich Leidfähigkeit?

Und das führt uns zurück zum Begriff der Stärke. Die Dokumentation „Babo – Die Haftbefehl-Story“ erzählt die Story einer Legende, seiner Traumata, Abgründe und Kämpfe. Was sie nicht erzählt, ist die Geschichte seiner Frau. Während Haftbefehl von Netflix zum Helden gemacht wird – ein Held, der er für die HipHop-Welt durchaus auch ist – wird Nina Anhan ebenfalls zur Heldin erklärt. Allerdings per Assoziation, weil sie aushält, weil sie stellvertretend leidet, und weil sie bleibt. Es wäre für das Frauenbild fatal, falls männliche Zuschauer sie für eine imaginierte Passivität liebten – fürs Schweigen, fürs Stillhalten. Denn wollen wir weibliche Stärke als Leidensfähigkeit definieren?

Nina Anhans Stärke liegt doch nicht in ihrer Rolle als die Ertragende von Haftbefehl, auch wenn ihre Geduld, ihr Durchhaltewillen und kompromisslose Liebe uns selbstverständlich Respekt abverlangt. Nina Anhans Stärke, wie immer sie aussehen mag, sollte man in ihrer Persönlichkeit und ihrer selbst suchen und finden. Eine Stärke, die es im Grundsatz jeder Frau ebenso erlaubt, zum Schutz ihrer selbst und ihrer Kinder nicht zu bleiben, sondern zu gehen, die Reißleine zu ziehen. Und es wird Zeit, dass unsere Gesellschaft lernt, diese Unterscheidung zu treffen. Zum Zwecke einer Welt, in der Frauen wie Nina Anhan in Dokumentationen nicht mehr die Tränen vom Gesicht wischen müssen – und in der ein junger Aykut Anhan nicht mehr den Schmerz erfahren muss, der ihn für so viele Jahre so sehr leiden ließ.