Nirvana


20 Jahre Nevermind – was bleibt?

Am 24. September 1991 erscheint Nevermind in den USA. Der Anfang vom Ende der klassischen Rockmusik. Keith Cameron beschreibt, wie eine unbekannte GrungeBand aus Seattle die internationale Musikszene für immer verändert hat – zwölf Monate zwischen Alarmstart und Selbstzerstörung. Dave Grohl erinnert sich an das Chaos dieser Revolution, Amy Raphael an eine heikle Nacht mit Kurt Cobain. Tomasso Schultze und Henri Boerger fragen: Was haben uns Nirvana heute noch zu sagen?

Am Morgen des 21. August 1991 betritt Krist Novoselic die Lobby eines Hotels in Irland und wedelt mit der Kreditkarte. Dummerweise ist es nicht seine eigene – dem Namen zufolge gehört sie der Firma NIRVANA INC -, aber zum Klischee des kreditkartenschwingenden Managers passt sein Auftreten eh nicht: zerschlissene Jeans, zotteliger Bart, lange Matte, dazu ein schlaksiges Zwei-Meter-Gestell, das eher an eine Vogelscheuche erinnert.

Obwohl er mit einem Kater zu kämpfen hat, spricht er sofort über die Sowjetunion, wo Präsident Gorbatschow unter Hausarrest gestellt wurde, weil die Kreml-Hardliner seine Reformpolitik ablehnen. „Ich habe gerade mit Jelzin telefoniert“, behauptet Krist. „Er bat mich, schnell rüberzukommen und ihm zur Hand zu gehen, aber ich sagte:, Kein Problem, Boris, aber du musst warten, bis wir unseren Auftritt in Reading hinter uns haben. Sorry.'“ Natürlich kann Novoselic auch als außenpolitischer Experte nicht überzeugen. Er ist eben doch nur der Bassist einer amerikanischen Rock-Band – einer Band allerdings, die innerhalb von sechs Monaten Michael Jackson vom Thron der US-Charts stoßen wird.

Am Abend zuvor hatten Nirvana im Sir Henry’s gespielt, einem Club im irischen Cork. Obwohl nach ihnen Sonic Youth auftraten, kamen allenfalls 200 zahlende Zuschauer – und keiner von ihnen stürmte wegen Nirvana zur Bühne. Ich war mit Fotograf Ed Sirrs da, um einen Artikel für den „NME“ zu schreiben. Am gleichen Abend fuhren wir mit der Band nach Dun Laoghaire, einem Badeort vor den Toren Dublins, wo Nirvana im Top-Hat-Club gebucht waren. Am Tag danach ging es über die Irische See nach Reading, zu ihrem ersten Auftritt bei einem englischen Festival, auch wenn es nur für einen wenig attraktiven Platz am Freitagnachmittag gereicht hatte.

Bevor Krist wieder über den KGB referieren kann, frage ich ihn, was es mit der Kreditkarte auf sich hat. Er lacht schallend. Richtig ist, dass die Band nun bei einem Major unter Vertrag steht, und zwar dem Label des legendären Musikmoguls David Geffen – und doch hatten sich seine Lebensumstände nicht die Bohne geändert. Mit seiner Frau Shelli wohnte er noch immer in einem winzigen Haus in Tacoma, zwischen Seattle und der Landeshauptstadt Olympia. Krist und Shelli lebten beengt, waren aber zuvorkommende Gastgeber. Mit einem Fotografen hatte ich sie im September 1990 für eine Titelstory für das englische „Sounds“ besucht. Wir sahen Nirvanas bislang größte Show in Seattle (in der Motorsports International Garage mit 1 500 Zuschauern) und erlebten den einzigen Auftritt mit Drummer Dan Peters von Mudhoney. Genächtigt wurde im Wohnzimmer der Novoselics auf der Matratze – und als wir morgens mit Black Flag geweckt wurden, brutzelte es schon aus der Küche.

Im Sommer 1991 lebten die anderen Bandmitglieder nicht weniger bescheiden. Dave Grohl, der letzte einer langen Kette von Nirvana-Drummern, war in der Pear Street in West Seattle untergekommen. Kurt Cobain hatte hier seit 1987 mit seiner Freundin Tracy Marander gelebt, nach der Trennung 1990 zog Grohl zu Cobain. „Die Küche war eine Kloake“, sagte er später, „der Kühlschrank war immer leer. Im Wohnzimmer standen ein kaputter Fernseher, ein Plattenspieler, ein Dutzend Platten, ein Sofa und eine Lampe. Der Rest des Zimmers wurde von Kurts riesigem Aquarium eingenommen, in dem sich zwei stinkende Schildkröten befanden. Das winzige Schlafzimmer hatte Kurt schwarz gestrichen, die Toilette war so groß wie ein Flugzeug-WC. Und mittendrin lebten wir.“

Cobain ist inzwischen aufgewacht und setzt sich zu uns. An unbequeme Nächte im Auto ist er gewöhnt. Einen Monat zuvor kam er nach einer Westcoast-Tour mit Dinosaur Jr. in sein Apartment zurück – nur um festzustellen, dass sein Hab und Gut auf der Straße stand: Er war wegen Mietrückständen aus der Wohnung geworfen worden. Einen Monat vor Veröffentlichung des Megasellers Nevermind musste die Kreativzelle von NIRVANA INC im Auto nächtigen. Kein Wunder, dass sie inzwischen nichts mehr aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

Auch wenn euer neues Album noch gar nicht erschienen ist, wetzen die Punk-Fundamentalisten schon die Messer. Da du selbst ja so etwas wie ein Fundi bist: Wie würdest du es einordnen?

cobain: Ich denke, es ist eine gelungene Mischung aus radiofreundlichem Scheiß und dem, was unser Bleach-Album ausmachte und wie wir live nach wie vor klingen. Heavy ist es jedenfalls noch immer. In allen Interviews, die ich in den letzten zwei Jahren gegeben habe, wies ich schon warnend darauf hin, dass wir künftig mehr poporientierte Songs schreiben würden. Insofern können die Leute eigentlich nicht mehr aus allen Wolken fallen, wenn sie das Album schließlich hören.

Ich vermute mal, dass „Pop-Song“ kein Schimpfwort für dich ist?

Cobain: Überhaupt nicht, alle meine Lieblingsnummern sind Pop-Songs. Die Butthole Surfers machen Pop-Songs. Pop bedeutet doch nur, dass es simpel sein muss – das war auch der Punk, bevor er zum Hardcore mutierte.

Novoselic: Oder nimm die Sex Pistols: alles Pop-Songs! Ein großartiges Album. Und The Clash machten auch Pop.

Cobain: Wobei das beste Clash-Album Combat Rock ist. Ich liebe diese Platte. Jedenfalls ist sie Klassen besser als Sandinista. (lacht)

Bei unseren Begegnungen sah ich Cobain öfter grinsen, selten herzhaft lachen. Wenn es eine unbeschwerte Phase für die Band gab, dann im Sommer/Herbst 1991 – bevor „Smells Like Teen Spirit“ MTV überrollte, bevor Nevermind Michael Jacksons Dangerous von der Chartsspitze vertrieb, bevor ihre ganze Welt aus den Fugen geriet.

Die zwei Shows in Irland waren Warm-ups für eine zweiwöchige Spritztour zu europäischen Festivals. Erstmals fuhr man im Bus und nicht mehr im Van, man teilte sich ein paar Hotelzimmer und pennte nicht mehr im Wohnzimmer von Bekannten oder mit der Crew in versifften Bed & Breakfasts – neue Erfahrungen, die die Band durchaus genoss. Natürlich gingen ein paar Umkleidekabinen zu Bruch, aber es waren Streiche von Jungs auf der ersten Klassenfahrt ins Ausland, nicht die Rituale narzisstischer Rockveteranen. Es gab keinen Druck – nur den Ehrgeiz ambitionierter Musiker, ihre Chance zu nutzen. In diesem Punkt war die Band gnadenlos. Trotzdem war ihre Unbekümmertheit spürbar: Sie hatten gerade ein großartiges Album aufgenommen, waren aber noch nicht in die Tretmühlen des Musikbetriebes geraten – auch wenn sie mit dem Geffen-Deal entsprechende Weichen gestellt hatten. Aber wie hätte auch irgendjemand vorhersehen können, was über sie hereinbrechen sollte?

Nur die wenigsten erinnern sich daran, wo sie gerade waren oder was sie taten, als das wichtigste Rock-Album der letzten 20 Jahre veröffentlicht wurde. Am 30. September 1991 stieg Nevermind auf Platz 36 der englischen Charts ein – nicht gerade ein weltbewegendes Ereignis. Tatsächlich hätten mehr Alben verkauft werden können, wenn sie lieferbar gewesen wären. Die englische Plattenfirma hielt 6 000 Exemplare für völlig ausreichend. „Der Gegensatz zwischen Realität und Erwartungen war gewaltig“, sagt Anton Brookes, Nirvanas damaliger Medienberater in England. „Das Band-Management rief mich an und fragte:, Kannst du die Plattenfirma nicht dazu bewegen, mehr Alben ausliefern zu lassen?‘ Worauf die Plattenfirma sagte:, Nein, 6 000 reichen.‘ Zwei Tage später – zack, alles ausverkauft. Ich würde lügen, wenn ich heutzutage behaupten würde, schon damals gewusst zu haben, dass Nevermind alle Dimensionen sprengen würde. Ich dachte mir:, Das ist fraglos ein exzellentes Album. Vielleicht können sie in ein paar Jahren mal als Headliner in der Brixton Academy spielen, vielleicht sogar in fünf Jahren direkt vor den Headlinern beim Reading-Festival.'“

In den USA war es ähnlich. Bei Geffen ging man davon aus, mit einer Erstauslieferung von 45 000 Exemplaren auszukommen. Mark Kates, damals Direktor von Geffens „Alternative Promotion“: „Selbst wenn wir im Laufe des Jahres diese 45 000 tatsächlich verkauft hätten, wäre das intern als Erfolg gewertet worden.“ Geffen hatte andere Prioritäten: Use Your Illusion, das neue Guns N’Roses-Album, das den Budget-Rahmen mehrfach gesprengt hatte und entsprechend ungeduldig erwartet wurde, ging eine Woche vor Nevermind an den Start. „Zudem“, so Kates, „wurde damals bei Geffen mit The Nymphs gerade eine andere neue Gruppe gehypt. Inger Lorre, ihre Sängerin, hatte auf den Schreibtisch unseres A&R-Mannes Tom Zutaut gepinkelt – und die Wellen schlugen hoch. Nirvana dagegen flogen unter dem Radar. Sie waren eine Indie-Band aus der zweiten Reihe – und es dauerte eine Weile, bis wir begriffen hatten, dass sie für diverse Leute offensichtlich extrem wichtig waren.“

Novoselic: C’mon, nun frag uns schon nach den einzelnen Songs auf unserem fantastischen neuen Album!

Na gut. Dann erzählt mal was zu „Territorial Pissings“.

Cobain: Ich hab wirklich keine Erklärung dafür. Wenn ich einen Song schreibe und mich jemand nach seiner Bedeutung fragt, denke ich mir spontan irgendwas aus. Aber tatsächlich schreibe ich die Texte erst im Studio und habe in den meisten Fällen keine Ahnung, worum’s geht.

Was ist mit „Smells Like Teen Spirit“?

Cobain: Nun, es geht um … Hey Bruder, vor allem Schwester, werft das Obst weg und esst die Schale …

Novoselic: Wow. Ich kann es mir plastisch vorstellen.

Cobain: Für Leute mit Tattoos ist es eben kein Tabu mehr, sich die generationsübergreifende Solidarität vorzunehmen und sie ihren Byrds- und Herman’s-Hermits-liebenden Lachnummern von Eltern in den Arsch zu rammen …

Novoselic: Ganz wunderbar, wirklich cool.

Cobain: … und den Saboteur zu spielen, der die Mechanismen des Systems so aushöhlt, dass es von innen zu verfaulen beginnt. Es ist ein Job, der nur von einem Insider erledigt werden kann, und er fängt bei den Aufsichtsberechtigten und den Claqueuren an.

Novoselic: Einfach super. Ja, davon handelt der Song auch.

Cobain: Oder auch nicht. (grinst)

Nirvana besaßen eine Intensität, mit der sich keine Band messen konnte – weil das Zentrum dieser Intensität Kurt Cobain hieß. Selbst kleinste Ahnungen von Wut oder Schmerz flossen ungefiltert in seine Musik. Es war ein beunruhigendes, aber immer faszinierendes Erlebnis, diesen schmächtigen jungen Mann im Würgegriff seiner Gefühle zu erleben. Zugleich schien es, als behielte er doch die Oberhand, weil er diese nicht versiegen wollende Quelle wunderbarer, gänzlich unironischer Songs entdeckt hatte. Addierte man Novoselics entwaffnend funkigen Bass dazu und die Präzisionsmaschinerie namens Dave Grohl, so war die fast schon manische Faszination, die von Nirvana ausging, durchaus nachvollziehbar.

Im September 1991 befanden sich Mudhoney und Nirvana auf separaten Tourneen durch die USA. Die Tour-Pläne waren allerdings so abgestimmt worden, dass Ende Oktober zwei gemeinsame Shows in Portland und in Seattle auf dem Programm standen. Bereits zu Beginn ihrer Tour war Mudhoney nicht verborgen geblieben, dass „Smells Like Teen Spirit“ in den lokalen Clubs und Radiostationen omnipräsent war. Doch selbst Nirvana waren schockiert, als sie bei ihrer Ankunft in Portland erfuhren, dass Nevermind in den USA gerade „vergoldet“ worden war, also 500 000 Exemplare verkauft hatte. Sie waren schockiert, weil sich ihre Lebensumstände nicht geändert hatten: Sie waren noch immer arm wie Kirchenmäuse. Aber die Publikumsreaktionen stellten alles in den Schatten, was sie bisher erlebt hatten. Diese physische Bestätigung bedeutete ihnen mehr als alle Verkaufszahlen und Radioplays.

„Sie waren“, so Mark Kates, „von ihrem Erfolg nicht peinlich berührt, sondern definitiv begeistert. Sie hätten nicht bei Geffen unterschrieben, wenn sie nicht den Erfolg gesucht hätten. Im Laufe der folgenden Jahre war es aber vor allem Kurt, der im Rückblick die Situation anders darstellte. Auch er wollte natürlich erfolgreich sein, aber wenn Musikern die Kontrolle über ihr eigenes Leben aus der Hand gleitet, flippen sie nun mal schnell aus. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass sie zumindest damals ihre Situation durchaus genossen.“

Sechs Tage vor dem Halloween-Gig in Seattle traten Kurt und Krist in MTVs „Headbanger’s Ball“ auf. Interviewt wurden sie von Ricki Rachtman, einem der klassischen Hair-Metal-Poser, die schon bald in der Mode-Versenkung verschwinden sollten, nachdem Nirvana das Selbstverständnis der Hardrock-Gemeinde komplett auf den Kopf stellten. Cobain trug ein gelbes Kleid und sagte wenig, während Novoselic mit sportlichem Ehrgeiz die Band-Position in dem sich anbahnenden Kultur-Clash vertrat.

Ricki Rachtman: Ich würde gerne über das neue Album reden, das Nevermind heißt. Ist es neu – oder haben es die Leute erst in jüngster Zeit entdeckt?

Novoselic: Es ist vor einem Monat erschienen.

Rachtman: Wie lässt es sich erklären, dass plötzlich alle Leute auf Nirvana abfahren?

Novoselic: Hmm …

Rachtman: Weil es doch eine verdammt abgefahrene Platte ist.

Novoselic: Wir haben eine Riesenkutsche, gezogen von bunt geschmückten Biergäulen, und wenn wir vorbeikommen, springen die Leute einfach auf. Es ist ein bisschen wie Ken Kesey und sein Acid-Bus: Wir sind die Merry Pranksters.

Das Interview war Auftakt einer Serie von Medienauftritten, die allesamt zeigten, dass die Band ihren plötzlichen Star-Status unterlaufen wollte – und einen Heidenspaß dabei hatte. Am 8. November traten sie in der britischen TV-Sendung „The Word“ auf und schlugen nicht nur mit Cobains Bemerkung Wellen, dass Courtney Love „the best fuck in the world“ sei. Eine bissige Version von „Smells Like Teen Spirit“ bewies auch, dass Nirvanas explosiv komprimierter Sound fürs Fernsehen wie gemacht war.

Zwei Wochen später kehrten sie für einen Auftritt in „Top of the Pops“ nach England zurück, und Grohl und Novoselic machten nicht einmal ansatzweise den Versuch, bei der Playback-Scharade mitspielen zu wollen. Cobain sang dazu mit einer schaurig tiefen Stimme, was – wie er später behauptete – eine Verneigung vor Morrissey gewesen sei. In der „Jonathan Ross Show“ spielten sie nicht das angekündigte „Lithium“, sondern wüteten sich durch eine donnernde Version von „Territorial Pissings“. Das war Stoff, aus dem Fernsehgeschichte geschrieben wurde.

Der krönende Höhepunkt jedoch war das Nirvana-Porträt in dem TV-Magazin „Rapido“. Gefilmt bei ihrem Gig in Sheffield am 28. November, nahm die Band die Gelegenheit wahr, ihrer aufgestauten Zuneigung für die BBC-Sendung und ihren schnatternden Moderator Antoine de Caunes freien Lauf zu lassen:

Cobain: Ich bin ja so aufgeregt. Weil das eine meiner liebsten Sendungen ist, wann immer wir in England sind. Sie scheint immer an dem Abend zu laufen, wenn wir hier landen.

Grohl: Wir können nicht schlafen, und das ist nun mal die einzige Sendung, die es sich anzuschauen lohnt.

Novoselic: Wir schauen uns vielleicht gerade die internationalen Billard-Meisterschaften an, aber dann kommt plötzlich „Rapido“ – und wir springen im Bett auf und ab: „Yeah! Rapido! Rapido!“

Cobain: Jedenfalls besser als Billard.

Dann sieht man wartende Fans und hört eine Stimme aus dem Off, die – durchaus zutreffend – Nirvana als „die einzige Basis-Bewegung des Jahres“ bezeichnet: „Die Band erspielte sich ihren Status ohne Geld der Plattenfirma, ohne Werbung, sondern nur durch Mundpropaganda und ihre Musik.“ Als das Interview fortgesetzt wird, liegt Cobain auf dem Boden und versucht sich an einer Definition ihrer Musik: „Das Wort, das ich in allen Reviews lese, ist, Freiheit‘. Insofern verstehen wir unsere Musik als musikalische Freiheit.“

Sieht man heute noch einmal den „Rapido“-Beitrag, so trifft er den mentalen Zustand der Band, das naive Staunen angesichts ihres frappanten Erfolges, genau: Während das Chaos in ihrem Leben immer ungesundere Dimensionen annimmt, reagieren die drei als Gruppe – witzig, sarkastisch, aber immer geradeheraus und ehrlich. Der Beitrag endet mit einem Statement von Kurt Cobain, der euphorisch und mit leuchtenden Augen von ihrer Mission erzählt, ein Jahrzehnt voller Rock’n’Roll-Sünden radikal auszuradieren: „Es hat in der Geschichte des Rock’n’Roll immer leidenschaftliche Band gegeben. Die Fans und die Leute aus der Musikindustrie haben dafür zu sorgen, dass uns nicht mehr so schale und lahmarschige Musik vorgesetzt wird wie in den vergangenen zehn Jahren.“

Es sollte nicht lange dauern, bis die Wünsche eben dieser Musikindustrie ihr Leben so rigoros beherrschten, dass der Raubbau nur eine Frage der Zeit war. Im Falle von Cobain, dem zerbrechlichsten Glied in der Kette, bedeutete es, dass er alle Situationen mied, in denen er nicht mehr Herr der Lage war. Die Treffen mit den Medien überließ er Grohl und Novoselic. Nachdem ich einmal miterleben konnte, wie er einen Label-Angehörigen wort- und gnadenlos niederstarrte, war klar, dass Cobain nicht für die üblichen Meet-&-Greet-Rituale geeignet war. Für Cobain war es ein schlichter Selbstschutzmechanismus: Wuchs ihm eine Situation über den Kopf, zog er sich zurück. Erschöpft von den monatelangen Tourneen und endlosen PR-Terminen, kam er einfach an einen Punkt, an dem er sagte: „Genug!“

Die abschließende Woche der Europa-Tournee, vom 9. bis 14. Dezember, wurde gecancelt – was bedeutete, dass die letzte Show auf dem Trans-Musicales-Festival in Rennes stattfand. Offensichtlich erleichtert, endlich das Licht am Ende des Tunnels zu sehen, lief die Band noch einmal zur Höchstform auf und lieferte ein Set ab, das mit einer krachenden Schändung von The Whos Song „Baba O’Riley“ gleich in die Vollen ging. Und damit endete, dass Novoselic Cobain auf den Armen von der Bühne trug.

Andererseits konnte Kurt der umgänglichste Mann der Welt sein, wenn er sich wohlfühlte und im Publikum so etwas wie Respekt spürte. Am 1. Dezember wollten ein paar Dutzend Besucher der Southern Bar in Edinburgh ihren Augen nicht trauen, als Cobain und Grohl unangekündigt ein akustisches Set zum Besten gaben. „Wenn man sich in ihrer Nähe aufhielt“, so Anton Brookes, „bekam man eigentlich nichts von den gewaltigen Veränderungen mit. Sie waren die gleichen Leute mit den gleichen Problemen. Die Band wurde nicht über Nacht eine andere. Sie wurden nicht großkotzig. Sie waren nur erschrocken über das, was um sie herum passierte.“

Was ist das Besondere an eurer Band?

Cobain: Die Songs. Sie bringen uns nach vorne. Es gibt viele Dinge, auf die ich genauso gut verzichten könnte. Ich habe genug Abwehrmechanismen aufgebaut, um mit allem fertig zu werden. Mit anderen Worten: Wenn sich die Band morgen auflösen sollte, wäre das schon bitter, aber … dann fängt man mit einer neuen an, macht etwas anderes. Wir alle haben Freunde.

Nehmen alle den Rock’n’Roll zu ernst?

Cobain: Viel zu ernst. Die Leute projizieren alle möglichen Erwartungen in ihn hinein. Sie glauben, er wäre ein Medium, um politisch aktiv zu werden. Dabei sollte er nicht mehr sein als Background-Musik.

Heißt das, dass er dir persönlich nie allzu viel bedeutet hat?

Cobain: Mein Gott, Musik hat mein Leben völlig verändert. Durch Punk-Rock sind mir so viele Dinge erst klar geworden. Er erinnerte mich daran, dass ich so etwas wie eine Identität habe, letztlich schon immer gehabt habe. Mein gottverdammtes Leben änderte sich schlagartig, als ich die Musik zum ersten Mal hörte. Insofern ist sie natürlich elementar wichtig, es ist nur so … (lacht), dass die Leute in ihr Dinge zu erkennen glauben, die einfach nicht da sind.

Kannst du dir vorstellen, was aus dir geworden wäre, wenn du nicht auf die Musik gestoßen wärest?

Cobain: Ich wäre in jedem Fall ein viel depressiverer Mensch geworden. Ich hätte mir vermutlich etwas angetan. In jedem Fall wäre ich nicht in einer Werkstatt gelandet, um Autos zu reparieren. Da bin ich mir ganz sicher.

Zwanzig Jahre später muss man sich wieder ins Gedächtnis rufen, wofür Nirvana 1991 eigentlich standen. Die Band, die heute alle kennen, war jedenfalls nicht die gleiche wie damals. Inzwischen sind Nirvana der Gegenstand von tiefschürfenden Filmen und Büchern, von akademischen Diskursen und musealen Ausstellungen (wie gerade im „Experience Music Project“ in Seattle). Nirvana mussten herhalten für allen erdenklichen Schnickschnack – von Videospielen und Comics bis zu Puppen und Mode. Beim Reading-Festival trug Cobain ein „Sounds“-T-Shirt, das ich ihm im September 1990 geschenkt hatte. Es war nicht gerade ein ästhetisches Meisterwerk, sondern wurde von dem „Sounds“-Grafiker auf die Schnelle rausgehauen. Trotzdem freute sich Kurt wie ein Schneekönig – und trug es mehrfach in der Öffentlichkeit. Ich verstand es als eine solidarische Geste für eine Zeitschrift, die sich schon frühzeitig für Nirvana stark gemacht hatte – und im April 1991 eingestellt wurde. Niemand damals fand „Sounds“ cool, doch inzwischen ist selbst dieses Shirt – wie alles, mit dem sich Cobain identifizierte – ein gefragtes Nostalgie-Objekt geworden. 2009 kam ein Reprint auf den Markt und wurde beworben mit dem Slogan: „An exclusive as worn by Kurt Cobain. Featuring the logo of classic ’70/ ’80/early ’90s music magazine Sounds, this is a real find for Nirvana and Cobain fans.“

Eine Winzigkeit, die symptomatisch ist für den Wahnsinn, mit dem die Band konfrontiert wurde. Und trotzdem schafften sie es, mit Nevermind den Gang der Rockmusik zu verändern – ästhetisch wie kommerziell. Sie gaben dem Massenpublikum etwas, das nicht unbedingt radikal, aber in jedem Fall authentisch und anders war. Der konservative Mainstream sah sich plötzlich konfrontiert mit Strömungen in der amerikanischen Kultur, die mit linker Politik und Feminismus sympathisierten und den bestehenden Machtmechanismen und konventionellen Vorstellungen von „Erfolg“ mit ausgeprägtem Misstrauen begegnaeten. So unterschiedliche Bands wie Bikini Kill und The Jesus Lizard konnten plötzlich Zuhörer finden. Mithilfe von Fanzines, autonomen Radiosendern und Veranstaltungsorten entwickelte sich ein Underground-Netzwerk, das einen radikal alternativen Lifestyle propagierte.

Vielleicht stand dieser Paradigmenwechsel ohnehin an, aber er wäre ohne Nirvana sicher weniger vehement ausgefallen. Wie alle Revolten wurde auch diese ausgenutzt, unterwandert und kommerzialisiert. Hört man heute Nirvana aufs Neue, beschleichen einen gemischte Gefühle – ganz so, wie wenn man liest, dass Grohl und Novoselic auf dem neuen Foo-Fighters-Album nun wieder zusammenspielen. Oder wenn man hört, dass Kathleen Hanna neulich einem New Yorker Publikum erklärte, warum sie „Kurt smells like Teen Spirit“ auf die Wand von Cobains Apartment gepinselt hatte – um dann den Song zu singen, den Nirvana uns allen vermacht hat. Man kann nur hoffen, dass sie es so tun, wie er es sich damals vorgestellt hat.

Cobain: Ich fragte meine vier Jahre alte Schwester: „Was ist das größte Problem in der Welt, Brianne?“ Und sie sagte: „Die Leute müssen sich mehr konzentrieren.“ Es hat mich umgehauen! Sie wird bestimmt einmal etwas wirklich Wichtiges werden … und ich meine damit nicht den amerikanischen Präsidenten. (lacht) Ich bin davon überzeugt: Wer glaubt, den kapitalistischen Moloch ignorieren zu können, ist auf dem Holzweg. Man muss ihn ausbeuten, man muss ihn vergewaltigen – genauso, wie er dich vergewaltigt.

Großartig – eine Welt voller Vergewaltiger.

Cobain: Aber zumindest bist du aktiv und kämpfst in diesem Moment. Ich glaube nicht, dass die eigene kleine Welt dadurch besser wird, dass man sich dieser Optionen beschneidet. (lange Pause, dann ein Lächeln) Ich denke, „Empathie“ ist ein wirklich schönes Wort. Keith Cameron

„Die Leute rasteten komplett aus!“

Ex-Nirvana-Schlagzeuger und Foo-Fighters-Gründer Dave Grohl erinnert sich an die Revolution von 1991.

Smells Like Teen Spirit“ entstand im Januar oder Februar 1991. Ein Kumpel aus einer Cover-Band hatte einen Schuppen mit einem provisorischen 8-Track-Studio, das wir für drei, vier Monate mieteten. Dort wurde der größte Teil von Nevermind geschrieben.

Die Proben begannen immer mit wildem Improvisieren, woraus sich Songs wie „Drain You“ oder „Teen Spirit“ herausschälten. „Teen Spirit“ gefiel mir erst nicht sonderlich. Der Song entwickelte sich aus einem der losen Jams, die wir mit einem Ghettoblaster aufnahmen, wir kamen immer wieder drauf zurück, weil man die Gitarrenmelodie nicht mehr aus dem Kopf bekam.

Wir spielten noch eine Show in Seattle, weil wir Sprit-Geld brauchten, um ins Studio nach Los Angeles zu fahren. Als wir den Song zum ersten Mal spielten, rastete das Publikum geradezu aus, die Nummer kam bei den Leuten offensichtlich spontan an.

Nachdem Nevermind im Kasten war, hatte ich eigentlich auf „In Bloom“ oder „Lithium“ als Single getippt, während „Smells Like Teen Spirit“ eher ein durchschnittlicher Albumtrack zu sein schien. Aber schon früh war er einer von (Produzent) Butch Vigs Favoriten. Es gab keine Träume von dem großen, weltweiten Erfolg, weil das komplett unrealistisch war. Ich hatte die Hoffnung, „Teen Spirit“ würde es auf die Playlist von MTVs „120 Minutes“ schaffen – um anschließend vielleicht mit Sonic Youth auf Tour gehen zu können. Eine „Hit-Single“ war jenseits unserer Vorstellungsmöglichkeiten.

Als das Album im September 91 erschien, waren wir unterwegs, spielten aber nur in Klitschen mit 200, 300 Leuten. Dann kamen wir zurück ins Hotel, schalteten die Glotze ein, sahen unser Video auf MTV – und konnten es kaum glauben, wo wir doch gerade in diesem winzigen Club gespielt hatten. Doch die Clubs wurden immer größer, weil immer mehr Leute durch das Video auf uns aufmerksam wurden.

Die offizielle Tournee begann im Opera House in Toronto vor 500 oder 600 Zuschauern. Für mich persönlich war das schon der Durchbruch, der größte Erfolg meines Lebens, schließlich hatte ich vorher mit (Grohls früherer Band, Anm. d. Red.) Scream vor vielleicht 32 Leuten gespielt. Aber als das Video dann wirklich einschlug, spielten wir in einer 500er-Halle, und vor dem Eingang standen weitere 500, die nicht reinkamen. Wenn wir in unserem Van vorfuhren – wir drei, Krists Frau Shelli, unser Monitortechniker Miles und Tourmanager Monte Lee Wilkes -, schien noch alles normal, aber abends war die Hölle los. Und dann fiel uns auch auf, dass im Publikum plötzlich Normalos waren: „Was zum Teufel hat dieser Blender hier verloren?“ Uns dämmerte, dass durch das Video plötzlich auch einige seltsame Zeitgenossen angelockt wurden. Und als wir auf die Bühne gingen, wussten wir, dass unsere ganze Welt über Nacht auf den Kopf gestellt worden war. Holy shit, diese Leute rasteten ja komplett aus!

„Teen Spirit“ etablierte die Laut-Leise-Dynamik, auf die wir später regelmäßig zurückgriffen, insofern wurde dieser Song die Visitenkarte der Band. Aber es war wohl das Video, das daraus einen Hit machte. Wenn die Kids den Song im Radio hörten, dachten sie vielleicht: „Klingt nicht übel“, aber als sie dann das Video sahen, hieß es: „Verdammt cool. Diese Jungs sehen ganz schön fertig aus – so als wollten sie ihre gottverdammte Highschool in Schutt und Asche legen.“ Ich glaube schon, dass das die Erklärung für den Erfolg ist.

Ob ich deshalb glaube, dass es die größte Single aller Zeiten ist? Natürlich nicht. Ich glaube nicht mal, dass es die beste Nirvana-Single ist. Und verglichen mit „Revolution“ von den Beatles oder „God Only Knows“ von den Beach Boys? Da kann ich nur lachen. Sicher, „Teen Spirit“ war für uns ein Einschnitt …, aber ernsthaft: Es gibt Besseres.

Dreckig, laut, lärmig – die Erben des Grunge

Eine ganze Szene junger Slacker, aufgewachsen unter brennender Sonne und virtueller Dekadenz, wütet heute die amerikanische Westcoast auf und ab. Sie kennen ihre Vergangenheit, den ganzen Katalog: 60s, Surf, Grunge, Sonic Youth, Black Sabbath, Neil Young – alle, die mal laut waren und wild. Auf der Nord-Süd-Achse thront Seattle, man streift San Francisco, zieht durch Los Angeles, bis in San Diego schließlich der Strand am größten scheint. Zentrale Orte, Bars und Clubs, Einflüsse und Vorbilder schaffen einen gemeinsamen Horizont und vernetzen die lokalen Epizentren. Geografische Mitte dieses Kosmos ist The Smell in Downtown Los Angeles. Hier haben sie alle gespielt, sich gegenseitig gesehen, gefeiert. Eintritt haben selbst Minderjährige, es gibt offiziell keinen Alkohol, keine Drogen. Teenager setzen sich ins Auto, raus aus der engen Vorstadt. No Age, die aus dem Punkrock in drückenden Wellen zu Sonic Youth gleiten, wurden hier groß und erscheinen heute auf dem Nirvana-Label Sub Pop. Neben den verschmiertesten Toiletten und auf einer Bühne, die eigentlich ein Teppich ist, konnte die Band Gowns noch wirkliche Noise-Experimente arrangieren. Und das, bevor sich die allerorts gefeierte Erika M. Anderson alias EMA nach Portland aufmachte, um sich anstelle des Vollbarts Achselhaare wachsen zu lassen. Mika Miko, Silver Daggers, The Mae Shi, Abe Vigoda, eine endlose Liste lokaler Helden.

In San Diego befragt man Wavves‘ Wunderkind Nathan Williams nach seinen liebsten Läden und erhält The Smell als Antwort. Sein erstes Album: Bleach. Was dabei herauskommt, klingt, als spielten Sonic Youth mit drei Akkorden Smiley Smile neu ein, nur damit alle Eltern noch einmal spüren, was Zorn bedeutet. Am Strand reitet Williams seine Mustang in Richtung Sonne: Dem „King of the Beach“ werden Drogencocktails gereicht, er beleidigt sein Publikum, um im Hyperspace nur noch mehr verehrt zu werden, wechselt Bandmitglieder wie ausgetretene Chucks. Die beliebte Koinzidenzkette dieses subkulturellen Klimas führt Williams für die Aufnahmen zum letztgenannten Album an die Backingband des 2010 verstorbenen Jay Reatard.

Als dieser mit seinem frühen Tod ein riesiges Loch in die nach Punk und wilder Nähe strebende Szene reißt, kürt man schnell Ty Segall zum notwendigen Nachfolger. Auch er wächst in und mit The Smell auf, verbringt viel Zeit in diesem kreativen Meltingpot zwischen Galerien und Obdachlosenviertel Skid Row. Irgendwann zieht er nach San Francisco und sucht seinen Platz in einer familiär vernetzten Musikszene. Der nach harschen Protesten mittlerweile nur noch online ausstrahlende Radiosender KUSF funktioniert jahrelang als Alternativkanal, lokale Bands und Veranstaltungen abseits des Internets einer unabhängigen Gemeinde vorzustellen. San Francisco ist wesentlich kleiner als L.A. und wird durch Freak-Folk-Künstler wie Joanna Newsom oder Devendra Banhart dominiert. Auf Konzerten wird geflüstert und gesessen, während es den jungen Wilden unter den Nägeln brennt. In reaktionärem Gestus reißen Bands wie Sic Alps, Thee Oh Sees, Sonny Smith die Verstärker bis zum Anschlag auf. Bilden eine neue Szene, veranstalten wieder brennende Konzerte, helfen sich gegenseitig bei Aufnahmen, tauschen Bandmitglieder und experimentieren mit maßlosem Lo-Fi-Krach und alten Achtspurgeräten der Firma Tascam. Gleichzeitig wird die Nähe zu Seattle immer deutlicher, die Vorbilder treten klar hervor. Mikal Cronin, der mit Segall zwischen unmöglichem Quatsch bis drängendem Frontalangriff schon alles in irgendeinem Keller produziert hat, bereitet schon jetzt auf sein am 20. September als Download oder Import erscheinendes eponymisches Album vor. Die Single „Apathy“ hätte nicht nur des Titels wegen leicht hinter „Drain You“ auf Nevermind Platz gefunden – wäre man nicht jahrelang vom großen Bruder mit Blur belästigt worden.

Auch heute geht die Tendenz an der Nordpazifik-Küste hin zum rohen Material. Der Vorwurf, einfaches Songwriting durch Lo-Fi-Charme zu kaschieren, wird durch brachiale Lautstärke an die Wand gedrückt. Es existieren sogar noch Kassetten, die bespielt und weitergereicht werden. Das mag reine Protesthaltung sein, aber immerhin ist es eine Haltung, die auf das physische Erlebnis hinaus will; der Kontrast wäre ein virtuelles. Es soll wieder richtig knallen im Keller. Die Kids gehen surfen, wollen danach einen Verstärker durchbrennen sehen und mit Bierdosen das Feuer löschen.

Henrik Boerger

Dichtung / Wahrheit

Courtney Love ist schuld an Kurt Cobains Tod

Dichtung und wahrheit: Darüber wird man noch Jahrzehnte streiten. Zumindest Dokumentarfilmer Nick Broomfield spricht sich in seinem Film „Kurt & Courtney“ zwingend für diese These aus. Ansonsten lässt sich festhalten, dass Courtney vielleicht Kurts Yoko Ono war – aber definitiv keine Yoko Ono ist.

Kurt Cobain hat Pearl Jam gehasst

Wahrheit: Cobain empfand Pearl Jam als abgehalfterte Stadionrocker mit Ziegenbärtchen. Jeff Ament kommentierte empört, dass Sub Pop ohne seine ehemalige Band Green River niemals Bands wie Nirvana hätte veröffentlichen können. Was nur die halbe Wahrheit ist: Ament und Stone Gossard hatten Green River aufgelöst, um mit der Glamrockband Mother Love Bone den großen Durchbruch zu erlangen, während Mark Arm und Steve Turner mit ihrer neuen Band Mudhoney Sub Pop die Treue hielten (und Nirvana ermöglichten). Später schloss Cobain zumindest mit Eddie Vedder seinen Frieden. Er mochte aber auch Billy Ray Cyrus. Behauptet der.

Kurt Cobain hat seinen Selbstmord auf In Utero angekündigt

Dichtung: Im Nachhinein lässt sich alles in Songtexte hineinlesen. Aber abgesehen davon, dass Cobain ein labiler, an Erfolg und Leben leidender Künstler war, der aus seinem Herzen keine Mördergrube machte, ist es auszuschließen, dass der Suizid von langer Hand geplant war. Übereinstimmend berichten Freunde und Bekannte davon, wie sehr er seine Tochter vergötterte und sich darauf freute, sie aufwachsen zu sehen.

Buyer’s guide

Bleach (1989)

Der Grunge. Die beste Platte, die man für 606 Dollar machen kann: runtergestimmte Gitarren, Riff auf Riff, und darüber der Gänsehaut machende Gesang von Kurt Cobain, der schon jetzt entdeckt hat, dass seine Stimme sein bestes Instrument ist. Die heilige Dreifaltigkeit des Black (Black Sabbath, Black Flag, Big Black) trifft auf den Trademark-Sound von Sub Pop. Und zwischen der bleiernen Schwere von „Floyd The Barber“ und „Negative Creep“ blitzt bereit der pure Pop auf: „About A Girl“.

Nevermind (1991)

Der Urknall. The record that broke punk. Von Produzent Butch Vig im wahrsten Sinne entschlackt und angetrieben von dem entfesselt trommelnden Neuzugang Dave Grohl, schreiben Nirvana Musikgeschichte. Kurt Cobain beendet die Achtzigerjahre, stößt Michael Jackson en passant vom Chartsthron und öffnet dem amerikanischen Rockuntergrund die Türen zum Mainstream. Jeder Song ist ein Hit und riecht nicht nur nach Teen Spirit, sondern auch so inspiriert und frisch wie Rockmusik seit den Clash nicht mehr.

Incesticide (1992)

Der Ramsch. Man muss das Schwermetall schmieden, solange es heiß ist (und den Bootleggern eine lange Nase drehen): Odds and Sods von der Resterampe, um die gewaltige Nachfrage nach Nirvana jedweder Art zu stillen. Ein paar B-Seiten, eine Peel-Session, aus gutem Grund bislang Unveröffentlichtes – und ein überdauerndes Juwel: „Sliver“ war die Single, die Nirvana noch vor „Teen Spirit“ zu Stars hätte machen müssen.

In Utero (1993)

Die Härte. Gegen den erbitterten Widerstand der Plattenfirma setzen Nirvana die Flucht in den Lärm durch. Sicher, „Heart-Shaped Box“ oder „Dumb“ sind purer Pop, aber Cobain macht es seinen zuckersüßen Melodien nicht leicht, gegen den Berlin Wall of Sound von Steve Albini anzukommen. Dazu: verstörende Texte am Rand der Selbstzerfleischung („Serve the Servants“), Noise im Quadrat („Scentless Apprentice“). Und Titel wie „Rape Me“. Willkommen im Mainstream des Jahres 1993.

Unplugged In New York (1994)

Die Zartheit. Ungeschützt von meterdicken Lärmkaskaden und Grohls Powerhouse-Drumming, entblättert sich Kurt Cobain und offenbart seine fragile, geplagte Seele. In intimem Ambiente werden Bowie, die Meat Puppets, die Vaselines und Leadbelly gecovert. Das darf jetzt auch der Cappuccino-Crowd gefallen, die die nachhaltig betörende Schwermut und schicksalsschwangere Stimmung des Sets geflissentlich ignoriert. Ein Abschiedsbrief, in Schmerz gegossen.

From The Muddy Banks Of The Wishkah (1996)

The sound and the fury. Ausgewählte Liveaufnahmen von 1993 und 1994. Ein paar der offensichtlichen Hits werden ausgeklammert, dafür legt man Wert auf obskurere Titel. Die Erkenntnis bleibt nicht aus, dass Nirvana zwar eine Liveband waren, auf einer Liveplatte aber längst nicht das transportiert wird, was Cobain, Novoselic und Grohl als Liveband ausgezeichnet hat.

Nirvana (2002)

Der Ausverkauf. Courtney Love brauchte Geld, und Grohl und Novoselic konnten die seelenlose Best-of-Compilation nicht verhindern. „You Know You’re Right“, einziger zuvor unveröffentlichter Song, ist großartig. Ansonsten so schlicht wie das Cover.

With The Lights Out (2004)

Die Schatztruhe. Das Imperium schlägt zurück. With The Lights Out ist der Sampler, der Nirvana hätte sein sollen. Outtakes, Liveaufnahmen, Unveröffentlichtes auf drei CDs und einer DVD, die keine Wünsche offen lassen. Vieles will man kein zweites Mal hören, aber allein die Coverversionen von Kiss, den Wipers und The Velvet Underground sind die Investition wert.

Live At Reading (2009)

The sound and even more fury. Der legendärste Auftritt von Nirvana, auf der Höhe des Ruhms, als Headliner des legendären Festivals von Reading. Vermutlich nur für Komplettisten, aber die bekommen die ganze Energie und den ungewöhnlichen Humor der Band in all seiner Glorie.

Nirvana

Inspiriert von

The Beatles

Pixies

Melvins

The Wipers

Black Flag

Sonic Youth

Hat inspiriert

Radiohead

Hole

Bush

Creed

Stone Temple Pilots

Sonic Youth

Nutzlose Information

Nirvana spielten ihr allerletztes Konzert am 1. März 1994 im Flughafen Riem in München. Ein zweiter Termin dort musste aufgrund des Gesundheitszustands von Cobain zunächst verschoben und schließlich abgesagt werden. Led Zeppelin hatten am 5. Juli 1980 in München in der Olympiahalle ihr vorletztes Konzert gespielt (das letzte fand zwei Tage darauf in Berlin statt).

3 Songzitate für die Ewigkeit

„Here we are now, entertain us“ („Smells Like Teen Spirit“) Nirvana stellen das komplette Gefüge der Unterhaltungsindustrie infrage.

„I’m so tired I can’t sleep/ I’m a liar and a thief“ („Pennyroyal Tea“) Kurt klaut bei John Lennon – und bevor man sich darüber aufregen kann, gibt er es auch schon zu.

„Teenage angst has paid off well/ Now I’m bored and old“ („Serve The Servants“) Fickt euch à la Kurt Cobain

Platzpatrone

Eingesessenen Platzhirschen wie Aerosmith und Kiss war es unverständlich, dass Kurt Cobain darunter litt, ein Rockstar zu sein, und nicht in die ewige Rock’n’Roll-Party einstimmte. Zur Strafe gingen ihre Plattenverkäufe während der Existenz von Nirvana auf ein Minimum zurück.

WER „SMELLS LIKE TEEN SPIRIT“ NIEMALS HÄTTE COVERN DÜRFEN

David Garrett / Miley Cyrus / Paul Anka / Mambo Kurt / Warp Brothers/ Ituana

WER „SMELLS LIKE TEEN SPIRIT“ MIT ANSTAND GECOVERT HAT

Tori Amos / Patti Smith

Chartplatzierungen

Singles

(deutsche Charts)

2 Smells Like Teen Spirit

22 Come As You Are

Album

(deutsche Charts)

24 Bleach

3 Nevermind

40 Incesticide

14 In Utero

6 Unplugged in New York

38 From the Muddy Banks of the Wishkah

5 Nirvana

48 With the Lights Out

66 Live at Reading

8 x Nirvana for Dummies

Nirvana gelten als wichtigste Rockband der letzten 25 Jahre. Mit ihrem zweiten Album Nevermind verhalfen sie dem amerikanischen Rock-Untergrund zum Durchbruch und machten Grunge Rock hoffähig: Angetrieben von dem Sensationserfolg ihres Hits „Smells Like Teen Spirit“, verkaufte sich das Album völlig überraschend weltweit mehr als 20 Millionen Mal. Vier Monate nach der Veröffentlichung verdrängte Nevermind Michael Jacksons Dangerous vom ersten Platz der US-Charts.

Sänger und Gitarrist Kurt Cobain hatte die Gruppe Mitte der 80er-Jahre mit seinem Freund Krist Novoselic gegründet. 1990 stieß Dave Grohl von der Punkband Scream zum festen Lineup der Band. Davor spielten unter anderem die Drummer von den Melvins und Mudhoney bei Nirvana.

Cobain gilt als „Sprachrohr seiner Generation“ – auch wenn er auf den Titel weder Wert legte noch sich damit wohlfühlte. Im Zuge des Erfolgs von Nirvana entwickelte sich Seattle zum neuen Mekka für Rockfans. Weitere Erfolgsbands aus der Stadt im amerikanischen Nordwesten waren damals Soundgarden, Pearl Jam, Alice in Chains und Mudhoney.

Während der gesamten Bandgeschichte hatte Kurt Cobain mit akuten Magenschmerzen zu kämpfen. Drogenprobleme und Depressionen kamen hinzu. Nach einem misslungenen Selbstmordversuch während der letzten Europatournee der Band im März 1994 erschoss sich Cobain am 8. April 1994 im Gartenhaus seines Anwesens.

1992 heiratete Cobain die Rockmusikerin Courtney Love, die mit ihrer Band Hole erste Erfolge feierte. Gemeinsam haben sie eine Tochter, Frances Bean, die am 18. August 1992 auf die Welt kam.

Nach dem Ende von Nirvana lagen sich Courtney Love und die verbliebenen Bandmitglieder jahrelang juristisch in den Haaren, was die Auswertung des Katalogs der Gruppe anbetraf.

Dave Grohl wechselte vom Schlagzeug an die Gitarre und gründete noch 1994 seine neue Band, Foo Fighters. Sie gilt seither als eine der erfolgreichsten Rockgruppen der USA. Novoselic hatte mit seinem Folgeprojekt Sweet 75 weniger Glück, machte sich aber einen Namen als engagierter Politaktivist.

Die Idee zu „Smells Like Teen Spirit“ hatte Kurt Cobain, als seine Freundin Kathleen Hanna in Seattle den Spruch „Kurt smells like Teen Spirit“ prägte. „Teen Spirit“ ist ein in den USA bei Jugendlichen populäres Deodorant.