Pop & Art


Pop-Art-Papst Andy Warhol stand Pate, als Velvet Underground mit kultivier- tem Krach die Rockmusik auf den Kopf stellten. Nach über 20 Jahren stehen die lange verfeindeten Quer- denker Lou Reed, John Cale, Maureen Tücker und Sterling Morrison wieder gemeinsam auf der Bühne — ein Kult kehrt zurück.

Wir haben es hier nicht mit einer Wiederauflage zu tun. so ein ziemlich unwirscher Lou Reed, sondern mit einer Fortsetzung. Oder, wie er es vergangenen Monat in London mehr als 10.000 Zuhörern erklärte, dies ist eine Band, die nur alle 25 Jahre zusammenkommt. Bei Velvet Underground sind die Pausen zwischen den Konzerten eben ein bißchen länger, ganz einfach. Keine große Geschichte. Natürlich ist das nichts weiter als ein Trick, um hochgesteckte Erwartungen ein bißchen herunterzuschrauben. Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, daß Band-Reunions zwar gut für die Bankkonten, aber schlecht, sogar sehr schlecht, für den Ruf der Beteiligten sind. Jefferson Airplanes Tour im Jahre 1989 zerstörte alles, was von der Aura dieser Psychedelik-Veteranen noch übriggeblieben war. Die Abschiedsvorstellung der Who (mit einem halb tauben Pete Townshend, der seinen Windmühlen- ¿

arm über einer akustischen Gitarre kreisen ließ) war eine mehr als zynische Angelegenheit. Und auch der Neuauflage von Television letztes Jahr war nur ein kurzes Leben beschieden — daß die einstigen Speerspitzen der New Yorker New-Wave-Bewegung wieder zusammengefunden hatten, war einem Großteil des Publikums schlichtweg entgangen… Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Um es kurz zu machen: Wenn man nicht ein hoffnungslos sentimentaler Zeitgenosse ist, sind Reunions fast immer desillusionierend. Aufgewärmter Kohl schmeckt eben nicht mehr frisch. Trotzdem, die plötzliche Rückkehr von Velvet Underground auf die Live-Bühnen kommt zumindest überraschend. Nur ein aus dem Grabe auferstandener Jim Morrison im Kreise seiner Doors hätte in der abgeklärten Rockkritiker-Gemeinde für mehr Entgeisterung sorgen können. Und es gab nicht wenige unter den hartgesottenen Pressekämpen, die Lou Reed, John Cale, Sterling Morrison und Maureen „Moe“ Tucker insgeheim die Daumen drückten, hoffend, daß ihnen wenigstens diese „Legende“ erhalten bleiben möge. Waren sie nicht schon zu lange auseinander, um sich noch einmal überzeugend zurückmelden zu können? Maureen Tukker, fünffache Mutter, ist das einzige Bandmitglied unter 50. Wenn Velvet Underground ihr großes Comeback verpatzen, sind auf einen Schlag alle Bewertungskriterien für die Schublade „Post-Punk“ (und außerdem für eine ganze Menge „Prä-Punk“) ungültig. Jahrzehntelang diente das Markenzeichen VU als Maßstab, an dem mürrische, aufmuckende, selbstzerstörerische junge Bands gemessen wurden, und zwar genau deshalb, weil so viele dieser Bands es darauf anlegten, genauso wie Velvet Underground zu sein.

Brian Eno bemerkte in den 70ern einmal, daß zwar nicht viele Leute die Platten der Velvet Underground beim ersten Durchgang gekauft hätten, daß aber jeder, der es tat, daraufhin eine Band gründete. Sterling Morrison sieht das ähnlich: „So viele Bands haben ihre Karriere damit gestartet, daß sie unsere Sachen spielten. Warum können wir das zur Abwechslung nicht auch ?“ Eine berechtigte Frage. Bevor John Cale 1965, auf dem Weg zur Bandprobe, in einem New Yorker Rinnstein ein Taschenbuch mit dem Titel The Velvet Underground fand, traten die künftigen Velvets unter ständig wechselnden Namen in den Bars und Galerien der Stadt auf: The Primitives, The Warlocks, The Falling Spikes … Ein merkwürdiger Haufen waren sie in jedem Fall, egal mit welcher Identität. Besonders die beiden Köpfe der Gruppe, Reed und Cale, schienen eigentlich überqualifiziert für die Arbeit in einer Rock ’n‘ Roll-Band.

Lou Reed hatte Journalismus und kreatives Schreiben an der New Yorker Syracuse University studiert und war dort in den Bannkreis des US-Dichters Delmore Schwartz geraten. Schwartz (dem die Velvets später den Song „European Son“ widmeten) war ein egozentrischer, paranoid-depressiver Alkoholiker, der nur von seiner Liebe zur Poesie am Leben gehalten wurde — insbesondere seiner eigenen, die er mit einer Stimme vortrug, deren Ausdruckslosigkeit und Gesprächscharakter dem für Lou Reed typischen „Talking Blues“-Sprechgesang nicht unähnlich ist. Schwartz verschmähte die abstrakte, symbolische Sprache seiner dichtenden Zeitgenossen; er bevorzugte einen realistischen, „enthüllenden“ Stil und bezog die Themen dafür aus seinem unmittelbaren Lebensumfeld. Auch in diesem Punkt ist sein Einfluß auf Reeds Arbeit nicht zu verkennen. Schwartz half Reed, einige seiner Gedichte und Geschichten zu veröffentlichen, aber in Lous Fall zog die Literatur schließlich den kürzeren. Schon 1957, im zarten Alter von 13 Jahren, hatte Reed mit seiner ersten Band, den Shades, eine Single aufgenommen, betitelt „So Blue“. Damals gab es für ihn nichts anderes als Doo-Wop und frühen Rhythm ’n‘ Blues. Anfang der 60er folgte er dann Ornette Colemans Quartett durch die New Yorker Jazzclubs und träumte kurzzeitig davon, selbst Free Jazz zu spielen. Diese Pläne scheiterten zwar an mangelnden technischen Fähigkeiten, aber die furiosen, Feedback-strotzenden Gitarren-Improvisationen, mit denen Reed auf den VU-Alben ¿

glänzt (merkwürdigerweise fast nie auf seinen eigenen) sind eine Art „Rock-Übersetzung“ der Free-Jazz-Philosophie.

Auf der Suche nach einem Job im Musikgeschäft landete Reed als angestellter Songschreiber bei Pickwick Records, wo er mit Gitarre und Notizbuch saß und verzweifelt versuchte, so etwas wie einen Hit zu komponieren. Vielleicht war es die frustrierende Banalität der zuckrigen Gefühlswelt des Pop, an der er sich dort orientieren mußte, die zu der radikalen Anti-Sentimentalität seiner Velvet-Texte führte. Die schicksalsträchtige Begegnung mit John Cale, einem sehr freien Geist (gefährlich freien, wie manche sagen), trug jedenfalls sicher zu Reeds Selbstbefreiung bei, der nun den Sprung ins kalte Wasser wagte und begann, seine Gedichte und seine Musik zu einer Einheit zu verschmelzen.

Cale, 1940 in Wales geboren, war nicht nur klassisch ausgebildeter Bratschist, sondern auch ein talentierter Komponist, der mit Hilfe eines Bernstein-Stipendiums in die USA gekommen war, um mit Iannis Xenakis und Aaron Copland, führenden Vertretern der Neuen Musik, zu studieren. Diese Vorbilder mußten jedoch sehr bald einer engen Beziehung zu LaMonte Young weichen, dem extremsten unter den damals in der Kunstszene Lower Manhattans operierenden Komponisten. Cale war Mitglied von Youngs Performance-Ensemble „The Theatre Of Eternal Music“, berühmt-berüchtigt für Stükke, bei denen die Band — häufig mehrere Stunden lang — an einem einzigen, ohrenbetäubend verstärkten Akkord herumsägte. Young, mehr oder weniger Erfinder des Musikstils, der heute als Minimalismus bezeichnet wird, war besessen von der hypnotischen Wirkung der Wiederholung. Im Rock, mit seinen drei Akkorden kaum wertiger minimalistisch, ging es auch um Wiederholung. Der Intellektuelle Cale hatte noch nie etwas von Chuck Berry gehört, spürte aber, in seiner eigenen, seltsamen Art, eine gewisse Verwandtschaft zu den Urkräften des Rock.

Cale war es auch, der Angus McLise, Youngs Perkussionisten, in die Band brachte. Nach ein paar Konzerten drehte McLise durch und verschwand nach Indien (er starb 1979. im Alter von 41 Jahren, in Nepal an einer durch Drogenmißbrauch komplizierten Tuberkulose). Als Ersatz heuerten die Velvets einen ihrer ersten Fans an, eine stille, nicht gerade chansmatische junge Dame, die im trüben Licht der damaligen Light-Shows häufig für einen Jungen gehalten wurde. Ihr Name war Maureen Tucker. und sie spielte im Stehen, an einem Set aus Tambounnen und Mülltonnen-Deckeln. In offiziellen Band-Chroniken wird Maureen Tucker häufig unterbewertet; tatsächlich war ihr merkwürdig schnörkelloses Anti-Schlagzeugspiel eine Schlüsselkomponente des Velvet-Sounds. Um die mageren Gagen aufzubessern, arbeitete Maureen während ihrer gesamten Velvet-Karriere nebenher als Stenotypistin.

Komplettiert wurde die Besetzung durch Sterling Morrison, der vorher bei den mittlerweile vergessenen King Hatreds gespielt hatte und als Ktnks-Verehrer der „konventionellste“ Musiker in der Band war. Morrison war eigentlich für die Rhythmusgitarre zuständig, wechselte aber häufiger zum

Baß, wenn Cale — der offizielle Bassist — sich ans Keyboard setzte oder zu seiner elektrischen Viola griff.

Velvet Underground spielten den ersten Gig unter diesem Namen bei einem High-School-Tanzabend im November 1965 in New Jersey, und in den darauffolgenden Monaten gelang es ihnen, mit ihrer Philosophie der „Schönheit des Häßlichen“ — getragen von Reeds Texten, die den düsteren Seiten des Großstadtlebens Tribut zollten, und einem schizophrenen Sound, der ohne Vorwarnung von tauschend unschuldigem Garagenrock in einen apokalyptischen Klang-Mahlstrom umkippte — nahezu ihr gesamtes Publikum gegen sich aufzubringen. Das erste längeres Engagement im New Yorker Cafe Bizarre verloren sie, weil sie trotz eindeutiger Aufforderung, dies zu unterlassen, den kompromißlos bösen „Black Angel’s Death Song“ anstimmten. Einer der Zuhörer an diesem Abend war Pop-Künstler Andy Warhol, der die Band mit nach Hause nahm und sie dann bei Vorführungen seiner Filmserie Cinematique Uptight spielen ließ. Warhol wurde Manager der Band und schickte sie — Tagesgage 5 Dollar pro Kopf — mit seiner Multimedia-Show The Exploding Plastic Inevitable auf Tour durch die USA und Kanada. Zu diesem Zweck erweiterte er die Gruppe um Model/Sängerin/Schauspielerin Nico, geborene Christa Päffgen. Nico brachte ausgezeichnete Referenzen mit. Sie war in Filmen von Fellini und Warhol aufgetreten und konnte nicht nur mit einer Affäre mit Brian Jones, sondern auch mit einer eigenen, von Jimmy Page produzierten und in England veröffentlichten Single aufwarten. Außerdem hatte Bob Dylan, Gerüchten zufolge, seinen Song „I’ll Keep It With Mine“ für sie geschrieben. Ähnlich wie andere Angehörige des Warhol-Hofstaats war auch Nico in Szenekreisen eher berühmt fürs Berühmtsein als für irgendwelche besonders hervorstechenden Talente, aber Warhol mochte ihre Art, Lou Reeds Songs zu singen. Ihr deutscher Akzent verlieh den Texten seiner Meinung nach ein zusätzliches Quentchen Dekadenz.

Also begab sich die Truppe auf die Reise. Velvet Underground spielten mit dem Rücken zum Publikum und versuchten, das Feedback im Griff zu behalten, das aus den Verstärkern quoll. An den Wänden flickerten Filmbilder. Nico intonierte ihr gespenstisches, gefühlloses „Moon Goddess“, Tänzer wanden sich inmitten hölzerner Kreuze unter Peitschengeknall zu den sado-masochistischen Phantasien von Lous „Venus In Fürs“ („Shiny, shiny, shiny boots of leather/whiplash girlchild in the dark“‚). Die Show war Erfolg und Skandal zugleich, die Kritiker in zwei Lager gespalten. Diejenigen, die sich mit Warhols Müllkippen-Ästhetik identifizieren konnten, feierten die Tatsache, daß „die Blumen des Bösen mit den Exploding Plastic Inevitable zu voller Blüte gelangen“. Andere wiederum sahen in dem Unternehmen nichts weiter als tuntige New Yorker Szene-Theatralik in ihrer kalkuliertesten und abstoßendsten Form. Ralph J. Gleason vom San Francisco Chronicle, leidenschaftlicher Streiter für Grateful Dead. Jefferson Airplane, Quicksilver und sonnige Westküsten-Psychedelik im allgemeinen, haßte die Warhol-Re vue: „San Franciscos Hippie-Pärchen flohen in Scharen, ein ungläubiges , Wow!‘ auf den Lippen angesichts solchen Stumpfsinns. (…) Eine flaue Geschichte, wie sie nur aus Greenwich Village kommen kann (…) Die Musik nervte, Velvet Underground sind eine öde Gruppe, es gibt mindestens ein halbes Dutzend lokaler Bands, denen sie nicht das Wasser reichen können… “ und so weiter. Rückblickend ist schwer zu sagen, ob Warhols Protektion der Velvet-Karriere eher nützlich oder schädlich war. Diejenigen, die Warhol für einen Scharlatan hielten, unterstellten der Band die gleiche „Monotonie“ wie Andys Filmen. Vertreter der anderen Seite, die Warhol als Genie verehrten, rechneten ihm auch die Kreativität der Band als Verdienst an.

Am besten läßt sich Warhols Beitrag zum Aufstieg der Velvets verstehen, wenn man zwischen den Zeilen von „Songs For Drella'“ liest. Cales und Reeds 1989 erschienenem Tribut an ihren verstorbenen Sponsor. Warhol war trotz seines massiven Drogenkonsums in den 60ern ein Workaho lic, und seine Disziplin übertrug ¿

sich auf andere. „Wie viele Songs hast du diese Woche geschrieben, Lou?“ „Zehn. “ „Warum nicht fünfzehn?“ Für jemanden mit Reeds journalistischem Instinkt war die Begegnung mii der. verschrobenen Belegschaft von Warhols Factory ein Geschenk des Himmels: Diese Charaktere — glamourös, androgyn oder einfach kaputt — sollten seine Songs über Jahre hinweg bevölkern. Es gibt unzählige Velvets/ Warhol-Anekdoten, von denen einige sicher in dem Buch auftauchen werden, das Sterling Morrison gerade zur Veröffentlichung vorbereitet und das den kryptischen Titel „The Velvet Underground Diet“ trägt. Zum Beispiel die Geschichte von dem Psychiater-Kongreß, bei dem Warhol die Band auftreten ließ. Oder die von dem Schwein, das er anmalte (dem Schwein schien das nichts auszumachen), um Geld für den Kauf einer Maschine aufzutreiben, die Seifenblasen ins Publikum blies…

Auf dem Cover der ersten LP, „The Velvet Underground & Nico“, war ursprünglich nur Andy Warhols Name und das von Warhol gemalte Bild einer Banane zu sehen, unter deren „Schale“ sich eine phallische Frucht in fleischfarbenem Rosa verbarg — ziemlich gewagt für 1966. Warhol war zwar nominell Produzent der Platte, hatte aber noch weniger Ahnung von Studiotechnik als die Band. Tom Wilson, einer der wenigen schwarzen Toningenieure in der Rockbranche, bediente das Mischpult, während sich die Band hinter der Glasscheibe austobte. Trotz — oder vielleicht wegen — der äußerst rohen Aufnahmequalität ist „The Velvet Underground & Nico“ ein beeindruckendes Album. „The Black Angel’s Death Song“ und „Venus In Fürs“ mit ihren Motiven von Tod, Sex und Gewalt lösten schon einiges an Beunruhigung aus. aber der wirkliche Schocker war „Heroin“. Reed verherrlicht darin Drogen nicht, aber es wird deutlich, daß die Erklärung seines Protagonisten, — „/ have made a big decisionJTo nullify my life“

—, für ihn etwas existentiell Heldenhaftes hat. Man erinnere sich, es waren die Zeiten, in denen Hasch und Acid als „heilsame“ Drogen gepriesen und Blümchen an Polizisten verteilt wurden. Die Velvets hatten für derartige Hippie-Gefühlsduseleien nur Hohn und Spott übrig (Summer Of Love? – Nicht auf New Yorks Straßen, Baby!) und nahmen — mit Ausnahme von Moe — alle harte Drogen: Speed und Heroin. Damit hielten sie auch nicht hinterm Berg: „Im Waiting For The Man“ schildert das alltägliche Warten auf den Heroin-Lieferanten aus Harlem. und selbst in dem vordergründig harmlosen „Sunday Morning“ mit seiner von „Monday Monday Bassline geht es tatsächlich um jemanden, der frühmorgens mit einem Drogenkater vom Dom (einem der angesagten New Yorker Clubs in den 60ern) nach Hause krabbelt, während das brave Volk in die Kirche geht.

Das zweite Album, „White Light/ White Heat“, war noch lärmender und radikaler als das erste. Höhepunkt ist das siebzehn Minuten lange „Sister Ray“, eine beeindruckende Trommelfell-Attacke, über der Reed eine wirre Geschichte von Matrosen, Orgien und Spritzen erzählt, die bisher noch von niemandem vollständig entschlüsselt worden ist. Nico hatte die Band mittlerweile verlassen, um eine Solokarriere zu starten, von Warhol hatte man sich ebenfalls getrennt, und der neue Velvet-Manager Steve Sesnick versuchte, einen Keil zwischen Reed und Cale zu treiben. Sesnick glaubte, er könnte Reed zu einem Rockidol aufbauen, und Cales unberechenbare Experimentierlust stand ihm dabei im Wege. Tatsächlich war es genau diese Verbindung aus Cales avantgardistischer Eckigkeit und Reeds Songwriter-Qualitälen, die die Band so einzigartig machte, aber selbst die Kritiker sahen das zum größten Teil erst später ein. Für die

meisten war „White Light/White Heat“ nihilistisches, kakophones Chaos, und obwohl Velvet Underground heute als wichtigste New Yorker Band überhaupt angesehen werden, konnten sie 1967 und ’69 in ihrer Heimatstadt keine Gigs bekommen. Für das lokale Publikum war dieser walisische Typ mit der elektrischen Viola einfach einen Tick zu kompromißlos.

Zu guter Letzt gab Lou Steve Sesnicks Drängen nach. Er stellte Moe und Sterline ein Ultimatum: Entweder John geht, oder ich lose die Band auf. Beide ließen sich widerstrebend überzeugen, und Cale wurde gefeuert. An seine Stelle trat im Oktober 1968 Doug Yule, Folkrocker aus Boston, und die Velvets nahmen ihr drittes Album mit dem schlichten Titel „The Velvet Underground“ in Los Angeles auf. Sehr viel ruhiger als seine Vorgänger, mit Songs über Jesus und „beginmng to see the light“. enthielt „The Velvet Underground'“ zumindest einen Klassiker, die sanfte Ballade „Pale Blue Eyes“ (später R.E.M.’s Lieblings-Zugabenummer), aber die wenigen unentwegten Velvet-Fans in den USA proklamierten angesichts der relativ konventionellen Machart des Albums prompt den Ausverkauf der Band. Paradoxerweise — wenn man von Sesnicks Erwartungen ausgeht — verkaufte es sich noch schlechter als die beiden ersten Platten, verschaffte der Gruppe jedoch wenigstens einige Konzerte in New York. Wie diese klangen, kann man anhand der Low-Fi-Aufnahme „Live At Max’s Kansas City“ und dem klanglich besseren ,.Lou Reed With The Velvet Underground: Live 1969″ feststellen. Auf „1969“ blitzt hin und wieder die alte Magie auf, doch im großen und ganzen ist nicht zu überhören, daß die Velvets nach dem Abgang von Cale ziemlich zahm geworden waren. Danach gab es nur noch ein echtes VU-Album: „Loaded“, das erst erschien, als Lou Reed die Band schon verlassen hatte und zwei seiner am häufigsten gecoverten Songs enthält. „Sweet Jane“ (Lou schätzt vor allem die Version der Cowboy Junkies) und „Rock And Roll“. Die Velvets quälten sich, angeführt von Doug Yule, bis 1973 weiter und veröffentlichten mit Squeeze ein Album, das noch weniger Substanz hat als die beiden Kompilationen („VU“ und „Another View“), mit denen die Plattenfirma Verve aus Lou Reeds zweiter Karriere Profit schlagen wollte. Moe Tucker verabschiedete sich für ein Jahrzehnt aus dem Musikgeschäft, um ihre Kinder in Georgia großzuziehen, und trat erst auf Einladung einiger Velvet-inspirierter Bands, die Anfang der 80er für Schlagzeilen sorgten, wieder an die Öffentlichkeit: den Violent Femmes, bei denen sie für eine Live-Version von „Heroin“ einstieg, Jad Fair, Half Japanese und anderen Post-Punk-Bands, die „White Light/White Heat“ als ihre Bibel ansahen. Sterling Morrison begann, mittelalterliche Literatur an der Universität von Texas zu unterrichten, und packte im Urlaub ab und zu die Gitarre aus, um Auftritte mit lokalen Bands zu absolvieren. Seit neuestem betätigt er sich als Schlepperkapitän im Golf von Mexiko. Cale veröffentlichte eine Reihe qualitativ unterschiedlicher Alben, auf denen er sich mal als Guerilla-Rocker und dann wieder als Komponist der zeitgenössischen Klassik präsentiert. ¿

Lou Reed schließlich, pleite und desillusioniert, plante zunächst, die Gitarre endgültig an den Nagel zu hängen. Er nahm einen Job in der Buchhaltungsfirma seines Vaters an und addierte Zahlen. Dann kam dieser neue Popstar aus England, ein Typ namens Bowie, und sprach davon, wie die Velvet Underground sein Leben verändert härten. Das Publikum wurde neugierig. Wenig später fand sich Lou in England wieder, nahm ein Soloalbum auf, spielte das erste ausverkaufte Konzert seines Lebens im Rainbow Theatre in London. Und dann … naja, den Rest der Geschichte kennt man.

Das Comeback der Velvet Underground war, so Lou Reed, „eine Folge von Schnellzügen“. „Songs For Drella“ ebnete den Weg; es zeigte, daß Cale und Reed zusammenarbeiten konnten, obwohl die alten Konflikte weiter schwelten. Reed ist ein Kontrollfanatiker (Cale:

„Er interessiert sich nicht die Bohne für die Meinung anderer Leute. „), aber die Zeit hat bewiesen, wie effektiv seine Methoden sind. (Durch seinen Soloerfolg braucht er die Band weniger als die anderen.) Moe Tucker spielte bei Live-Auffiihrungen des Dreüa-Zyklus und trat auch auf Lous Album „New York“ in Erscheinung. Wahrscheinlich haben wir es nicht zuletzt ihren diplomatischen Fähigkeiten zu verdanken, daß Cale und Reed das Kriegsbeil begraben haben.

Alle vier Velvets waren 1989 anläßlich einer Warhol-Retrospektive in Paris zu Gast, wo sie ihr Vorzeigestück „Heroin“ vor geladenen Journalisten spielten („ein Alptraum“). Danach schworen sowohl Cale als auch Reed, daß es niemals eine Velvet-Underground-Reunion geben würde.

Moe Tucker, die mehr als jeder andere den wahren Geist des Garagen-Rock personifiziert, ging immer wieder auf Tour, mit einem Repertoire aus Velvet-Klassikern und ihren eigenen, witzigen Songs über die Frustrationen einer berufstätigen Mutter, und brachte eine Reihe liebenswert-dilettantischer Alben mit Titeln wie „Oh No, They’re Recording This Show“ heraus. Von 1991 an war Sterling Morrison Mitglied ihrer Tour-Band, und im vergangenen Jahr ließen sich auch Cale und Reed bei den Aufnahmen zu „I Spent A Week There The Other Night“ sehen. Auf einem Stück, „fm Not“, spielen tatsächlich alle vier Velvets (plus zwei Drittel der Violent Femmes!) zusammen: der Grundstein für die „Fortsetzung“ der Velvet-Underground-Geschichte war gelegt.

Es ist nicht leicht, eine „Legende“ zu sein. Man kann nur weitermachen oder mit Stil untergehen — beides ein fast unmögliches Unterfangen. Nico starb 1988 auf Ibiza, nachdem sie von ihrem Fahrrad gefallen war, ein banaler Abgang für einen früheren Warhol-Superstar. Andy selbst verschied nach einer relativ harmlosen Gallenblasen-Operation.

Und nun spielen die verbliebenen Velvets im Vorprogramm von U2, sehr zum Mißvergnügen des exklusiven, aber mittlerweile stark gewachsenen Velvel-Fanclubs („The Velvet Underground & Nico“ hat vor kurzem, nach 20 Jahren, endlich Goldstatus erreicht). Reed and Cale behaupten, eigentlich wären U2 die Vorgruppe der Velvets und man hätte nur die Reihenfolge vertauscht.

Das Pariser Konzert der Velvet Underground wurde gefilmt und aufgenommen. Demnächst wird es wohl ein Video und ein Doppelalbum geben, produziert von Reeds Gitarristen Mike Rathke. Daß ein Live-Album mit 25 Jahre altem Material irgendwelche neuen Erkenntnisse über die Gruppe liefern wird, ist ziemlich unwahrscheinlich, aber — wie einer von Reeds Freunden meint — zumindest ist es nicht schlecht, eine Velvet-Platte zu haben, die nicht so klingt, als wäre sie unter Wasser aufgenommen worden.

Wird die Gruppe lang genug zusammenbleiben, um neue Stücke zu schreiben? Das ist kaum zu erwarten. Vermutlich werden sie die Gage teilen (wer glaubt, es wären vier gleiche Teile, ist zu naiv für diese Welt) und wieder ihrer Wege gehen.

Moe meint, sie würde nicht einmal für eine Million Dollar mitmachen, wenn sie nicht sicher wäre, daß die Band es auf der Bühne bringt. Natürlich hat die materielle Seite trotzdem ihre Reize. Wie ein Sechser im Lotto, sagt sie.

Sie möchte ein Haus damit anzahlen. Und für ein neues Auto wird es wohl auch noch reichen.