Remix


S. 47 Remix: Eine Kulturgeschichte

S. 48 Interview: Erol Alkan, besser als das Original

S. 50 Die 100 besten Remixe

S. 58 Studiobesuch bei Soulwax

S. 60 Der kleine, schmutzige Bruder: Credit to the Edit

Original und Fälschung

Von Lee „Scratch“ Perry über Aphex Twin bis hin zu Erol Alkan. Die Geschichte des Remixes erzählt von der absoluten künstlerischen Freiheit.

Es war einmal ein mythenumrankter Produzent, DJ und Weirdo – eine der Figuren der „Intelligent Dance Music“ der Neunziger- und Nullerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Er hieß Richard D. James, seine Freunde aber nannten ihn Aphex Twin. Eines Tages erhielt er den Auftrag, ein Lied der amerikanischen Indie-Rocker The Lemonheads neu zu bearbeiten. Als die Zeit für die Abgabe ins Land gezogen war, schickte die Plattenfirma der Lemonheads einen Kurier. Aphex Twin aber hatte den Auftrag vergessen, der Remix existierte nicht. Also griff er nach einem Stapel DAT-Bänder, nahm wahllos eines heraus und überreichte es dem Kurier. Die Menschen von der Plattenfirma hörten sich die Musik an und wunderten sich sehr. Es war nämlich ein Gabba-Techno-Track, den Aphex Twin selbst produziert hatte, der überhaupt nicht so klang wie das Lied der Lemonheads. Auf Nachfrage versicherte Aphex Twin, dass alles seine Richtigkeit habe, er den Song einfach beschleunigt und Snaredrums hinzugefügt habe. Und wenn die Menschen von der Plattenfirma nicht gestorben sind, ist dieser „Remix“ noch heute unveröffentlicht.

Die Anekdote, die im Jahr 2003 anlässlich des Albums 26 Mixes For Cash vom Label Warp verbreitet wurde, ist zu schön, um unwahr zu sein. Sie sagt viel über das künstlerische Selbstverständnis von Richard D. James aus, vor allem aber über die Natur musikalischer Neubearbeitungen. Obwohl es sich dabei mehrheitlich um Auftragsarbeiten handelt, sind dem Remixer keine Grenzen gesetzt. Er kann in absoluter künstlerischer Freiheit agieren und auf Grundlage der Mehrspurbänder des Originals Elemente weglassen, Instrumente und Effekte hinzufügen. Die absolute künstlerische Freiheit schließt auch die Möglichkeit ein, keinen Ton des Originalsongs zu verwenden.

Der Aphex-Twin-„Remix“ der Lemonheads gehört in eine von zwei Grobkategorien: der Remix als künstlerische Ausdrucksform, der die musikalische Vision des Bearbeiters umsetzt. Die andere Funktion, die historisch begründete, stammt aus der Disco-Ära der Siebziger. Es ging dabei um die Aufbereitung bekannter Songs für die Tanzfläche mit mehr Bass und mehr Bassdrum, die dann „Special Disco Version“, „Dance Version“ oder „Club Mix“ genannt wurden, und es ging um die Verlängerung des Tanzvergnügens mit den „Extended Versions“. Was William S. Burroughs in der Literatur und Andy Warhol in der Kunst schon vorher betrieben hatten, erreichte die Musik – die Umdeutung und Dekontextualisierung bestehender Werke.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurden Remixer selten beim Namen genannt. House-Legende François Kevorkian etwa taucht bei seiner Bearbeitung des Kraftwerk-Songs „Tour de France“ lediglich im Kleingedruckten auf dem Label der 12-Inch auf. Das änderte sich ab den Neunzigern. Der Remix ist zu einer Kunstform geworden, die alle Zwischentöne der Grobkategorien von tanzbar bis künstlerisch berücksichtigen kann. Seither wird dem Remixer oft die gleiche Bedeutung beigemessen wie dem Schöpfer des Originals, manchmal sogar eine größere. 12-Inches mit Remixen von Carl Craig, Erol Alkan, Soulwax und Jamie XX sind sichere Blindkäufe. Der Remix ist die wahrhafte Kunstform im Pop, er erfährt seine Legitimation aus dem Wesen der Popkultur, in der vermeintlich Neues durch das Recycling von Altem entsteht. Die Grenzen zwischen Remix, Edit, Coverversion und Sample-basiertem Original-Track verschwimmen. Zum Beispiel „Barbra Streisand“ von Duck Sauce. In diesem Track wird das hochgradig wiedererkennbare Sample eines anderen Songs („Gotta Go Home“ von Boney M von 1979, das wiederum auf der Hookline des 1973er-Songs „Hallo Bimmelbahn“ der Band Nighttrain basiert) bis zum Exzess wiederholt. „Barbra Streisand“ gilt nicht als Remix oder als Coverversion, sondern als „neuer“ Track. Die Franzosen Justice haben bei ihrer Bearbeitung des Simian-Songs „Never Be Alone“ das gleiche Prinzip angewandt. Das Ergebnis, „We Are Your Friends“, gilt als Remix. Ihren Ursprung hat diese Rosinenpickerei in der Break-Kultur der frühen HipHop-DJs. Damals wurden die besten, memorabelsten Stellen bekannter Songs mittels endloser Wiederholung zum Basic-Track eines neuen Stückes. Vor HipHop und Disco waren es die jamaikanischen Reggae-Produzenten – allen voran Lee „Scratch“ Perry und King Tubby – die Ende der Sechziger-/Anfang der Siebzigerjahre mit der „Dubversion“ einen Vorfahren des Remixes popularisierten. Lee Perry gilt als Dub-Meister, er blendete die Gesangsspur von Reggae-Aufnahmen aus oder ließ lediglich Fragmente übrig, holte Bass und Schlagzeug in den Vordergrund des Mixes und fügte Hall, Echo und seltsame Effekte dazu. Erfunden wurde der Dub aus Zufall. Der Toningenieur Byron Smith ließ 1968 bei der Produktion einer Dubplate-Single für Ruddy Redwood aus Versehen die Gesangsspur weg. Dieses Instrumental löste Begeisterung bei den Partys der Sound Systems aus.

Trotz massiver Remixerei in den Nullerjahren steht das Indie-Publikum dem Thema kritisch gegenüber. Remixe von Bloc Party, Franz Ferdinand und The Kills scheinen vielmehr dazu geeignet zu sein, diese Bands einem elektronisch vorgebildeten Publikum näherzubringen. Aber der Moment im Club, wenn bei einem Track die Ankunft der Kickdrum von der Crowd als kathartisch begriffen und mit ekstatischem Gejohle aufgenommen wird, ist Argument genug für den Remix. In vielen Fällen tut der Remix dem Original einen Gefallen. Wie etwa bei „Brimful Of Asha“ von der britischen Indie-Band Cornershop. Die Originalsingle war kein großer Erfolg. Der Remix des Songs von Norman Cook aka Fatboy Slim, der in Großbritannien zunächst auf einer limitierten 12-Inch erschienen war, wurde nach massivem Radioeinsatz offiziell veröffentlicht und kurz darauf Nummer 1 der britischen Singlecharts.

Im Gegensatz zu Indie werden Remixe in der elektronischen Musik und im HipHop ganz selbstverständlich als künstlerisches Ausdrucksmittel begriffen. Aber ausgerechnet Depeche Mode, die Band mit den wahrscheinlich meisten Remixen aller Zeiten, scheint nicht ganz verstanden zu haben, worum es dabei eigentlich geht. 2001 beklagte sich Martin L. Gore im Interview mit dem Schreiber dieser Zeilen über einen Remix zum Exciter-Album. Der mittlerweile auch schon legendäre finnische Produzent und DJ Vladislav Delay hatte den Auftrag, den Song „When The Body Speaks“ zu remixen. „Er hat er das Tempo verändert und die Tonart und ein paar Soulsängerinnen hinzugefügt, die einen anderen Text zu einer anderen Melodie singen. Es klingt wie ein R’n’B-Song. Das ist für mich kein Remix, das ist ein neuer Song“, klagte Gore. Hoffentlich kommen Depeche Mode nie auf die Idee, Aphex Twin mit einem Remix zu beauftragen. Der hat einmal über seine Bearbeitungen für Nine Inch Nails gesagt: „Ich habe die Originale nie gehört. Möchte ich auch nicht, auch nicht meine Remixe.“