Air – Moon Safari 10th Anniversary Limited Edition

Vor vier Dekaden galten Künstler links des Rheins hierzulande als ebenso etabliert wie ihre anglo-amerikanischen Kollegen: Francoise Hardy, Serge Gainsbourg, Michel Polnareff, Jacques Dutronc und France Gall. Woran es lag, dass aus dem Mutterland des Chansons über mehrere Jahrzehnte nur selten Interpreten außerhalb der eigenen Landesgrenze sich durchzusetzen vermochten, dürfte zumindest Musikhistoriker noch eine ganze Weile beschäftigen. Dass Frankreich heutzutage auf der Pop-Landkarte kein weißer Fleck mehr ist, sondern sich abermals zu einem internationalen Lieferanten musikalischer Extravaganz entwickelt hat, ist neben Daft Punk und Phoenix vor allem ein Verdienst des Duos Air.

Süßlicher Duft von Patchouli, Sandelholz und Marihuana liegt in der Luft, wenn der Laser sich zielsicher durch die zehn Tracks von Moon Safari tastet. 1998 erschien das Debütalbum, das nicht nur im Heimatland, sondern auf Anhieb auch im europäischen Ausland für Furore sorgte. Bescherte doch das zum runden Jubiläum um Demos, Outtakes, Konzertmitschnitte, Videoclips, eine Doku sowie BBC- und KCRW-Sessions erweiterte Triple-CD/DVD-Set Moon Safari 10th Anniversary Limited Edition Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel eine steile Karriere vor allem in Deutschland. Zehn Jahre später fasziniert das Konzeptwerk, das mit über einer Million verkauften Exemplaren eine neue Ära im Franzosen-Pop einläutete, noch immer. Ein einschneidendes Hörerlebnis von der gleichen herausragenden Qualität wie die Meilensteine THE PIPER AT THE GATES OF DAWN Von Pink FLOYD, Cans MONSTER MOVIE und HISTOIRE DE MELODY NELSON von Serge Gainsbourg. Souverän schlingern Air multistilistisch im gigantischen Wurmloch: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kulminieren im Spannungsfeld von Elektronika, Disco, Beat, Psychedelia, Easy Listening und Art Rock. Retro trifft auf Futurismus, Eklektizismus auf Experiment. Vom ersten Takt des verspielten Openers „Le Fernme D’Argent“ bis hin zum großen Finale „Le Voyage De Penelope“ scheint das lineare Raum/ Zeit-Kontinuum außer Kraft gesetzt zu sein. Als unverbesserlichen Fantasten steht Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel der Sinn vor allem nach Außergewöhnlichem. Beispielsweise wenn klassisch angehauchte Klavierpassagen und eine zarte Akustikgitarre traumhaft das Szenario von „New Star In The Sky“ eröffnen. Wie verliebt turteln die Instrumente harmonisch umeinander. Verschmelzen beide schließlich mit einer elektronisch verfremdeten Stimme zur ätherischen Hymne.

Air bewegen sich gerne in luftigen Höhen. Ein merkwürdiger Schwebezustand zwischen glücklich machender Schwerelosigkeit und durch Beklommenheit ohnmächtiger Höhenangst. Dabei entstehen wie nebenbei schwelgerische Klanglandschaften. Auch wenn Air mitunter dem Reiz erliegen, in allzu melancholische Gefilde abzudriften. Es ist wie mit dem oft zitierten Lauf auf dem Drahtseil: immer die Gefahr vor Augen, herunterzufallen, aber auch Momente des unbeschreiblichen Triumphs zu erleben. Im Irrlicht einer majestätisch sich drehenden Discokugel und im Flackern eines aufgeregten Stroboskops formen Air Surreales nach Noten – zum Teil rein instrumental, zum Teil aber auch mit fantasievoll arrangierten Gesangspassagen unterlegte Kompositionen von bestechender Perfektion.

Um die Skizzen ihres Projekts in langwierigen Studiotüfteleien möglichst authentisch umzusetzen, rekrutierten die ehemaligen Studenten der Architektur, Mathematik und Physik auch den einen oder anderen Gast: Auf „All I Need“ und „You Make It Easy“ liefert die amerikanische Singer/Songwriterin Beth Hirsch Sternstunden ihrer Kunst. Ungeniert zitieren sich Godin und Dunckel durch die Pop-Historie, integrieren geschickt allerhand Klischees. Etwa bei „Sexy Boy“, das sich an die psychedelische Frühphase von Pink Floyd noch unter Führung von Syd Barrett anlehnt. Oder der Einfluss von Burt Bacharach und Hai David im charmant servierten Lounge-Cocktail „Ce Matin La“. „Kelly Watch The Stars“ beschwört große Synthie-Pop-Duos wie Soft Cell und Erasure. Clever borgt sich „Remember“ die stampfenden Elektro-Drums vom Beach-Boys-Klassiker „Do It Again“, aber auch die satten Streicherharmonien vom Electric Light Orchestra. Auf den Spuren von Ennio Morricones Prairie-Soundtracks lustwandelt schließlich „Talisman“.

Die Postmoderne haben Air auf moon safari immer fest im Blick. Doch bei allen Querverweisen kreiert das Duo stets originelle Stimmungsbilder, ohne dass der Vorwurf des Plagiats wirklich ernsthaft zum Tatbestand werden würde. Dafür greifen sie gerne mal in den Schmalztopf. Auch vor allzu Sentimentalem wird nicht Halt gemacht. Manchmal geht das bis hart an die Grenze zum Kitsch. Saccharinsüße Streichersätze verschmelzen mit minutenlangen Keyboardexzessen. Doch bewegt sich alles noch im Rahmen. Für angemessenen Ausgleich sorgen das Arsenal an exotischen Instrumenten und die zu Chören aufgetürmten Gesangsspuren. Das wirkt im Gesamteindruck wie gewisse bewusstseinserweiternde Stimulanzien: Swingendes Fender-Rhodes-Piano und blubbernde Moog-Synthesizer, hypnotische Rhythmen und schrille Gitarrenspitzen, sakrale Frauenchöre und in Moll getauchte Violinen lassen Bilder im Kopf des Zuhörers entstehen. Zweifelsohne stehen Air in der Tradition der Musik aus dem „Summer Of Love 1967“. Doch vor allem dürfen Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel sich rühmen, die französische Pop-Art vom jahrzehntelangen lokalen Muff und künstlerischen Inzest befreit zu haben.

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