Alice lebt hier nicht mehr

„Dreh Dich nicht um, sonst wirst Du eine Säule aus Scheiße!“

Unter diesem deftig verdrehten Bibel-Motto verlassen die 32jährige Alice (Ellen Burstyn) und ihr 12jähriger Sohn Martin (Alfred Lutter) in dem vierten Spielfilm des jungen amerikanischen Regisseurs Martin Scorsese (der übrigens Chefcutter von „Woodstock“ und „Elvis“ war) ihre Heimatstadt. Ihr Mann Don, Coca Cola-Fahrer und übertypisches Patriarchen-Ekel, war auf dem Highway inmitten seiner Coke-Flaschen verblutet. Alices Teenagerträume, Sängerin zu werden, geopfert auf dem gemütlichen Folterstuhl ihrer kleinbürgerlichen Ehe, werden wieder wach. Trotz der Einsicht „Ich bin nicht Peggy Lee“ übt sie fleißig an ihrem Aerosonic-Zierflügel und macht sich alsbald mit ihrer rotzfrechen Nervensäge auf den Weg, um in schmuddeligen Südstaaten-Bars ihr Glück zu versuchen. Doch ihre Versuche, sich aus ihren Rollenzwängen freizuschwimmen, saufen allemal ab. Mehr als Objekt denn als Künstlerin willkommen (ihr Verteidigungsspruch: „Ich singe nicht mit dem Hintern“), gerät sie in der ersten Stadt an einen grinsenden Herzensbrecher, der sich zu bald als gewöhnlicher Brutallo entpuppt. In Tucson muß sie schließlich als Servier-Mieze in einer Cheeseburger-Bar anschaffen und weiß sich nur noch durch eine Mischung aus Komik und Aggression über Wasser zu halten. Der Farmer David (Kris Kristofferson, bodenständig wie immer) läßt seine Jacketkronen über schwarzem Countrybart blitzen, macht sich mit Vanille-Eis und Gitarrenstunden bei ihrem Sohn beliebt und hält landwirtschaftliche Kurzvorträge à la „Versuche nie, eine Kuh zu verstehen“: Sie verliebt sich in ihn. Aber auch dieser nette Mensch muß erst lernen, sie als Persönlichkeit zu akzeptieren. Der Schluß: halb Resignation, halb Optimismus.

Der Film ist ungeheuer treffsicher in seiner Milieu-Schilderung, in der Eingangssequenz scheint sich Hollywood den deutschen Romantiker Caspar David Friedrich als Kulissenmaler ausgeliehen zu haben, unentwegt sind Efeu-Fenster, Chrom-Schlitten, Pfirsich-Torte, Bonbon-Farben und Hinterhof-Witze über den Schwanz von Robert Redford präsent.

Ellen Burstyn (bekannt aus „Der Exorzist“) erspielte sich mit dermal rauhen, mal zärtlich angelegten Rolle einen wohlverdienten Oscar. Country-Sänger Kris Kristofferson, der vor allem in seinen Filmen „Cisko Pik“, „Pat Garrett and Billy The Kid“ (neben Bob Dylan) und „Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia“ schon besseres sehen ließ, wirkt auffallend schwach. Bemerkenswerte Tendenz dieses mit Mott The Hoople- („All The Way From Memphis“) und Elton John-Songs („Daniel“) angereicherten Streifens: Die Befreiung der Frau aus ihrem Ehe- und Mutter-Ghetto, ihre Emanzipation im Beruf und im Privatleben ist zwar bitter notwendig, zugleich aber auch ungeheuer kompliziert und gegen eine höhnische Umwelt ohne Solidarität anderer, vor allem Frauen, nicht zu leisten: ein Film, zu sehen mit einem weinenden und einem lachenden Auge.