All That Jazz
Der ECM-Katalog ist ein Who Is Who des modernen Jazz. Seit über einem Vierteljahrhundert entstehen immer wieder neue Formationen und Ensembles aus diesem schier unerschöpflichen Reservoir von Künstlern. Und die Kombinationsmöglichkeiten sind unendlich. Zu einem schlagzeuglosen Quartett fanden sich für die neue ECM-Produktion AN-GEL SONG 4 der Trompeter Kenny Wheeler, der Bassist Dave Holland, der Gitarrist Bill Frisell und der Altsaxophonist Lee Konitz zusammen. Dabei spielten sie ausnahmslos Wheeler-Kompositionen ein. Bis auf Konitz sind alle seit langem dem Haus verbunden. Doch auch dieser wirkte schon einmal auf einer Platte des Labels mit: auf der preisgekrönten deutschen Jazzanthologie AT-MOSPHERIC CONDITIONS PERMIT-TED von 1996. Viel Prominenz also auf dieser Quartettplatte und viel schöne Musik. Wheelers Stücke sind ruhig, klangbetont und entwickeln aus einfachsten Motiven große Stimmungsgemälde. Die Improvisationen sind auf höchstem Niveau und lassen übliche Rollenverteilungen wie Solist und Sideman völlig vergessen. Sein CD-Debüt begann mit einem Paukenschlag: Pianist Christof Sänger gewann 1993 mit dem Album CORINHO und auf Anhieb einen Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Seither gilt er als Nachwuchstalent Nummer eins unter Deutschlands Jazzpianisten – doch der richtige Durchbruch scheint ihm nicht gelingen zu wollen. Vergangenes Jahr erhielt Sänger eine Einladung zu einem Solokonzert auf dem Montreal Jazz Festival. Den Mitschnitt des Konzertes legte kürzlich das Label Laika vor: LIVE AT THE MONTREAL JAZZ FEST-IVAL 3. Auch dieses Mal läßt der Pianist den Zuhörer mit gemischten Gefühlen zurück. Seine Kraft und Virtuosität beeindruckt, doch seinem Spiel haftet immer auch etwas Mechanisches an. Christof Sängers Musik wirkt wie die einer Spieluhr: fehlerfrei, aber leider seelenlos. Seit einigen Jahren zählt Buckshot Lefonque zur Creme der rappenden Jazzer und das nicht nur wegen des prominenten Bandleaders Branford Marsalis. Aber auch große Namen tun sich schwer, wenn sie mit ihrer Musik Grenzen überschreiten. So schreiben die Rapper-Magazine über Buckshot: „Die HipHop-Tracks sind gut, aber der Rest ist Seh…“ Und die Jazzmagazine im Reversmodus: „Die Mainstream-Songs sind cool, doch der ganze populäre Kram ist Mist.“ Beiden Fraktionen erteilt Branford Marsalis mit der CD MUSIC EVOLUTION (Columbia/Sony) 4 eine Abfuhr – und außerdem noch eine musikalische Lektion in Sachen künstlerischer Freiheit. Obwohl er längst kein Twen mehr ist, macht er noch immer den Eindruck eines schüchternen Pennälers. Doch Gitarrist und Sänger John Pizarelli ist – zumindest musikalisch – mit allen Wassern gewaschen. Auf seiner CD ONE NIGHT WITH YOU (Chesky Records) 3 demonstriert er die große Verführungskunst der lazzballade. Unterstützt wird er dabei von Trompeter Clark Terry, Pianist Dave McKenna, den Bassisten Milt Hinton und Ron Carter und weiteren exzellenten Studiomusikern. Angenehmer Jazz für die blaue Stunde.
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