Carmel – Set Me Free :: Platte des Monats
Hoppla, fragt sich der neugierige Hörer, wo sind wir denn jetzt gelandet? Filigranes Synthesizer-Geflecht, wuchtige Klavierakkorde und wuselige Cembalo-Figuren umschmeicheln diese voluminöse Altstimme in einer Arie, in der die elegische Energie einer mediterranen Canzona mit dem populären Pathos einer Verdi-Arie verschmilzt. Ein schriller Stilbruch? Mitnichten: So eröffnet Carmel McCourt ihr neues Album; der Song trägt den Titel „Napoli“, und nicht umsonst heißt es doch „Neapel sehen und sterben“. Da scheint es nur recht und billig, daß eine Sängerin, die es sich leisten kann, mal ganz tief in die stimmliche Trickkiste greift – oh, süße, schmerzliche Wonnen des Belcanto. Um die Seelenbalance des skeptischen Konsumenten nicht allzu sehr zu gefährden, schließt sich gleich das eingängigste Stück dieser Platte, der unvermeidliche Single-Hit, an: „Tombe“ fährt im sonnigen Afro-Rhythmus karibische Bläsersätze und pulsierende Steeldrums auf, während unsere Vokal-Diva Südsee-Flair beschwört.
Doch der Höhepunkt kommt erst noch mit „Take It For Granted“, einer Schwebebahn-Nummer, in der Ambiente-Meister Brian Eno shuffelnden Autoscooter-Rhythmus mit prickelnden Elektronik-Bubbles kreuzte. Neben Eno und Mike Thorne, der mit dem Oldie „You Can Have Him“ den einzigen Durchhänger produzierte, gab Bassist Jim Paris in vier Titeln seinen Einsfond als Produzent, und in zwei Soul-Balladen legte Pete Wingfield (Pasadenas, Kane Gang) Hand an. Wingfield setzt noch am deutlichsten die stilistischen Konventionen der bisherigen Carmel-Platten fort: „Im Over You“ gibt der Primadonna Gelegenheit, im Gospel-Umfeld alle stimmlichen Gefühlsregister zu ziehen; mit „Onward“ singt sie zum Abschluß des Programms eine Schmuse-Nummer, die nicht einfach in Wohlwollen versickert, sondern in einem leidenschaftlichen Gospelchor ausklingt.
Die zweite Halbzeit wirkt zunächst spröde und erschließt sich erst nach mehrmaligem Hören. Sie beginnt mit einer innigen religiösen Andacht: „God, Put Your Hand On Me“ frömmelt die blonde Büßerin, und in den Melodielinien ihrer Stimme wie in der sparsamen Klavierbegleitung fauchen Anklänge an Kunstlieder der Romantik auf. Leichte Hit-Kost bieten Carmel McCourt und ihre zwei Männer jedenfalls auch auf ihrem vierten Album nicht. Dafür erweist sich ihre Ware für sensible Hörer als umso haltbarer. (gil)
SOUL & INSPIRATION
Carmel McCourt erblickte am 24. November 1958 als Kind irischer Eltern in der nordenglischen Industriestadt Scunthorpe das Licht der Welt – eine Stadt, die vorher allenfalls als Produktionsort für Abflußrohre bekannt war. Die ersten musikalischen Erfahrungen sammelte sie im katholischen Kirchenchor ihrer Heimatgemeinde. Auf der Kunstschule von Manchester tat sie sich 1982 mit Jim Paris, der den Stehbaß zupft, zusammen; kurz danach stieß Drummer Gerry Dorby zu den beiden Puristen. Das Trio Carmel kultivierte anfangs einen karg instrumentierten Stil, der sich auf Gospelwurzeln stützte und Jazz, Swing, Soul und Blues sensibel verarbeitete. „Bad Day“, die erste Single mit starkem Gospel-Flair, kam deshalb 1983, als sich in Großbritannien die Jazzpop-Welle ankündigte, gerade recht: Der Song erreichte immerhin Platz 15 der englischen Charts. Auch die zweite, schmissigere Single „More, More, More“ wurde ebenso wie dos Debütalbum THE DRUM IS EVERYTHING ein Top-20-Hit.
Mit der zweiten LP THE FALLING verließ Carmel den leuchtenden Pfad des Soul- und Blues-Purismus. Brian Eno sorgte an entscheidenden Stellen für die Klangpolitur. In Frankreich und Belgien schaffte Carmel damit den Durchbruch: Das Trio gehört seitdem westlich des Rheins zu den beliebtesten und erfolgreichsten Acts. Der Rest der Welt nahm freilich kaum Notiz von THE FALLING.
Auch das dritte Album EVERY-BODY’S GOT A LITTLE… SOUL stieß außerhalb Frankreichs nur auf mäßige Resonanz bei den Medien, obwohl es sich gar nicht so schlecht verkaufte und Carmel mit ihrer exzentrischen Neuversion des Klassikers „It’s All In The Game“ einen echten Trumpf auf der Hand hatte.
Mit dem neuen Album SET ME FREE hat das Trio alle Chancen, sich vom Status des ewigen Geheimtips befreien zu können, (gil)
CARMEL ÜBER…
EDITH PIAF: „Sie war die Größte.“
VORBILDER: „Als Sängerin messe ich mich mit den größten Vorbildern. Das zeigt mir, wie weit ich noch vom Ideal, das ich nie erreichen werde, entfernt bin.“ PLATTEN: „live-Konzerte interessieren mich mehr als Platten.“
ERFOLG: „Das ist eine böse Falle. Wir haben zwar auch schon mehrfach die Top 20 erreicht, sind aber noch immer unbekannt genug, um nur das zu tun, was wir selber wollen. Diese Freiheit ist sehr kostbar.“
HOTELS: „Wir schlafen vier Nächte im Bus und eine Nacht im Hotel. Aber das stört uns nicht. Das einzige Problem ist, daß wir uns nie richtig waschen können.“
STIMMEN: „Ich habe zwei Stimmen – diese intime sanfte Stimme aus der Kehle heraus und eine laute, bellende, die vom Zwerchfell her kommt. Deshalb nahm ich Gesangsunterricht, um beide zusammenkommen zu lassen. Aber dabei wurde meine laute Stimme nur noch lauter.“
LEBEN: „Wenn ich nicht Musik machen kann, sehe ich keinen Sinn im Leben.“ ALKOHOL: .Früher war ich jeden Abend betrunken. Nach der totalen Erregung auf der Bühne bleibt hinterher nur ein unangenehmes Gefühl. Also trinkt man und redet sich ein, die Party ginge noch weiter. Aber auf Dauer funktioniert das nicht.“
DISCOCRAPHIE
THE DRUM IS EVERYTHING (1984) THE FALLING (1986) EVERYBODY’S GOT A UTTLE… SOUL (1987) SET ME FREE (1989)
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