Folk-Sinfonie: Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität. Oder: Wie Dave Eggers sich in das Renaissance-Fräulein mit den syntaktischen Extravaganzen verliebt.

Joanna Newsom mag in den 8oer-Jahren des letzten Jahrhunderts in Amerika geboren worden sein, sie könnte genauso gut der Fantasie eines Retro-Renaissance-Romanciers mit Vorliebe für ornithologisch interessante Kulissen entstammen. Die Sängerin, von der US-Autor Dave Eggers sagt, dass sie sein Leben verändert habe, begrüßt uns auf dem Cover ihres neuen Albums als Burgfräulein mit Zopfund Blumenkranz im Haar. Das Album befindet sich im vornehmen Pappschuber mit ornamentaler Prägung, das Bildnis der Künstlerin stammt vom Kalifornier Benjamin Vierling, einem Mann, der wie die Meister im 16. Jahrhundert zu malen versteht. Halten wir kurz inne: Joanna Newsom ist das Mädchen mit der Harfe, die Super-Sirene auf Helium, die Devendra Banhart und die Freakfolk-Gemeinde auf sich aufmerksam machte, bevor sie ihr becircendes Debüt THE MILK-EYED MENDER (2004) veröffentlichte. Was jetzt kommt, konnte niemand sich so recht vorstellen: fünf aus- und abschweifende Liedbeiträge in einer Gesamtspielzeit von 55 Minuten, entstanden in einem opulenten Aumahmeprozess, in den drei approbierte Klangverbieger von Weltruf eingebunden sind-Steve Albini, Van Dyke Parks und Jim O’Rourke. Die ersten Sessions gehörten Joanna, ihrer Stimme und der Harfe, aufgezeichnet von Albini. Van Dyke Parks erhielt die Aufnahmen, gespickt mit Assoziationen der Künstlerin. In den nächsten Monaten schickte er Joanna Newsom verschiedene Entwürfe für die Arrangements, vergewisserte sich ihres kritischen Urteils, schließlich trafen sich die Musikerin und der Soundmeister im Studio in L.A. In acht Monaten entstanden Rohversionen, am Ende standen die Aufnahmen mit dem Orchestei, das Parks dirigierte. Die Endfassung betreute Jim O’Rourke in New York. Klingt nach viel zu viel und viel zu langer Zeit. Es hat dem Album nicht geschadet: Die fünf Songs erstrahlen in himmlischer Streicherpracht, fast schwerelos, die Celli und Violinen fliegen wie Geister um die Melodien, sie kommen und gehen ohne Voranmeldung. YS heißt das Album, oder Ease, Üüühs? YS könnte der Soundtrack zu einem Disney-Märchen aus der Post-Elfter-Neunter-Paranoia sein, Joannas Stimme und Harfe bilden zu jeder Zeit das Zentrum der Platte, es ist die große, herzzerreißende Geschichte aus dem privaten Fantasialand der Joanna Newsom, bevölkert von syntaktischen Extravaganzen, mit denen T.C. Boyle ganze Literatur-Klassen beschäftigen könnte. Geschichten, heimgesucht von den liebsten Flatterwesen der Autorin, von Spatzen, Rotkehlchen und Tauben, von philosophischen Affen, Bären und von dunklen Träumen und schwarzen Flugzeugen. „Front the top of the flight/ofthe Wide white stairs/ throush the rest ofmy life/do you wait for me there“ surrt Joanna Newsom in „Saw dust And Diamonds“. Dave Eggers, der in seinem „herzzerreißenden Werk von umwerfender Genialität“ auch übers Schreiben schreibt, steht schon an Joannas Gartenzaun. Er sammelt die Bilder auf, verbindet sie zu einem Psycho-Pop-Roman und verliebt sich unsterblich in dessen Hauptdarstellerin. Happy End?