Kate Bush

50 Words For Snow

Fish People/EMI

Art Pop mit frei mäandernden Meditationen und Klangskulpturen von subtiler Wucht

Madonna, Tori Amos, Lady Gaga, Joanna Newsom, Björk, PJ Harvey, Alison Goldfrapp, Laura Marling,  Joan As Police Woman, Florence And The Machine, Marina And The Diamonds, Lily Allen, Antony Hegarty, Marc Almond, Rufus Wainwright, John Lydon, Radiohead, Muse, Coldplay, Outkast und noch vielevieleviele mehr, die zu erwähnen den Rahmen dieser Rezension sprengen würde. Wahrscheinlich überflüssig, aber vielleicht muss man das einfach mal ganz stumpf hinschreiben, wenigstens ansatzweise, welche MusikerInnen, vom kalifornischen Rapper bis hin zum norwegischen Todesmetaller, ohne Anleihen bei Kate Bush nicht wären, was sie sind.

Dass Bush selbst auf den Schultern von Riesen wie Sandy Denny und Joni Mitchell steht, ändert nichts an ihrem Status als Wegbereiterin und Schutzpatronin spezifisch weiblicher Kreativität in der progressiven Popmusik. Tatsächlich sind ihre künstlerischen Lebenszeichen seit einer ganzen Weile so etwas wie musikalische Marien­erscheinungen – sehr selten, sehr kostbar und ziemlich unglaublich. Und ganz wie die Muttergottes ist auch Kate Bush in gewisser Weise … Glaubenssache.

Gerne glauben wir die nett ausgedachte Anek­dote, nach der ein EMI-Manager mal wieder bei der Künstlerin anklopft und fragt, ob es denn irgendwann mal etwas Neues gäbe. „Oh, ich zeige Ihnen gerne, woran ich gerade arbeite“, sagt sie und serviert einen frisch gebackenen Kuchen. Kate Bush lässt sich die Zeit, die sie braucht. Zwölf Jahre liegen zwischen dem mäßig aufregenden The Red Shoes und dem gefällig überbordenden Aerial (2005), weitere sechs zwischen Aerial und 50 Words For Snow, die im Frühjahr erschienene Remix-Platte Director’s Cut nicht eingerechnet. „Auf den Punkt“ kommt Kate Bush auch auf der Platte selbst überhaupt nicht mehr: Es dauert mehr als eine halbe Stunde, bevor überhaupt ein Schlagzeug einsetzt, ganz zaghaft nur, aber immerhin.

Herkömmliche „Songs“ gibt es nur zwei, vielleicht zweieinhalb. Erstens „Wild Man“, eine märchenhafte Geschichte über den Yeti, hier als Sinnbild alles Männlichen, mit einem an David Bowie erinnernden Refrain, gesungen von Andy Fairweather-Low (The Who, Roger Waters). Zweitens das gewagte Duett mit Elton John, „Snowed In At Wheeler Street“, bei dem es um die Liebe zwischen zwei zeitreisenden Seelen geht, die füreinander bestimmt sind. Drittens das Titelstück, bei dem der in England extrem populäre Schauspieler Stephen Fry 50 frei assoziierte Umschreibungen für Schnee deklamiert, wobei er von der Seitenlinie aus von Kate Bush angefeuert wird: „C’mon man, you got 44 to go!“ Was trotz aller Entspannung aufblitzt, ist der typisch exaltierte Humor und die typisch direkte Erotik der klassischen Kate Bush.

Alle anderen der allesamt überlangen Stücke sind keine Songs. Es sind frei mäandernde Meditationen, sich mählich zu voller Größe erhebende Klangskulpturen von subtiler Wucht. Hier lässt Bush die Aerial-Ära hinter sich – und erschafft vollkommen neue und ästhetisch vollkommene Gefilde jenseits des Pop, einfach, indem sie sie betritt. Wie in „Snowflake“, der Geschichte einer fallenden Schneeflocke, bei dem Bush die erste Strophe ihrem 13-jährigen Sohn Albert überlässt. Oder in „Misty“, das von der unmöglichen und durchaus libidinösen Liebe zu einem Schneemann erzählt, der am Morgen verschwunden ist und ein nasses Bett hinterlässt. Oder in „Lake Tahoe“, dieser viktorianisch angehauchten Gespenstergeschichte um eine Wasserleiche. Es liebkosen sich zunächst zwei männliche Stimmen, ein Tenor und ein Countertenor, bevor Bush mit ihrer gereiften Alt-Stimme die Szene betritt.

Unmerklich überschreitet sie nun, mit 53 Jahren, nicht nur in den Arrangements, sondern auch am Flügel immer wieder die Schwelle von der sogenannten Unterhaltungsmusik zum „ernsten Fach“. Was eben noch wie eine fragmentierte Melodie klang, die sich gegen ihre Auflösung stemmte, kippt irgendwann für ein paar Takte vollends ins Atonale. Wer will, kann sich an die pastoralen Chorwerke von Lili Boulanger erinnert fühlen, an Thelonious Monks Expeditionen ins Nichts oder die stille Erhabenheit der späten Talk Talk. Wer hier nicht genau hinhört, der hört überhaupt nichts. 50 Words For Snow klingt keineswegs wie der Auftakt zu einem würdevollen Alterswerk. Es ist Kate Bushs Eingang in die Unsterblichkeit.