Keine Macht für Niemand :: Von Kai Sichtermann, Jens Johler und Christian Stahl
Deutsche Rockmusik um 1970 war vollkommen entweder/oder-Zum einen gab es Bands, die englisch sangen, zum anderen psychedelische Elektroniker, die meist die Klappe hielten und dafür stundenlang improvisierten. Wer deutsch sang, zählte entweder zu den „Liedermachern“ oder versah politische Parolen mit musikalischem Dilettantismus-eher ein Fall für Kleinkunst und Kabarett, aber bestimmt kein Rock’n’Roll. Doch dann kamen Ton Steine Scherben. Deutsche Texte, politisch und kämpferisch, dazu ein gitarrendominierter Sound, der mit schöngeistigen Sphärenklängen oder pseudo-orientalischem Hippie-Gezirpe nichts zu tun hatte. Bewusstseinserweiterung, ja bitte: aber nicht spirituell verbrämt und passiv, sondern ganz konkret und voller (politischer) Aktivität. Von Anfang an mit dabei war Bassist Kai Sichtermann, der nun gemeinsam mit dem Publizisten Jens Johler und dem Journalisten Christian Stahl die ganze Geschichte seiner Band, aber auch die der Bundesrepublik von der Ära Brandt bis zur Ära Kohl erzählt. Von der Westberliner Hausbesetzerszene führt der Weg ins nordfriesische Fresenhagen, wo die Band ab Mitte der Siebziger ihre Zelte aufschlug: Die Flucht vor dem Druck linker Dogmatiker, die der künstlerischen Freiheit der Band allzu enge Grenzen setzen wollten. Liebeslieder waren tabu, Agitation das allein selig machende. Ein viel zu enges Korsett für Ton Steine Scherben und den sensiblen Frontmann Rio Reiser. In Fresenhagen entstanden die wohl ambitioniertesten Arbeitender Band, doch Mitte der Achtziger war schließlich Schluss mit Lustig. Vielen Fans der ersten Stunde waren die neuen Songs nicht radikal genug, und für die nachwachsende Generation bedeutete deutschsprachige Musik eben Nena, Ideal und Hubert Kah. Auch wenn besagte Dogmatiker das anders sehen mögen: Ausverkauft hat sich die Band zu keinem Zeitpunkt, lediglich weiterentwickelt, und das ohne Rücksicht auf geldwerte Vorteile, wie der Nachlass eines riesigen Schuldenbergs belegt. Die Stärke von KEINE MACHT FÜR NIEMAND liegt in der unterhaltsamen, streckenweise richtig spannenden Erzählweise der drei Autoren, da wird nicht glorifiziert, belehrt oder gejammert, sondern ganz einfach die Lebensrealität einer deutschen Rockband geschildert, mit all den Siegen und Niederlagen, all den Chancen und Widersprüchen, all dem Geschäftlichen und Privaten. Illustre Gestalten haben ihre Gastauftritte, ob Andreas Baader, Nina Hagen oder Paul Breitner, manche kommen sogar zu Wort, so wie Blixa Bargeld: „Ton Steine Scherben waren wesentlich mehr als eine Politrockband, sondern eigentlich die Essenz deutscher Rockmusik; definitiv die einzigen oder zumindest die besten Übersetzer der Idee von Rockmusik ins Deutsche.“ Besser kann man’s wohl nicht auf den Punkt bringen.
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