Kraftwerk :: Tour De France Soundtracks

Wer Kraftwerk im Jahr 2003 beurteilen will, darf sich zwischen zwei Erwartungshaltungen entscheiden. Will man 17 Jahre nach dem letzten regulären Album Electric Cafe und zwölf Jahre nach The Mix auf dem elften Kraftwerk-Album in 33 Jahren wegweisende elektronische Musik hören, die der Konkurrenz meilenweit voraus ist? Ein fast aussichtsloser Wunsch, zumal in den letzten Jahren selbst die dritte Generation Elektroniker nach Kraftwerk leicht die Orientierung verloren hat. Oder will man Musik hören von einer ehemals bahnbrechenden Band, die heute immer noch Musik macht, die nach Kraftwerk klingt? Beide potenziellen Erwartungshaltungen erfüllt Tour De France Soundtracks, wenn überhaupt, nur teilweise. Einerseits hat’s hier harmlose trancig-housige Soundflächen und Stumpfrhythmen straight outta Love Parade. Auf der anderen Seite gibt es die prägnanteste Kraftwerk-Musik seit Computerwelt, mit metallischen Beats, Simpel-Melodien und dem funkysten Kraftwerk-Track aller Zeiten: „Vitamin“. Überhaupt: Wer seine Songs „Vitamin“, „Titanium“ oder „Elektro Kardiogramm“ nennt und wer in diesen Stücken so unverschämt augenzwinkernd die eigene soundästhetische Vergangenheit (ca. Trans Europa Express und Die Menschmaschine) verwurstet, wer Texte singt wie „Kalzium, Eisen, Protein, A-B-C-D-Vitamin“, mit dem muss irgendwie noch zu rechnen sein. Die Ironie von Tour De France Soundtracks: Ausgerechnet die Stücke des Albums, die nicht „Tour De France“ im Titel tragen, sind die besseren. Jetzt könnte man noch diskutieren über Sinn und Unsinn eines Konzeptalbums, des „offiziellen“ Albums zur „Tour De France“ (das erst nach deren Ende veröffentlicht wird), über Sinn und Unsinn von drei leicht modifizierten Bearbeitungen (hier „Etappen“ genannt) der Tracks von der „Tour De France 2003“-Single und einer Neueinspielung (!) der Original-’83er-Version (!!) im Oldschool-Sound. Aber lassen wir das und warten darauf, was als Nächstes von Kraftwerk kommt. Nicht vor 2020.