Pulp :: His ‚N‘ Hers

Das gemein geläufige Weltkulturerbe Pulps beginnt später: mit „Common People“, der Jahrzehnte überdauernden Jahrzehnt- hymne; mit „Disco 2000“, dessen thematische Haltbarkeitsgrenze nicht nur der Einsatz von Umberto Tozzis zeitlosem „Gloria“-Riff großzügig in die Ewigkeit ausweitet; nicht zuletzt mit Jarvis Cockers Meisterstück popkultureller Spaßguerilla, als er sich 1996 mit seinem Hintern gegen eine megalomane Bühnenshow Michael Jacksons bei den Brit Awards zur Wehr setzt.Zu diesem Zeitpunkt erreichen Pulp bereits die Volljährigkeit im Musikgeschäft. Jahrelang halten sie unbeirrt an ihrem schwer bis unmöglich kommerzialiserbarem Gemengsel (eine der mannig- fachen Übersetzungsmöglichkeiten ihres Bandnamens) aus bewusst schäbigen Discobeats, quietschigen New-Wave-Synthies und düsteren Spoken-Word-Vorträgen über Lebenssuche, Landflucht und das Grauen einseitiger Leidenschaft fest. Ohne nennbare Erfolge außer zeitweiliger Anerkennung von Szene- magazinen mit kleiner Auflage werden aus den wechselnden Bandmitgliedern Erwachsene, vergehen die Teenager- und sogar die Zwanziger Jahre. Jarvis Cocker hat sich an ein Leben jenseits der 30 gewöhnt, als das vierte Studioalbum seiner Band, HIS ’N’ HERS, 1994 in den britischen Top Ten steht und für den Mercury Prize nominiert wird (allerdings neben The Prodigys MUSIC FOR THE JILTED GENERATION und sogar Blurs PARKLIFE skandal- trächtig gegen M Peoples ELEGANT SLUMMING verliert). Doch während sich die kollektive Erinnerung an den Umzugs- kabinen-House M Peoples seit Jahren immer tiefer in unerreichbare Hirnregionen zurückzieht, wird Pulps Durchbruchs- album als Eckpfeiler in der Architektur des Britpop anerkannt. Denn die lyrische Basis dieses Genres ist die detaillierte Beobachtung des Alltags der working class. Und Jarvis Cocker ist ein Meister darin, deren zwangstolerierte Spießigkeiten als blanke Schrecken zu enttarnen. In den späteren Einträgen seines Œuvres wird er sich mit den Grausamkeiten würdelosen Alterns in einer jugendfixierten Gesellschaft und der „anthropologischen Ungerechtigkeit“ des Kapitalismus auseinandersetzen. Doch das Hauptmotiv hinter all seinem Werken und Tun, seine Obsession ist Albtraum gewordene Liebe. Hier ist er ganz in seinem Element. Auf den elf Stücken von HIS ’N’ HERS schläft man, um der Geliebten näher zu kommen, mit deren kleiner Schwester, treibt einen die sexuelle Frustration mit dem Partner zum Kauf von Sexspielzeugen, greift man gierig nach allem, was einem die auf immer, längst in den festen Händen eines anderen angekommene Unerreichbare hinreicht – und wenn es nur ein hektischer Beischlaf am Nachmittag ist.Ihre klanglichen Entsprechungen finden diese verzweifelten Tristessen in bewusst unterkühlt gehaltenen Melodien, deren „allzu synthetischer Nachgeschmack“ im MUSIKEXPRESS damals tatsächlich beanstandet wurde. Aber das waren eben die crazy E-schluckenden 90er: Don’t care for tomorrow! Misunderstand in the now!

Stephan Rehm – 26.02.2009

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