Platte des Monats

Róisín Murphy

Róisín Machine

Skint Records/Warner (VÖ: 25.9.)

House-Nostalgie, Electro-Fantasien und Club-Kopfkino: Murphys Zusammenarbeit mit der englischen Elektro-Ikone Richard Barratt ist ein Tribut an die großen Dancefloor-Days.

Angenommen, wir erleben auf diesem Planeten aktuell eine dunkle Nachtphase, dann bereitet uns diese Platte auf den Morgen danach vor. Róisín Murphy spielt die Rolle des Rotkehlchens, das ja bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang mit seinem Gesang beginnt. Das erste Stück, „Simulation“, schält sich aus der diffusen Dunkelheit, der Beat setzt ein, klassischer House, aber die Hi-Hat zischt länger, als traue sie dem Bass nicht genügend Wirkungskraft zu. Hinzu kommt eine funky Gitarre, Róisín Murphys Vocals sind leiser als üblich, wirken wie improvisiert, wie eine Meditationsübung aus dem Überlebenstraining: „This is a simulation, this is a demonstration.“

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Alle wach? Das ist wichtig, denn für den zweiten Track, „Kingdom Of Ends“, ist volle Aufmerksamkeit notwendig, um Murphys Flow zu folgen. Die Hohepriesterin beschwört manisch eine Apokalypse herauf, die sich nur verhindern lasse, wenn man früh genug aufsteht: „Keep going in, going on. Keep going down, keep turning round. Keep waking up at 6 am.“ Immer wieder wiederholt sie diese Sequenz, so lange, bis zwangsläufig Transzendenz einsetzt. Am Ende des Stückes ist man dann schon fertig. 14 Minuten erst – und schon ist diese Platte eine Grenzerfahrung. Wer dachte, Murphys Musik habe zuletzt an Intensität verloren und erinnere mehr an eine Kunstausstellung als eine körperliche Erfahrung, der muss jetzt RÓISÍN MACHINE hören!

Barratt hat RÓISÍN MACHINE als „perfekte House-Platte“ inszeniert

Das Album ist eine Art Langzeitprojekt: Bereits vor zehn Jahren begannen Murphy und ihr langjähriger Sheffielder Kumpel und Kreativpartner Richard Barratt (Szene namen: Crooked Man und DJ Parrot, u.a. Mastermind bei The All Seeing I) damit. Die Idee war, eine echte House-Platte aufzunehmen und sie im Hier und Jetzt zu verorten, doch zunächst ließ sich kein Label von dem Konzept begeistern. Schließlich griff die alte Big-Beat-Boutique Skint Records zu. Barratt hat RÓISÍN MACHINE als „perfekte House-Platte“ inszeniert, das Interessante dabei: Der Mann hat seit 20 Jahren keinen Laden mehr von innen gesehen.

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Der Club befindet sich in DJ Parrots Kopf, spielerisch ruft er die passenden Beats, Dynamiken und Übergänge ab, wie Leute es tun, die seit 20 Jahren auf keiner Kirmes mehr waren, aber trotzdem noch genau wissen, wie der Mann von der Losbude spricht, wie sich der Autoscooter anhört und wie gebrannte Mandeln duften. Und Murphy? Fühlt sich als zweifache Mutter pudelwohl in dieser Simulation. Kinder besitzen ja auch die Gabe, sich die größten aller Welten erdenken zu können – und gelingt perfektem Pop nicht genau das?

Sehnsucht statt Dekadenz, Distanz statt Happening

Mit RÓISÍN MACHINE schlägt die Irin die goldene Brücke von den Dance-Großtaten der späten Moloko zum Electronica-Art-Pop ihrer Soloplatten. Auf dem Cover des Vorgängers TAKE HER UP TO MONTO hatte sie sich noch im Baustellenumfeld inszeniert, es war eine konstruktivistische Platte. RÓISÍN MACHINE dagegen besitzt ein krudes Spät-70er/Früh-80er-Design, wie es Sammlern häufig in der Grabbelkiste begegnet; der Titel der Platte erinnert an Gloria Estefans nicht aufzuhaltende Band Miami Sound Machine. Einige der Songs atmen dann auch Sound dieser Tage: Post-Disco-Proto-House-Pop, gut abgehangen, liebevoll dekadent, angemessen hedonistisch. Von der Single „Something More“ schlummern noch schnellere und fröhlichere Versionen auf der Festplatte, doch Murphy und Songwriterin Amy Douglas haben sich für diese melancholische Interpretation des Stücks entschieden: Sehnsucht statt Dekadenz, Distanz statt Happening – ein Tribut an die Zumutungen, die das Jahr 2020 im Überfluss zu bieten hat.

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Am Ende des Albums geht es dann aber doch noch tief hinein in die Nacht, das schon im vergangenen Jahr veröffentlichte „Narcissus“ ist ein Discohit mit Streicherkaskaden, beim Finale „Jealousy“ geht dann alles auf: super Bass, super Gitarre, der Beat kommt zuverlässig, es folgt ein Mini-Zitat aus „Sing It Back“, bevor Murphy ihren grandiosen Einsatz hat und über die Eifersucht philosphiert: „This is the darker side of a beautiful feeling.“ Makellose vier Minuten sind das.

RÓISÍN MACHINE im Stream hören:

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