Stevie Wonder

The Secret Life Of Plants

Stevie Wonder ist blind; mit jenem Sinn, der in unserer Welt mittlerweile zum weitaus wichtigsten aufgerückt ist. vermag er seine Umwelt nicht zu erfassen. Ein Leben in optischer Nacht kann jedoch die übrigen Sinne stärken: man hört, riecht, schmeckt und tastet intensiver. Und diese Verlagerung der Wahrnehmung befreit zuweilen auch noch weitere Sinne, die bei fast allen Menschen normalerweise unter dem Zivilisationsmüll begraben sind. Bei Stevie Wonder muß etwas derartiges passiert sein, denn sein neues Doppelalbum offenbart ein Verständnis der Welt der Pflanzen, das mit unserem physikalischen und biologischen Schulwissen nicht mehr vereinbar ist.

Stevie Wonders Platte wurde inspiriert durch das aufregende Buch „The Secret Life Of Plants“ der beiden Amerikaner Peter Tompkins und Christopher Bird, das es auch in deutscher Übersetzung gibt. Dieses Buch diente als Vorlage für einen jetzt in den USA angelaufenen gleichnamigen Film, zu dessen Soundtrack Teile der Stevie Wonder-LP gehören. Was Tompkins und Bird schreiben, läßt sich mit wenigen Worten nur höchst unvollkommen wiedergeben: Pflanzen stehen als Lebewesen auf gleicher Stufe wie der Mensch, können Gefühle zeigen und – unter Umständen – auch mit Menschen kommunizieren. Mensch und Pflanze sind gleichrangige, engverwandte Teile eines kosmischen Systems, das sich nicht unwesentlich von dem unserer etablierten Wissenschaft unterscheidet. Natürlich gelten derartige Theorien heutzutage noch als Parapsychologie oder Quatsch oder Irrsinn oder alles zusammen; aber Stevie Wonder scheint diese andere Sicht der Welt für sich entdeckt und durch sie einen tiefen inneren Frieden gefunden zu haben, denn anders läßt sich die unglaubliche Intensität dieser Platte, dieses warme, harmonische Feeling nicht erklären.

Nehmen wir den Song „Black Orchid“: eine Liebeserklärung an eine Blume, aber so tief empfunden, als sei diese Blume eine Frau. Man muß sich das klarmachen: Stevie Wonder findet diese Pflanze nicht einfach schön und toll und möchte sie bewahren wie ein Umweltschützer oder jeder andere noch nicht degenerierte Mensch; Stevie Wonder empfindet dieser Pflanze gegenüber Liebe: „She has touched the farthest star/Her beauty speaks of what we are/ And her freedom makes us free/ Her now is in eternity.“

„Black Orchid“ gehört zu den Songs auf den LP-Seiten zwei und drei, die noch halbwegs an die Musik anknüpfen, die Stevie Wonder bislang gemacht hat. Die Seiten eins und vier dagegen fallen völlig aus dem Rahmen, enthalten vorwiegend Instrumentalmusik, die sich in keine gängige Kategorie mehr einordnen läßt. Stevie spielt fast alle Instrumente selbst und hat sich vom englischen „New Musical Express“ bereits den Vorwurf eingehandelt, er habe ein „Monument der Selbstüberschätzung“ geschaffen. Ich seh‘ das allerdings anders, neige eher der Überzeugung eines Kollegen zu. der kürzlich in privater Runde meinte, dies sei Musik fürs nächste Jahrzehnt oder gar das nächste Jahrhundert. Stevie Wonder macht keinen Rock und keinen Soul und keinen Jazz mehr, sondern eine absolut eigenständige Musik, die zwar viele kategorisierbare Musikstüe aufgreift – Elemente aus der Klassik und aus Operetten eingeschlossen -, im Grunde aber allein den Spiegel einer ungewöhnlichen Persönlichkeit darstellt, wie man sie selten in der Kunst antrifft. „Go“ von Stomu Yamashta und „Consequences“ von Kevin Godley und Lol Creme können vielleicht als Vorläufer dieser Art von Musik gelten, ähnlich wie Stevies eigenes Album „Songs In The Key Of Life“, aber das sind schon gewagte Vergleiche. Auch diese Plattenkritik ist ein Wagnis, denn viele Leute, die sich die LP daraufhin anhören, werden sie lahm und langweilig finden. Der Schlüssel zu dieser Platte sind Toleranz und die Bereitschaft, sich zu öffnen. Wer das schafft, den wird „The Secret Life Of Plants“ bis ins tiefste Innere hinein erschüttern.