Television – Marquee Moon
Nur wenige Platten haben mich in den vergangenen sieben, acht Jahren so erregt und fasziniert wie das Debutalbum der jungen New Yorker Band Television. Gerüchte nur hörte man bislang über die vierköpfige Gruppe, die seit ungefähr zwei Jahren besteht; Gerüchte mit dem Refrain, im Untergrund der sterbenden amerikanischen Millionenstadt braue sich etwas Großes zusammen. Natürlich muß man solcher Flüsterpropaganda mit Vorsicht begegnen, weil die Geschichte des Rock zu oft gezeigt hat, daß hinter heißen Sprüchen nicht unbedingt heiße Musik steckt – der Fall Bruce Springsteen ist da immer noch das beste Beispiel. Television indes beweist, daß auch das Gegenteil möglich ist – ihr Longplayer „Marquee Moon“ hört sich so unverschämt gut an, daß mir nur wenige Gruppen einfallen, die ähnlich furios und souverän zugleich in den LP-Markt einstiegen: die Doors etwa, Little Feat, die Stones und Pink Floyd.
Mit dem gewohnten Schubladendenken bekommt man Television nicht in den Griff. Eines gleich vorweg: die Band kommt zwar aus der New Yorker Szene, aber sie spielt absolut keinen Punk. Zwischen den Ramones (die ich übrigens mag) und Television liegt die gleiche Wegstrecke wie zwischen einem drei Minuten langen TV-Spot für die Tagesschau und einem kompletten Stanley Kubrick-Kinofilm – ich bin sicher, daß ich da nicht übertreibe. Tom Verlaine (Gesang, Gitarre), Richard Lloyd (Gitarre), Fred Smith (Baß) und Billy Ficca (Drums) haben die Rockmusik der vergangenen fünfzehn Jahre aufgesaugt, aber sie kopieren niemanden; die Tradition bildet bestenfalls ein Gerüst, mit dessen Hilfe sie eine Dreiviertelstunde Musik geschaffen haben, für die es keine Vorbilder gibt und die den Rock ein Stück vorwärts bringt.
Am ehesten entdecken kann man bei Television noch Einflüsse der Doors, der Byrds (besonders aus der „Fith Dimension“-Periode,von Love und Lou Reed; vor allem aber ist die Band ein Kind der Stadt New Yorkjst „Marquee Moon“ der Soundtrack zur Wiedergeburt der Kreativität in einer zerfallenden Metropole.Verblüfft war ich auf Anhieb über die Art,in der Tom Verlaine Gitarre spielt.In seinen metallisch klingenden, spannungsgeladenen Soli setzt er sich über Tonarten und Harmonien hinweg, steigert sich in vogelfreie Läufe, die jedoch immer in den ungemein kompakten Sound der gesamten Band passen; zusammen mit dem eine Spur konventionelleren zweiten Gitarristen Richard Lloyd spielt Verlaine beißende und zugleich berauschende Dissonanzen und fällt im nächsten Augenblick bruchlos in melodische Themen von einzigartiger Schönheit. Die rhythmisch versetzten Spots im Titelsong hört man einmal und vergißt sie nie wieder – so packend ist das Feeling, daß diese Musiker vermitteln.
Die rhythmische Basis der Band zeichnet sich aus durch einen großartigen, unverbrauchten Drive und eine atemberaubende Dynamik; welche rhythmischen Grundmuster einem Stück wie „Marquee Moon“ zugrunde liegt, läßt sich übrigens nur schwer orten, weil der Erfindungsreichtum des Drummers Bily Ficca immer wieder überrascht
Tom Verlaines aggressive Stimme klingt brüchig und scheint immer kurz vor dem Überkippen zu stehen; gleichwohl schlummert in ihr eine verzehrende Glut, schwingt in ihr der Schrei nach Wärme und Geborgenheit. Verlaines Texte enthalten surreale Phantasiebilder; sie ergänzen die Musik, stehlen ihr aber nicht die Schau. Ob in dieser Lyrik Tiefsinn oder Hintersinn steckt, habe ich nicht genau herausbekommen; nötig ist solche Tüftelei ohnehin nicht, weil die Musik die Botschaft enthält und das Feeling der Musiker genug sagt.
Alle Songs von „Marquee Moon“ sind Meisterwerke, egal ob sie vier oder neun Minuten dauern; sie sind griffig, voller Leben, energiegeladen, aber frei von Hektik, enthalten elektrisierende Breaks, und Gitarrenthemen, die so einfach und bestechend ausfallen, daß man unwillkürlich das Wort „genial“ parat hat. Vielleicht ist Television tatsächlich das größte Ding seit der Erfindung des Fernsehens.