The Notwist

Close To The Glass

City Slang/Universal (VÖ: 21.2.)

Intensivstation Pop: Die Grübelsongs der Achers erreichen 2014 neue Spitzen – mit dem elektronischen Gretschmann-Kick.

Mitten im reißenden Gitarrenstrom singt Markus Acher die zärtlichsten, zerstörerischsten Zeilen, die er je gesungen hat: „How I long to see you now. Our love is a 7-hour-drive, 7-hour-drive, 7 hours too long“. So geht das bei The Notwist 2014: Die Band um die beiden Acher-Brüder und den Elektrokapellmeister Martin Gretschmann fährt mit zwölf Songs gehörig in die Extreme, von den mächtig ins Kraut rockenden Hymnen bis hin zu den stillen Einkehrmusiken, die dem Hörer anbieten, mit sich und seinen Gedanken zu verweilen, ohne zwischendurch gleich eine App zur Navigation der Interpretation zu öffnen.

Alles wunderbar durchwirkt vom immer weiter wuchernden Elektro-Expressionismus Gretschmanns, der diesen Songs den entscheidenden Kick verleiht. Als „abwechslungsreichste Notwist-Platte ever“ bewirbt die Plattenfirma CLOSE TO THE GLASS, und das ist untertrieben. Die Band entdeckt sich und ihre Talente komplett neu. Wir betreten mit The Notwist die Intensivstation Pop. Einen Ort, an dem Herzen zu rasen beginnen, wenn die Band uns im Lauftempo mitnimmt: „Run Run Run“.

So viel Fahrt hat das Proto-Indie-Unternehmen aus Weilheim bislang nur selten aufgenommen. Die Songs lebten, von Underground-Hits wie „Neon Golden“ einmal abgesehen, vom Charme der Umstandskrämerei. The Notwist war aber auch die Band, die den alten Kapitalismushit „Deutsche Wertarbeit“ für ein internationales Publikum wieder attraktiv machte, ohne mit den Muskeln zu spielen – und in einem Netzwerk von Bands und Projekten, das bis zu den US-HipHoppern von Themselves reichte.

Vernetzung, Entwicklung, Hinterfragung – das sind die Elemente des Roten Fadens, der sich durch einen Großteil des Werks zieht, von 12 (1995) bis hin zu THE DEVIL, YOU + ME (2008). Blickt Markus Acher bei „Into Another Tune“ auf eine Trennung zurück? Sammelt er im „Casino“ die Scherben vergangenen Glücks auf, um sich im Selbstzweifel noch einmal neu zu positionieren? CLOSE TO THE GLASS ist randvoll mit Grübeleien um die großen Ich-und-du-Themen, mit Erkundungen von Verlorenheit und Angst. Die Bilder, die Acher in den Songs malt, künden von Gefahr, vom Wasser zum Beispiel, das das Haus der Achers flutete, eine Kindheitserinnerung.

The Notwist landunter, ach könnte der Superheld „Kong“ uns doch retten. Mit der Popkultur als Fluchtlinie nimmt die Band ein bewährtes Motiv auf, die Musik aber verweigert sich konsequent einer Bewährung im Sinne einer Wiederholung oder Retro-Sprache. Im Gegenteil, aus dem unwiderstehlich herzhaften Pluckern der Synthies, den geloopten, verfremdeten Elektrobeats, dem sinfonischen Wimmern der Keyboards entstehen rasant geschwungene Collagen, auf deren funkelnden Oberflächen wahre Helden von Melodien ausgerollt werden.

Warum das schon wieder sechs Jahre von einem Notwist-Album bis zum nächsten gedauert hat? Weil die Band mit einer forensischen Genauigkeit laboriert und sich in all dem, was in dieser Zeit verloren und gewonnen wurde, erst zurechtfinden muss. Die stürmenden Popsongs auf CLOSE TO THE GLASS stehen am Ende dieses Prozesses. Aber kann man sich diese Hymnen von einer Festival-Crowd in den Abendhimmel gegrölt vorstellen? Auch 2014 nicht. CLOSE TO THE GLASS besitzt dennoch die Qualitäten eines elektronischen Aufputschmittels für die Kohorte der Mitzweifler, die ihre Sehnsucht nach Hits noch nicht begraben hatten. „Run Run Run“ und nichts wie raus aus den Klammern von Vergleich, Zitat und Verweis. Diese Platte ist ein Ereignis.