Tocotronic – K.O.O.K.
Ewig konnte das nicht so weiter gehen. Die Jugend ist ein kurzes Glück. Wer sie künstlich zu dehnen versucht, an dem haftet schnell ein moderiger Geruch. Die Jugendlichen riechen das sofort und rümpfen ihre Nasen. Tocotronic haben nie gestunken. Sie haben früh begonnen und konnten so mit drei flott produzierten Schallplatten aus dem Vollen schöpfen. Sie dufteten nach aus mittellangem Haupthaar geschüttelten Schweiß, nach naiver Altklugheit, nach praller Ehrlichkeit in großen Gesten. War früher alles besser? Jawohl!“, plärren die jungen Damen in vorderster Zuschauerreihe und fordern für den Zugabenteil „Samstag ist Selbstmord“ und „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht soweit“. „Das spricht aus unserem Herzen, unseren Magengruben und vollgestopften Köpfen!“, rufen sie. Tocotronic schrieben ein paar der großartigsten Songs, die je für bundesdeutsche Heranwachsende verfaßt wurden. Eine klaffende Marktlücke, in der slamdancenden Menge steckend. Ein dicker, bald berstender Wasserschlauch fürs Gemüt. Behüte, Tocotronic wollen sich im Sommer 1999 nicht von all dem distanzieren, nur eben feiner dosieren. Daß Tocotronic jetzt in majestätische butterweiche Waldhörner (arrangiert von Micha Acher von Notwist) blasen lassen, wird dem Stamm noch gelegen kommen; melancholische Hymnen wachsen weiter in den Himmel, kratzen an den Wolken.
Später streicheln sogar tieftraurige Streicher Schwester Selbstmitleid übers Haupt („Morgen wird wie heute sein“). Doch Refrains sind in geworden, Punkrock ist vollständig ausverkauft, die Strukturen brechen auf, und überhitzte Verzerrer erfahren lange Kühlphasen. Fast alles passiert im Midtempo. Im Studio hat man sich viel Zeit – 70 Tage! – gelassen. Dort wurden Gitarrensounds ausdifferenziert. Thies Mynther (Stella) markiert am Synthesizer die Fanfare und legt die Klampfen in analoge Blubberbäder. Das eben auch für Dirk, Jan und Arne interessanter werdende Postrockgefrickel sparen sie sich noch weitgehend für Intros und Instrumentalpassagen auf, doch am Stück läßt sich auf K.O.O.K. gar nichts mehr schlucken. Das gilt auch für die Texte. Kaum etwas erschließt sich noch über einen Slogan, das immerwährende „ich“ wurde durch „wir“, also uns, ersetzt. Wir legen uns auch immer noch gerne ins Gras, trinken warmes Bier, machen es uns bequem in der langweiligsten Gegend der Welt. Doch zuweilen brauchen wir auch Übersetzungen für das, was draußen geschieht. 1:1-Abbildungen wollen nicht mehr genügen. Schwester Selbstmitleid und Meister Maulerei weichen mit hängenden Köpfen den Gebrüdern Alltäglichkeit, Abstraktion, Apokalypse. Schreckliches Erwachsenwerden. Doch Tocotronic geben ja nicht kampflos auf, maulen immer meisterlich. Außerdem soll vor dieser heißen Scheibe ja auch nicht gewarnt werden. Ich möchte sie Euch vielmehr ans Herz legen. Denn da gehört sie hin.