Vic Chesnutt – About To Choke

Jetzt mal im Ernst: Wem sind all diese Rock-Poser mit hochtoupierten Matten und pfundweise Schminke auf den Visagen nicht schon wie Wesen von einem anderen Stern vorgekommen? Mag sein, daß es Spaß macht, solchen Aliens zuzusehen, wie sie sich auf der Bühne zum Affen machen. Aber was – verdammt nochmal – hat das mit unserem Leben zu tun? Mit einem Leben, das einem Falten ins Gesicht gräbt, einen fallen läßt und – mit etwas Glück wieder aufhebt, voller Brüche und doch ungebrochen? Einem Leben wie dem von Vic Chesnutt. Eineinhalb Jahre nach seinem wunderbaren Album IS THE ACTOR HAPPY? legt der Mann aus dem R.E.M.-Dunstkreis erneut eine zutiefst beeindruckende Songkollektion – seine mittlerweile fünfte – vor. „I’m not an Optimist, I’m not a realist, I might be a Surrealist“, singt er augenzwinkernd auf ‚Myrtle‘, dem Opener von ABOUT TO CHOKE, einem fragilen, beinahe kinderliedhaften Song mit vereinzelten Pianoklecksen. Fast ist man versucht, das „süß“ zu nennen. Aber Vorsicht: Vic Chesnutts Süße ist die eines Glases Honig, an dem noch das Eis des Gefrierfaches klebt. Wie kaum ein anderer versteht es der seit 13 Jahren an den Rollstuhl gefesselte Künstler packende Melodien zu schreiben, die er zumeist in zurückhaltende, von Akustikgitarren dominierte Arrangements kleidet. Dazu singt er mit unnachahmlicher Hobo-Stimme von Veränderungen (‚New Town‘), vom Abschied (‚5ee You Around‘) und von den Jungs im Hinterzimmer (‚Tamgon‘). ‚Threads‘ schwebt auf Wolke sieben, ‚Ladle‘ und die Howe-Gelb-Hommage ‚Giant Sands‘ bieten prächtigen Gitarrenlärm: Durch das swingende ‚Little Vacation‘ schlendert ein hinreißender Walking-Baß, gespielt von Ehefrau Tina, während der Herr Gemahl eine zum Schreien komische Posaunen-Imitation losläßt. Das kurze ‚(It’s No Secret) Satisfaction‘ klingt, als würde eine verfremdet-körperlose Stimme von amoklaufenden Küchengeräten traktiert, und zeugt – wie auch viele Texte – von einer wichtigen Wesensart Vic Chesnutts, seinem Sinn für skurrilen bis bissigen Humor.