Wire – Send
„Die meisten Popbands probieren einen Trick aus und stellen fest: Hey, großartig, es funktioniert! Dann beuten sie das eine Weile aus, und bald ist alles vorbei. Wir sind in einer viel gefährlicheren Situation, weil wir überhaupt nicht so denken.“ (Colin Newman) – Es gehört schon was dazu, sich in gehobenem Alter (57, 52, 50, 48) und mit einem goldenen Kult-Pokal fürs Lebenswerk auf dem Kaminsims nicht zurückzulehnen, milde zu lächeln, in Ruhe die alten Geschichten zu erzählen und ab und zu die alten Songs zu spielen. Was treibt Wire? Nein, der Zukunftswahn ist es nicht (mehr), denn nach 35 ist gestern mehr passiert als morgen passieren wird, auch wenn Wire nach wie vor und mehr denn je nichts für Leute sind, die gerne noch ein zweites solides Mainstream-Album im Hause hätten, send klingt wie Science-Fiction-Musik, aber es knüpft an Vorgaben an, die Wire 1976 bis 1980 selbst gesetzt haben und denen tausende Epigonen seither vergeblich nacheiferten. Woher also die wilde Energie, mit der die vier reifen Herren sich in den Wirbelsturm selbst erzeugten Lärms stürzen, als gelte es, alles, was seit damals die Charts gefüllt hat, mit dem eisernen Besen hinauszukehren aus der Welt? Colin Newman nennt drei Elemente: Tempo, Abstraktion und, von Anfang an am wichtigsten: Reduktion. „Ich war ein großer Fan des ersten Ramones-Albums. Die Ramones waren ein Kunstkonzept: Sie reduzierten Rock’n’Roll auf das Minimum. Ich dachte, das kann man noch weiter reduzieren, aber dazu muss man aufhören, Rock’n’Roll zu machen. „Also dringen Wire wie ein entfesselter Drillbohrer ins versteinerte Ohr, und sie kommen näher heran an die Substanz, die Glut der reinen Musik als irgendwer sonst. Die Basis ist, anders als während der elektronischen Irrungen der achtziger Jahre, das genial minimale, rasende Schlagzeug von Robert Gotobed. „Ich bin ein furchtbar langweiliger Mensch“, behauptet Colin Newman. „Ich kann stundenlang dasitzen und Roberts Bumm-Tschack-Bummbumm-Tschak zuhören.“ Aber Newman, Gilbert und Lewis hören nicht nur zu, sondern brettern Melodiefetzen aufs Fundament, die im Hirn explodieren wie winzige Beatles-Bomben und alles wegfegen, was sich dort an klebrigem Grind festgesetzt hat. Jeder Gedanke, den man nach dem Anhören dieser Platte fasst, ist klar, rein und leuchtend. Und der erste lautet: Noch! Mal! Mehr! www.pinkflag.com
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