Rock-Festival in Scheessel


Es war ein Festival der Überraschungen! Die gross angekündigten Attraktionen kamen entweder nicht (Ten Years After, Buddy Miles, Richie Havens, Osibisa) oder enttäuschten die ca. 35.000 Fans, die in die Heide gezogen waren, z.B. Chicago, Lou Reed oder Chuck Berry (wegen frühen Abgangs). Weniger bekannte Bands feierten dagegen um so grössere Erfolge, allen voran Argent, Manfred Mann’s Earthband oder die deutschen Epitaph. Die erwarteten und bezahlten Toilettenwagen kamen nicht, es gab nur 13 schwere Drogenfälle (bei dieser Menge unfassbar), und alles blieb friedlich, selbst wenn sich jede Umbaupause über 1 Stunde hinzog, zuweilen auch noch länger. Schlägereien konnte man so gut wie gar nicht bemerken. Vielleicht lag es daran, dass extra für dieses Festival eine 150 Mann starke Ordnertruppe aus England eingeflogen wurde, die nur in allergrössten Notfällen Gewalt anwandte, sonst aber höflich und trotzdem direkt blieb. Alles Dinge, die zumindest mich überraschten!

FRIEDLICH

Weniger überrascht war ich, als Chuck Berry nach einem kurzen aber heiss umjubelten Gastspiel mit Jerry Lee Lewis (der für Ten Years After kam) die Bühne verliess und nicht mehr gesehen wurde. Vorher hatte er sich natürlich die obligatorische Gagenerhöhung vom Veranstalter erbeten, die er aber offenbar nicht erhalten hatte. Trotz einiger kleiner Mängel fand ich das Festival (bis auf die Umbaupausen) gut organisiert. Die annähernd 40.000 Freaks in der Sonne trugen ihren Teil zum Gelingen bei, indem sie friedlich, harmonisch und meist freundlich blieben. Norddeutschland hatte eben noch kein Starangebot in dieser Grössenordnung gesehen, also ein Grund mehr es zu geniessen! Schon am Tag vor dem grossen Ereignis bildeten sich in den Wäldern und auf den Wiesen um das Stadiongelände einige Zeltstädte und die ganze Nacht über leuchteten Lagerfeuer überall in der Dunkelheit. Als Ersatz für die 6 fehlenden Bands kamen Beggars Opera, J. L. Lewis und Colin Blunstone mit Band. Nicht ganz vollwertig werden die meisten zu Recht sagen, doch wer hatte schon alle angekündigten Gruppen erwartet. Erwartet wurde nur vom Veranstalter eine Zuschauerzahl über 25.000, die er brauchte, um nicht draufzuzahlen. Doch zur Musik!

GLÜCKLOS

Wenig Beachtung fanden die deutschen Jane, die das Festival eröffneten und (wie die anderen Deutsch-Rocker) keinen Pfennig Gage bekamen. Home, meist mit sehr guten Gigs, flippten irgendwie an der fantastischen 30.000 Watt Anlage aus und produzierten reichlich nervende Klänge. Bronco spielte zwar mit 3 Gitarristen, fiel jedoch trotzdem durch. Ebenso Colin Blunstone, der einen guten Tag hatte, aber für diese Umgebung doch zu softly rockte. East of Eden, in fast neuer Besetzung, spielte Montagmorgen als zweitletzte Gruppe und schaffte nicht, was Newcomer Fusion Orchestra nach ihnen auf die Beine stellte. Der relativ kleine Rest von Ausharrenden fühlte sich wie vom Blitz getroffen und erwachte schlagartig, als Multiinstrumentalistin und Sex-Hexe Jill Saward über die Bühne jagte und alle Register zog. (Ich brenne auf die 1. LP von ihnen).

GUTER ERFOLG

Die holländischen Jung-Rock ’n Roller Long Tall Ernie & the Shakers sprangen auf’s Klavier, wälzten sich, brüllten, kämmten sich und das alles zu heissen Elvis-und-so-weiter-Rhythmen. Sie werden Deutschland in diesem Jahr bestimmt noch heimsuchen! Als Beggars Opera mit den ersten Songs gut ankam, freute sich ihr Sänger dermassen, dass er unter dem Applaus der Massen an den ca. 10 m hohen Bühnenaufbauten hochktetterte. ‚One Man Band‘ und Bluesvater Alexis Korner, eigentlich als Ansager engagiert, sollte Pausenfüller sein, wurde jedoch nicht unter 5 Zugaben von der Bühne gelassen. Wenn es einer schaffte, ein gewisses Woodstock-Feeling in die Herzen der Freaks zu setzen, dann war er es. Viele konnten garnicht fassen, dass 2 Jazz Bands wie Soft Machine und lan Carr’s Nucleus ein Rockpublikum, noch dazu auf einem Festival so in ihren Bann ziehen können. Die Soft’s hatten auch echt einen guten Tag und spielten so dicht wie Seiten Odin, eine deutsch/holländisch/englische Rock-Überraschung, hätte es sogar fast auf 2 Zugaben gebracht. Sie haben (wie einige andere deutsche Bands) mit ihrer halb Zappa/ halb Hard-Rock-Musik bestimmt grössere Anerkennung verdient!

ENTTÄUSCHEND

Chicago, im Rahmen ihrer Deutschland-Tour auch in Scheessel, sogar als eine der Dickgedruckten, kam zwar gut an, enttäuschte aber die meisten doch sehr. Irgendwie merkte man, dass sich der Brass-Rock im Stil von Blood, Sweat & Tears langsam totlief. Als ich sie ein paar Tage später nochmals sah, waren sie zwar besser, aber der alte Schwung war hin. Lou Reed gab eines seiner seltenen Europa-Konzerte! Wenige Wochen zuvor erst hatte er eine neue Band zusammengestellt, die fantastisch zusammenspielte. Den meisten der 35.000 fehlte allerdings und offensichtlich jedes Verhältnis zu seiner schon legendären Velvet-Underground-Vergangenkeit. Kein Wunder also, wenn ihm aus dem Pressearreal tosender Applaus entgegenschlug, während ihn von hinten mindestens 20.000 mit einem lauten Pfeifkonzert verunsicherten. Mich hätte sehr interessiert, wie David Bowie hier angekommen wäre!? Wishbone Ash, die wegen eines Krankheitsfalles zuerst nicht kommen sollten, traten doch auf und zeigten allen was man unter guten Rock-Songs verstehen sollte. Sauber gespielt, mitreissend improvisiert und präzise gesungen, bewiesen sie, dass sie immer noch zu den stärksten Live-Bands gezählt werden können.

DIE ATTRAKTION VERSCHWAND

Zum Schluss die 3 Sieger des Festivals, allen voran das Uralt-Rock’n’Roll-Duo Chuck Berry und Jerry Lee Lewis. Lewis begann allein, stieg auf’s Klavier, spielte mit den Füssen, fühlte sich sauwohl dabei und brachte Country-angehauchten Rock’n Roll, den die älteren Jahrgänge bestimmt so gut pfeifen können wie wir die ersten Beatles-Scheiben. Plötzlich tauchte Berry auf und begann auf dem Klavier zu klimpern. Das Volk, das spätestens seit 1 1/2 Tagen bei fast jeder Gruppe ‚Berry, Berry, Berry‘ brüllte, flippte sofort voll aus, ich eingeschlossen. Dieses charmante Lächeln, die Fröhlichkeit und (hoffentlich) Spielfreude mussten einen einfach anstekken. Als fast alle richtig warm geworden waren, verschwand er so unerwartet wie er gekommen war. Kurz darauf folgte ihm Lewis mit seinen Mannen. Mit einem ohrenbetäubenden Getöse, Gepfeife und Rumoren machten sich die aufgestauten Agressionen der 2 Tage Luft! Und das zu Recht! Die in Deutschland noch wenig bekannten Argent spielten wohl den saubersten, vitalsten, bestarrangierten Rock des Festivals und wurden dafür belohnt. Sie werden mit Sicherheit in den nächsten Wochen mehr LP’s verkaufen als in den Jahren davor. Rod Argent’s Orgel- und Synthesizer-Klänge legten sich (aufgrund der traumhaft eingestellten Monster-Anlage) wie ein Teppich über das friedliche Gelände. Der dreistimmige Gesang war so klar, rein und exakt, dass es einem vor Freude fröstelte. Man wird bestimmt noch viel von ihnen hören. Die 3. Überraschung bot Epitaph, eine deutsche (ja, Ihr seht schon richtig!) Rockband. Noch Nachts um 3 Uhr schafften sie es, die Leute zum Mitklatschen zu bewegen und trieben ihnen den Schlaf aus den übermüdeten Augen. Von ihrer dynamischen Bühnenshow bekamen die, die etwas weiter hinten sassen allerdings nicht viel mit (‚Also lohnt es sich doch, Deutsch-Rock anzuhören!‘) Trotz des riesigen Müllberges, der sich nach den beiden Festival-Tagen angesammelt hatte, sah das Gelände in der aufgehenden Montag-Morgen-Sonne immer noch recht friedlich aus. Wie ich annehme, hatten sich die meisten Beteiligten vorgenommen, ein ruhiges schönes Festival zu erleben. Und sie haben es geschafft!!!