Schwarz und Stark


Der Grundstein für den Rock'n'Roll wurde in Chicago gelegt: Bei Chess Records nahmen Pioniere wie Muddy Waters und Chuck Berry ihre Klassiker auf. Die Geschichte einer Legende.

AUSSERIRDISCHE LANDEN HUF UNSEREM PLANETEN UND SPRECHEN EINEN

Passanten an: „Sei gegrüßt, Hrdling. Wir sind ganz verrückt nach ‚Johnny I B. Coode‘, einem intergalaktisch guten Song. I labt ihr noch mehr von diesem Zeug?“ Alberne Geschichte? Mag sein. Aber eine mit realem Hintergrund. Denn seit 1977 rast eine Voyager-Sonde auf der Suche nach fremden Galaxien durchs All, eine Friedensbotschaft der Erdbevölkerung an Bord – und Musik: Beethovens Neunte und die Single „Johnny ß. Goode“ von Chuck Berry. Erschienen 1958. Bei Chess Records, l.abelnummer 1691.

Die Kracht beweist: Der L’influss, den diese Plattenfirma von der Chicagoer Southside auf die moderne Popmusik ausübte, ist kaum zu überschätzen. Bei näherem Hinsehen wird sogar deutlich, dass auch wer folgendes behauptet, nicht übertreibt: Ohne Chess hätte es vermutlich weder die Yardbirds gegeben noch Them, weder Led Zeppelin noch Fleetwood Mac, Eric Clapton wäre kaum „Slowhand“, geschweige denn „God“ geworden, Rory Gallagher nicht aus Irland heraus und die Herren lagger, Richards, lones und Watts aus Dartford, Cheltenham und Islington nicht so weit herum gekommen. Ohne Chess, das ab Ende der 40er Jahre Außenseiter zu Stars, archaische Blues-, Gospel-, Soul-, Rhythm’n’Blues- oder Rock‘ n‘ Roll -Songs zu Hits formte, wäre vieles, wenn nicht alles in der populären Musik anders gekommen. Sehen wir also einfach mal näher hin.

Es ist das lahr 1928, als der zehn Jahre alte Leonard Chez und sein drei Jahre jüngerer Bruder Philip an der Hand ihrer Mutter in Chicago aus dem Zug steigen. Der bitteren Armut in Polen wollen sie entfliehen und kommen buchstäblich vom Regen in die Traufe. Denn die kommende Weltwirtschaftskrise hält auch die „Windy City“ am Ufer des Michigansees fest in ihren Klauen. Vater Chez arbeitet schon seit 1921 als Zimmermann in Chicago, hat den Familiennamen längst in „Chess“ amerikanisiert, und jetzt, nach einer Frist von sieben Jahren, darf endlich seine ganze Familie nachziehen und erhält dank des „Naturalizaüon Acts“ die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nach der Schulzeit findet Phil einen Job bei der Eisenbahn, ehe er für dreieinhalb Jahre zur Armee geht. Leonard baut unterdessen mit dem sicheren Instinkt des Selfmade-Mannes in der Chicagoer Southside ein Ideines Imperium aus Bars und Kneipen auf. I.ive-Entertainment heißt in diesen Jahren das Zauberwort. Die Rechnung ist einfach: Wer arm ist, will dem Alltag für ein paar Stunden entfliehen, entweder auf der Bühne oder davor. Lind arm sind viele in diesen Tagen.

Zumeist sind es Schwarze, die auf der Suche nach einem Job aus dem Süden in die Metropolen des Nordens gekommen sind, tagsüber in der Fabrik arbeiten, nachts in Läden wie dem „Mocambo“ oder dem „708 Club“ der Gebrüder Chess – Phil ist mittlerweile Teilhaber – den Blues spielen und sich so ein paar Bucks dazuverdienen. Einer von ihnen ist McKinley Morganfield, den sie schon zuhause in Clarksdale/Mississippi immer „Muddy Waters“ gerufen haben. 1943 ist er nach Chicago gekommen. Zwölf Stunden am Tag schuftet er in der Fabrik, danach singt er sich in Clubs die Seele aus dem Leib und schrammelt auf seiner Gitarre. ZweckJos. Stimmengewirr und Gläserklirren, Flüche und Fausthiebe, Schreie und – gelegentlich – Schüsse: Der Lärmpegel ist hoch, die Musik kaum zu hören. Aber es gibt ja Elektrizität. Und mit Hilfe erster, noch primitiver Verstärker wird diese laut, ist bald nicht mehr zu überhören – an die Stelle des ruralen Country- tritt fortan der urbane Chicago-Blues.

All das verfolgen Leonard und Phil Chess mit wachsendem Interesse. Vor allem der Ältere scheint das Geschäft förmlich zu wittern, und so steigen sie 1947 bei Aristocrat, dem Blues-, Jazz- und Rhythm’n’Blues-Label von Charles und Evelyn Aron ein. Aufnahmen finden zunächst im Universal Recording Studio statt, das bei Bedarf für drei Stunden angemietet wird. An Musikern mangelt es nicht. Der erste Chess-Star heißt Muddy Waters. Sein Debüt „Gypsy Woman“ ist noch ein Flop, „I Can’t Be Salisfied“ läuft schon besser, „(1 Feel Like) Going Flome“ belegt schließlich 1948 Platz elf der Billboard-R&B-Charts. Ein Anfang ist gemacht. Der knallharte, aber faire, bei manchen seiner Künstler allerdings als wahrer Sklaventreiber verschriene Leonard und Phil, der sanfte, stets im Schatten seines älteren Bruders stehende, haben bald schon allein das Sagen bei Aristocrat und zahlen die Arons aus. Am 3. Juni 1950 benennen sie das lsabel in Chess um und gründen alsbald Sublabel wie Cadet oder Checker. Aus Geschäftssinn, weil, so Phil, „du keinen Disc Jockey dazu kriegen konntest, immer nur Songs einer Plattenfirma zu spielen. Kam gar nicht in Frage. Also wurden Ableger gegründet.“

Völlig legal – jedenfalls bis zum Korruptionsskandal und dem Beginn der sogenannten „Payola-Hearings“ im US-Senat am 6. Februar I960 – ist es damals auch, DJs einen Stapel der neuesten Platten auf den Tisch zu legen und ein paar DoJIarscheinchen daneben. „Airplay war auch damals der Schlüssel zum Erfolg“, erinnert sich Leonards Sohn Marshall (Jahrgang ’42), der Dad schon als Kind bei den Fahrten quer durchs Land begleiten darf und miterlebt, wie sein Vater einem Disc Jockey in Mobile/Alabama einige Platten plus die üblichen Bakschisch-Bucks vorbeibringt und verkündet, man werde nach New Orleans weiterfahren. Marshall Chess: „Von wegen New Orleans. Mein Vater fuhr ins nächste Motel, schaltete das Radio ein, rauchte eine Zigarette nach der anderen und wartete, dass unsere Songs gespielt wurden. Doch nichts passierte. Da hättest du ihn erleben sollen. Nichts wie zurück zum Sender, rein in den Kontrollraum und dem Typen

In den Jahren ordentlich Bescheid gestoßen.“ Der Erfolg soll sich prompt eingestellt haben. Nicht alle Überlandfahrten laufen so launig ab. „Es war in Muscle Shoals/Alabama“, erinnert sich Marshall Chess, „bei einem Auftritt von Bo Diddley. Diddleys Maraccas-Spieler lerome Green sprang plötzlich von der Bühne und tanzte mit weißen Mädchen. Kurze Zeit später kamen ein paar Deputies mit Hunden rein, erklärten die Show für beendet und verhafteten uns alle. Mich schubsten sie gegen die Wand und brüllten Wenn du dich weiter mit Niggern rumtreibst, lüde, sperren wir dich ein und schmeißen den Schlüssel weg‘. Das haben die tatsächlich zu mir gesagt, in den USA im Jahr 1960.“

Doch zurück in die Frühzeit von Chess und damit zu Muddy Waters, dessen Narne untrennbar mit der Erfolgsgeschichte des Labels verbunden ist und der auch beim kleinen Marshall Chess einen unauslöschlichen Eindruck hinlerlässt. „Ich weiß noch, als ich Muddy zum ersten Mal gesehen habe. Er führ in einer schwarzen Limousine vordem Haus meines Vaters vor, kam auf mich zu mit seiner verrückten Frisur und in seinem dunklen Anzug, der im Sonnenlicht schimmerte, und mir kam es vor, als wäre eben ein Raumschilf gelandet und ein Außerirdischer ausgestiegen.“ Im Gefolge McKinley Morganneids finden immer mehr schwarze Bluesmusiker den Weg zu Chess Records; manche – John Lee Hooker, Sonny Boy Williamson oder Big )oe Williams – bleiben nur kurz; manche für lange Zeit, wie Linie Walter lacobs, der Harmonika-Genius; wie ehester Burnett alias Howlin‘ Wolf; wie Bo Diddley; und wie der vielleicht wichtigste von allen: der Bassist, Komponist, Arrangeur, Produzent Willie Dixon, Herz und Hirn zahlloser Chess-Sessions, ein Mann mit vielen Talenten. Von einem ganz besonderen erzählt Marshall Chess heute noch schmunzelnd: „Willies lob war es auch, die Band ins Studio zu kriegen, was nicht einfach war. Denn keiner der lungs hatte Telefon, aber jeder mindestens fünf Freundinnen. Lind nur Willie wußte, wer an welchem Wochentag bei welcher Frau war. Vor Sessions zog er also wie ein Detektiv los und trommelte die Musiker zusammen.“

1949 bis 1954 ist Chess das wichtigste Pop-Label der Welt. Dank eines nahezu perfekten Timings, denn Chess erwischt die erste junge Generation, die sowohl Unabhängigkeit wie auch Kaufkraft besitzt, mit einer Musik, einem speziellen Sound, der sich anhört, als könnte ihn jeder spielen. Oder es zumindest versuchen. Und der, während andere Labels schon auf die größeren Formate EP oder LP setzen, immer noch als Single, als Zweieinhalb-Minuten-(ukebox-Knaller, daherkommt. Erst 1956 bringt Chess auf dem Jazz-Sublabel Argo die erste Langspielplatte heraus. Aber jetzt – Mitte der Fünfziger – ist ohnehin vieles anders, der Blues längst nicht mehr die alleinige Basis für den Erfolg von Chess. Man besitzt eigene Studios, die Aufnahmesessions werden erheblich entspannter, das Spektrum wird breiter. Vokalgruppen wie die Flamingos oder die Moonglows gehören zur Familie, auf Argo finden sich )azz-Koryphäen wie Sonny Stitt. Und dann ist da noch dieser junge Typ aus St. Louis, der – ermutigt von Muddy Waters – eines schönen Montags im Mai 1955 bei den Chess-Brüdern hereinschneit und einen Song namens „Ira Red“ zum Besten gibt. Um ehrlich zu sein: So richtig klasse finden’s die Beiden nicht, zu countrylastig auch, aber wenn man hier etwas umarbeiten und dort etwas hinzufügen könnte… Der lunge arbeitet um, fügt hinzu, das Ding bekommt einen neuen Titel („Maybellene“), wird aufgenommen (in – so die Legende – 144 Takes), und ab geht die Post. Ergebnis: Platz eins der Billboard-R&B-Charts, der erste in einer schier endlosen Reihe von Hits. Leonard und Phil hatten wieder einmal den richtigen Riecher, denn ihr neuer Schützling Chuck Berry transzendiert Rhythm’n’Blues in etwas noch nie Dagewesenes. Lim mit Muddy Waters zu sprechen: „The blues had a baby and they named it Rock’n’Roll.“ 1957 bezieht das Kuh-Label schließlich ein repräsentatives Domizil: Das Haus mit der Adresse 2120 South Michigan Avenue, dem die Rolling Stones später das gleichnamige Instrumental auf dem “ 12×5″-Album widmen, wird prompt zur Pilgerstätte. Vorbei und vergessen sind Leonard Chess‘ Liberlandfahnen, die Plattenverkäufe aus dem Kofferraum, die Akkordmaloche in fremden, sündhaft teuren Studios, die Konferenzen in Hinterzimmern. Chess ist oben. Ganz oben.

Was gelegentliche Probleme für alte Wegbegleiter mit sich bringt. So wird Sonny Boy Williamson eines Tages von einer übereifrigen Sekretärin der Zutritt zum Chess-Gebäude verweigert. Weil ein neues Sicherheitssystem installiert worden ist, kann Sonny Boy nur per Gegensprechanlage Dampf ablassen. „Lass mich rein, verdammt noch mal, ich hab‘ diesen Scheißladen mit aufgebaut“, ruft er. Antwort: „Fluchen Sie nicht, wir haben einen Rabbi hier.“ Darauf Mr. Williamson: „Scheiß auf den Scheißrabbi, der ist auch bloß hinter Geld her, genau wie ich. Und jetzt mach‘ diese Scheißtür auf.“ Wesentlich gesitteter soll es dagegen zugegangen sein, als die Stones 1964 das Reich ihrer Cötter besuchten. Den legendären Chess-Tongenieur Ron Malo an ihrer Seite, nehmen die blassen Briten hier 16 Songs auf. „Sie wollten den typischen Chess-Studio-Sound hinkriegen“, wundert sich Marshall Chess. „Dabei ist die Art, wie du spielst, viel wichtiger als Studio oder Equipment.“ Und erzählt von „diesem Bluesharp-Spieler, der mich mit seinen Anrufen in den Wahnsinn getrieben hat. Ständig wollte er wissen, welches Mikro Linie Walter beim Harmonikaspielen verwendet. Irgendwann hab‘ ich Walter gefragt, nur um meine Ruhe zu haben.“ Lind die Antwort des – einigermaßen irritierten – Bluesers? „Ich nehm‘ einfach das, das ich gerade nicht verpfändet habe.“ Doch derlei pragmatischer Sichtweisen zum Trotz werden romantisierende Wallfahrten auf der Suche nach dem Spiritus loci zum Ritual unter bluesenden Bleichgesichtern. Fleetwood Mac und etliche andere hoffen im Chess-Gemäuer auf Inspiration oder auch nur ein Schulterklopfen der schwarzen Großmeister. Beides meist vergeblich.

Ab Mitte der 60er lahre sind die fetten Jahre vorbei. Chess setzt stärker auf Gospel, Pop und Soul (mit Koryphäen wie Fontella Bass, Etta lames oder Billy Stewart), ein Metier, in dem jedoch Atlantic und Motown erfolgreicher arbeiten. Zudem übernimmt die weiße Rockmusik zunehmend das Kommando. Versuche, sich dem Zeitgeist anzupassen und beispielsweise Muddy Waters auf dem Album „Electric Mud“ eine Art psychedelischen Hippie-Blues spielen zu lassen, schlagen fehl. Kurz: Der Niedergang ist kaum aufzuhalten, die Protagonisten verlieren Lust und Biss, ihren Avantgarde-Status sind sie ohnehin schon länger los. Das Ende vom Lied: Leonard und Phil Chess verkaufen ihre Firma 1969 an General RecordedTape (GRT) und erhalten dafür 6,5 Millionen Dollar und 20 000 freilich bald wertlose GRT-Aktien. „Leonard war einfach müde“, sagt sein Bruder Phil heute, „ich hätte nie verkauft. Ich hab‘ die Arbeit genossen. Es war eine Menge Arbeit, es war hart, aber ich hab’s genossen. Dieses Gefühl am Ende einer Session, wenn wir wussten: Das wird ein Mit.“ Leonard Chess muss den Niedergang seines Lebenswerkes nicht mehr miterleben. Erstirbt im Oktober 1969.

Die Chess-Story ist geschrieben. Was bleibt, ist die Musik. Lassen wir das Schlusswort dem heute 57-jährigen Marshall Chess: „Unsere Firma hat das Ixben all derer verändert, die unsere Musik gehört haben. Und die Vorstellung, dass irgendwo da draußen eine Sonde mit einer Chess-Single von Chuck Berry in neue Galaxien vorstößt: Mann, das ist für mich das Höchste überhaupt.“