Jubiläum

Die schönste Fußnote der Rockgeschichte: Vor 20 Jahren erschien Semisonics „FEELING STRANGELY FINE“


Geliebt und unterschätzt: Vor 20 Jahren schuf Dan Wilson mit Semisonic kleine Powerpop-Hits wie „Closing Time“ und „Secret Smile“. Danach schrieb er noch ein paar größere Nummern.

Am 24. März 1998, also vor fast genau 20 Jahren, wurde die Pop- und Rockgeschichte um einer ihrer schönsten Fußnoten erweitert: Semisonic, eine bis dahin eher, Achtung, semierfolgreiche Band aus Minneapolis, veröffentlichten ihr zweites Album FEELING STRANGELY FINE. Viva-Zwei-Zuschauer und College-Radio-Hörer dürften jetzt leuchtende Augen kriegen: Mit „Closing Time“ und „Singing In My Sleep“ hatte Songwriter und Sänger Dan Wilson nicht nur mindestens zwei veritable Airplay-Hits geschrieben, sondern auch bewiesen, wie klischeefrei man Ende der Neunziger Powerpop definieren konnte: Semisonics Sound hatte sich vom Alternative Rock seines Umfelds reingewaschen, verzichtete auf jede Weezer-eske Ironiefalle und ließ nebenbei Platz für so unprätentiöse Liebeslieder wie „Secret Smile“. Kurzum: FEELING STRANGELY FINE war ein Album, das nie vollends durch die Decke ging – aber all denen, die es unter ihrer Decke hörten, ein paar schöne Stunden bereitet haben dürfte.

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2001 veröffentlichten Semisonic den Nachfolger ALL ABOUT CHEMISTRY, im gleichen Jahr lösten sie sich auf. Songwriter Dan Wilson hat seitdem Karriere im Hintergrund gemacht: Er schrieb Songs für P!nk, Dixie Chicks, Taylor Swift, Chris Stapleton und Adele, unter anderem ihren Hit „Someone Like You“. Hier eine Übersicht der Songs, die er mitgeschrieben oder produziert hat, darunter auch Namen wie Nada Surf, K. Flay, Birdy, John Legend und Weezer (!). Außerdem veröffentlichte er drei Soloalben. 2017 taten sich Semisonic erstmals seit 16 Jahren wieder zusammen und spielten ein paar Live-Konzerte.

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Dieser Tage, da FEELING STRANGELY FINE 20-jähriges Jubiläum feiert, hat Wilson mit Radiomoderator Kyle Meredith auf 91.9 WFPK in Louisville ausführlich darüber gesprochen. Im Interview geht es aber auch um Wilson Vorliebe für Father John Misty und neue Musik, die er für Phantogram, Vance Joy und Halsey produziert.

Hört das vollständige Interview hier:

https://youtu.be/51N1Y-Vg7Hc

Fundstück aus dem ME-Archiv: Was wir 2001 über Semisonic schrieben

Wir haben wegen des 20-jährigen Jubiläums von FEELING STRANGELY FINE selbst in unserem Archiv gekramt und einen Text hervorgeholt, den ME-Autor Marcel Anders im Jahr 2001 über Semisonic schrieb. Hier ist er:

Die Kinder des College-Rock

Der Schein trügt. Wer hinter den Denkern von Semisonic spröde Kopfnaturen vermutet, der irrt gewaltig. In ihren Songs nämlich regiert von jeher das Spiel mit der Erotik.

Dan Wilson ist der Traum aller Schwiegermütter: ein charmanter Frühdreißiger, der seit Mitte der 90er Jahre als Mastermind einer außergewöhnlichen Band fungiert – Semisonic. Das Trio aus Minneapolis verbirgt seinen musikalischen Ansatz schon im Namen – leise und verhalten, aber doch nicht ohne Ecken und Kanten tönt der Dreier. Und damit haben es Dan und seine Mitstreiter John Munson (Bass) und Jake Slichter (Drums) weit gebracht, zumindest in den USA. Dort gelten Semisonic seit dem ’98er-Bestseller „Feeling Strangely Fine“ als veritable Größe unter den Popmusikanten. Wohl auch deshalb, weil die Band keinen handelsüblichen Alternative Rock anbietet, sondern das fortsetzt, was in den 80ern von R.E.M. oder den Replacements ausging: Spielwitz und akzeptable Texte.

Kein Wunder, Semisonic sind Kinder des College-Rock. Ihre Heimatstadt Minneapolis gilt neben Boston als Hochburg der einschlägigen Szene „Nicht erstaunlich“, lacht Dan, „hier ist es sechs Monate im Jahr so kalt, dass du kaum nach draußen kannst. Also stürzt du dich auf handwerkliche Arbeiten, oder du schreibst Songs. Und was die 80er angeht, das war eine wirklich aufregende Zeit.“ Wilson muss es wissen, denn damals, noch an der Highschool, gründete er die Band Trip Shakespeare, veröffentlichte mit ihr zwei Alben und durfte sogar mal in Prince‘ legendären Paisley Park Studios aufnehmen: „Wir waren fast drei Monate dort, aber in all der Zeit hat Prince nicht ein Wort mit uns gewechselt. Wir haben ihn immer wieder auf dem Gang getroffen. Aber er hat uns völlig ignoriert.“

Das Spiel mit der Erotik ist längst zum Markenzeichen von Semisonic geworden

Genau wie der gemeine Musikkonsument. Denn auch nach der Umbenennung von Trip Shakespeare in Semisonic blieb der gewünschte Erfolg aus. Im ersten Anlauf jedenfalls. Das Debüt-Album („Great Divide“/1996) lag wie Blei in den Regalen. Was im Nachhinein nicht weiter verwundert: Denn statt wie Green Day, Offspring, Foo Fighters oder Smashing Pumpkins flotte, freche Songs mit großem Radio-Appeal zu schreiben, schufen Semisonic lieber verquere kleinen Popjuwelen, die zwar handwerklich solide waren, aber nicht wirklich kommerziellen Appeal besaßen.

Dabei ließ die Plattenfirma nichts unversucht, um das Trio zu pushen. Mit Auftritten bei Festivals etwa und langen Promotionreisen. Zunächst jedoch vergebens. „Ich hatte wirklich gedacht, das Album sei voller Hits“, erzählt Dan Wilson rückblickend, „aber irgendwie war ich wohl der Einzige, der das so empfunden hat. Wahrscheinlich waren wir einfach zu simpel und zu nett.“ Das nahm der Songwriter sich zu Herzen. Und zwar so sehr, dass er fürs nächste Werk gleich einen Ohrwurm nach dem anderen verfasste: „Closing Time“, „Never You Mind“, „Secret Smile“, „She Spreads Her Wings“. Opulente Popsongs allesamt, die von gefühlvollen Melodien, cleveren Arrangements, ergreifenden Refrains und last but not least auch von spannenden Inhalten leben. Denn bei allem Wohlklang: Unter der schönen Oberfläche brodelt es gewaltig. Wilson singt von sexuellen Fantasien und genüsslich begangenen Sünden. Zurückhaltend und dezent zwar, aber trotzdem frivol.

Die Mischung macht’s

Das Spiel mit der Erotik ist längst zum Markenzeichen von Semisonic geworden. Auch ihr neues, drittes Album „All About Chemistry“ ist voll davon. Die Erklärung dafür ist vergleichsweise simpel. „In den letzten Jahren“, so Wilson, „war unser Leben eine einzige große Party. Und dabei ist eben auch immer eine gewisse Portion Lust im Spiel gewesen.“ Hausgemachte, möchte man meinen, denn Wilson ist seit fünf Jahren verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Sein jüngstes musikalisches Kind, „All About Chemistry“ eben, wartet derweil mit ein paar wichtigen Neuerungen auf: von Samples und Loops bis hin zum Einsatz von Streichern, Klarinetten und Klavieren.

Die Mischung macht’s. Und was dem weiteren Erfolg von Semisonic sicher auch nicht abträglich sein dürfte, ist die Tatsache, dass die US-Ikone Carole King auf dem neuen Album ein Gastspiel gibt. Unterm Strich ist denn auch Dan Wilson zufrieden: „Früher hatten unsere Songs etwas von einem kunstvollen 16-Millimeter-Film in Schwarz-weiß. Diesmal dagegen erinnern sie eher an einen großzügigen Farbfilm mit viel Dynamik. Es sind eben Lieder, die frisch und spannend klingen und nichts mit diesem langweiligen Modern-Rock-Ding zu tun haben.“ Aus gutem Grund, denn gegen Kategorien und Schubladen wehren Semisonic sich schon seit Jahren. Mehr noch: Mit ihrer offenkundigen Vorliebe für Velvet Underground, Beatles und Beach Boys bilden sie fast schon so etwas wie eine musikalische Opposition. (Marcel Anders)