Seven Nation Army


Verschwörungstheorien! Politik! The White Stripes! Ein Gespräch mit The Roots braucht keine HipHop-Klischees.

?uestlove hat eine These, die, in Verbindung mit einer höchst faszinierenden Verschwörungstheorie, reichlich Sprengkraft besitzt: Sind in den USA die Republikaner an der Macht – so lautet die These -, spielen die farbigen Künstler dort die bessere Musik. „In 90 Prozent aller Fälle holt eine soziale Depression das Beste aus den Farbigen heraus“, erklärte der Schlagzeuger und Sprecher des HipHop-Kollektivs The Roots erstmals vor zwei Jahren. „Reagan und [George] Bush haben uns die besten Jahre des HipHop beschert. Hätten Carter und Mondale gewonnen – oder wenn Jesse Jackson von ’84 bis ’88 Präsident gewesen wäre-, dann hätte sich HipHop völlig anders entwickelt oder würde gar nicht erst existieren. Ich glaube, dann gäbe es mehr schwarze Tom Waitses und schwarze Joni Mitchells. (Wynton) Marsalis‘ Alben wären Doppel-Platin.“ Und weil der ehemalige Kunststudent aus Philadelphia selten ein Blatt vor den Mund nimmt, ging er in seinen Ausführungen 2002 gleich noch einen Schritt weiter: „Es ist Blasphemie, das auszusprechen, aber Kokain ist für die HipHop-Bewegungverantwortlich -Rap ist die direkte Folge. Hätte Jesse Jackson 1984 die Wahl gewonnen, ichglaube nicht, dass erden Niagara-Fall-artigen Hereinbruch der Crack-Epidemie über die Ghettos zugelassen hätte. Politisch korrekt formuliert könnte man sagen, dass Reagans .Vernachlässigung der Innenstädte‘ für HipHop verantwortlich ist. Die Rahmenbedingungen, die Crack-Kokain mit sich gebracht hat, waren für die Entstehung von HipHop essenziell: Schnelles Geld in Zusammenhang mit Gewalt und Verbrechen. Die Geschichten, die Crackgeschrieben hat, waren Geburtshelferfür HipHop. Undda kommt meineVerschwörungstheorie ins Spiel: Etwasso Gefährliches lässtsich nicht ohne genaueste Planung entwickeln. Ich glaube nicht, dass Crackper Zufall über uns gekommen ist.“

Da auch George W. Bush Präsident Amerikas in die Geschichte eingehen wird, der sich um die Verbesserung der sozialen Situation der afroamerikanischen Bevölkerung verdient gemacht hat, ist Ahmir „Puestlove“ Thompson dieser Tage recht gesprächig. Als wir ihn im Juni bei Rock am Ring treffen, treibt er sich geschäftig im Backstage-Bereich herum, hält hier und da ein Schwätzchen und verschwindet erst dann recht plötzlieh in seiner Garderobe, als ihm sein Management eröffnet, dass er zwischen dem Gespräch mit dem ME und dem Auftritt seiner Band noch ein Interview mit „Top OfThe Pops“ über sich ergehen zu lassen habe. „Ich fass es einfach nicht“, sagt er kopfschüttelnd, hängt seine Jacke auf einen Bügel, zieht den Kamm aus dem gigantischen Afro und lässt sich mit einem tiefen Seufzer auf einen Stuhl fallen. Dann beginnt er plötzlich zu lachen: „Wir sind in ,Top Of The Pops‘, wir haben ’s geschafft.“ Da er später im Teenie-Programm noch Gelegenheit genug haben wird, das neue und reichlich famose Roots-Album THE tipping POINT zu loben, behandeln wir dieses Thema nur kurz – (die ersten Songskizzen entstanden in Sessions mit Musikern wie Vernon Reid, John Mayer und The Neptunes; ?uestlove lieferte am Schlagzeug die Beats und musste mehrfach eingreifen, um „exzessives, zielloses Gegniedel“ zu unterbinden, da das erklärte Ziel war, ein Album so schlicht und perfekt wie Stevie Wonders inner visions, Princes purple rain oder The White Stripes‚ elephant einzuspielen; crotzdemaber ist the tipping POINT, obwohl das Hauptaugenmerk „mehr denn je“ dem Songwriting galt, noch immer ein klassisches HipHop-Album:

„Wir sind kluge Geschäftsmänner und wissen, dass unsere Fans noch nicht für Experimente reif sind. Sonst würde ich sofort ein Tribute-Album für die Siluer Apples machen“) -, um uns dann den Inhalten widmen zu können, die Puestlove mit weit mehr Eifer diskutiert.

musikexpress: Ist die These vom Zusammenhang der Regierungspolitik und der Qualität schwarzer Musik auch unter George W. Bush zu halten?

?uestlove: Es ist sicher kein Zufall, dass die Dilated Peoples so viel Erfolg haben, dass Talib Kweli inzwischen in fast jedem Haushalt ein Begriff ist und dass Kanye West tolle Songs schreibt. Auch Jay-Z bewegt sich langsam wieder zurück auf die „linke“ Seite, obwohl er in den 9oern immer an seinem Standing auf der „rechten“ gearbeitet hat. The Roots, Black Eyed Peas, Outkast – viele andersdenkende Acts bekommen Aufmerksamkeit im Mainstream. In welcher Hinsicht hat sich die Situation der Afroamerikaner seit Clinton verändert? Während Clinton regiert hat, haben alle Farbigen wie bescheuert zu feiern begonnen. Wir ha ben uns alle gefreut und gefreut, und ich hab mir gedacht: Was soll der Scheiß? Die Zeiten sind härter geworden, aber keiner nimmt davon Notiz. Wir haben uns sicher gefühlt, weil wir der Ansicht waren, „einer von uns“ sitze im Wei ßen Haus. Aber weit gefehlt! Dann hat George W. Bush die Präsidentschaft gestohlen, und ich bin fast sicher, dass er versuchen wird, auch die nächste zu stehlen. Wenn es 49% zu 51% steht, glaubst du, dass George W. dann zusehen wird, wie das Pendel wegen nur zwei Prozent in eine andere Richtung schwingt? Oh nein.

Für die Kunst wäre das deiner Meinung nach ja nicht das Schlechteste…

Ich würde mir wünschen, dass Armut nicht so großen Einfluss daraufhätte, wie sich jemand ausdrückt. Aber Reagans Sozialpolitik hat HipHop hervorgebracht. Und man kann hören, dass es den Künstlern damals ums nackte Überleben ging. Ich glaube nicht, dass NWA straight outta COMPTON aufgenommen haben und sich dabei dachten: Millionen weiße Kids werden den Shit kaufen, und dann ziehen wir nach Beverly Hills und pflegen genau die Lebensweise, gegen die wir protestieren.

Was passiert, wenn im Herbst doch die Demokraten übernehmen ?

Hmm … weißt du was? Mir kommt es vor, als ob wir George W. Bush schon acht Jahre gehabt hätten, – so viel Schaden hat er angerichtet. Wenn Bush nicht mehr Präsident ist, werden wir wohl alle wieder zu feiern beginnen, als ob wir auf dem Set von „Shrek“ wären. Alle werden tanzen. Aber auch wenn Kerry das Amt übernimmt – ändern wird das gar nichts.

Erlebst du im Musikbusiness Rassismus ?

Dauernd. Die Leute verstecken sich immer dahinter, was angeblich der Geschmack des Publikums ist, aber da wird mit zweierlei Maß gemessen. Es ist zur Zeit leichter für The Yeah Yeah Yeahs, die nur 70 000 Platten verkaufen, auf den Titel von [dem US -Magazin] „Spin“ zu kommen, als für uns, obwohl wir inzwischen eine Million verkaufen. Wären wir weiß, wir wären The Strokes des HipHop. Total übergehypt. Stattdessen fragt man mich immer: „Wo ist die PJ Harvey des HipHop? Wo sind die Simon &. Garfunkel des HipHop?“ Wenn du die PJ Harvey des HipHop suchst, dann schau nach Jean Grae. Aber über die findest nur was im Internet [- und auf der neuen Roots-Platte, auf der sie gastiert]. Sie wird nie wirklich bekannt werden, weil sie nicht ihre Euter raushängt wie Lil‘ Kim. Talent ist nicht das entscheidende , Kriterium im Entertainment-Business.

Du hast lange versucht, die Kritiker zu durchschauen. Kaufst du noch immer jedes Album, das als Meisterwerk bezeichnet wird?

Ich hol mir die Platten, über die man gerade spricht. Zum Beispiel hab ich mir – weil ich viel darüber gelesen habe und mich die White-Stripes-Platte sehr beeindruckt hat-das Album gekauft, das Jack White mit Loretta Lynn gemacht hat. Und die Lady hat einen neuen Fan in mir! Die ist 70, klingt wie Mitte 40 und, hey, über was für Themen die singt – die ist „gangster“. Die Frau ist seit 50 Jahren im Geschäft, und ich hab ein halbes Jahrhundert Gangster-Shitverpasst! Jack White hat seine Hausaufgaben gemacht, da bin ich echt neidisch. Jetzt bin ich gespannt, was Rick Rubin mit Johnny Cash gemacht hat. „Rolling Stone“ hat Cash fünf Sterne gegeben … das haben davor, glaub ich, nur Dylan, Beck und Springsteen geschafft.

Muss sich der HipHop öffnen, um zu überleben ? Timbalond will mit Coldplay arbeiten…

Ja, das hab ich gelesen, (lacht kopfschüttelnd in sich hinein) Das ist das Schöne an schwarzen Musikern: Wir posaunen unsere Liebe zu Künstlern heraus, bis uns die Luft wegbleibt. India.-Arie hat diesen „Stevie-WonderfuT‘-Song, jetzt hat Brandy mitTimbaland einen Titel gemacht, der „Coldplay“ heißt… Ich liebe Coldplay. PA-RACHUTES war auf jeden Fall wichtig für mich, weil es 2000 das erste Album war, bei dem mir aufgefallen ist, dass es unter 45 Minuten lang ist. Aber der Song ist ein seltsames Experiment. Ich hoffe, dass er gut klingt. Wenn ja, dann muss ich vielleicht einen machen, der „Living In The Streets“ heißt. Oder „I Can’t Live Without My Radiohead“. Wir werden sehen, haha!

Vielen Dank für das Gespräch.