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Sex And The Cities: So flirtet die Großstadt


Anna ist nach New York gezogen, Gaurav nach Berlin. Sie sind jung und attraktiv. Zumindest dachten sie das. Denn plötzlich interessiert sich das andere Geschlecht nicht mehr für sie. Langsam erkennen die beiden, dass in manchen Städten völlig andere Flirt-Regeln gelten.

Der österreichisch-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick befasste sich bereits 1976 mit dem Problem. In seiner Studie „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ erklärte er interkulturelle Unterschiede zwischen Amerikanern und Engländern. Bei beiden erfolgt die Annäherung in etwa 30 Schritten – vom ersten Blickkontakt zum Geschlechtsverkehr. Die Schritte bedeuten aber nicht dasselbe: In Großbritannien ist der Kuss eine der letzten Vorstufen zum Sex, deswegen lässt man sich damit Zeit. In den USA wird relativ früh geküsst – was aber noch lange nicht bedeutet, dass man miteinander ins Bett gehen wird.

meURBAN-Sex-And-The-Cities-01Viele Europäer wissen auch nicht, was der US-amerikanische Ausdruck „Dating“ wirklich bedeutet: Er beschreibt eine Phase, in der sich zwei Menschen näherkommen, aber noch kein Paar sind, einen „Zustand des Beschnupperns“, wie Wiechers sagt. Eine Verpflichtung, treu zu sein, gibt es erst mal nicht – bis der Mann die Frau fragt, ob sie „exclusive“, also seine Freundin sein möchte. Die Frage stellt aber er, etwa so wie auch der Mann meistens um die Hand der Frau anhält und nicht umgekehrt. „Das Rollenverständnis der Deutschen ist ein anderes“, sagt Eric Hegmann. „Diese Regeln hatten in einem kulturellen Schmelztiegel aber durchaus ihren Sinn: So konnten sich Männer und Frauen auf einen Katalog von Vereinbarungen stützen, um die erste Kennenlernphase ‚sicher‘ zu erleben.“ Wer „exclusive“ ist, ist so gut wie verlobt. Und danach wird es ernst. Richtig ernst.

Auf Umwegen zum Glück

Anna dachte, sie würde sauer sein, aber zu ihrer Überraschung ist sie es nicht. Kris sitzt neben ihr im Auto. Hier haben sie am 4. Juli miteinander geknutscht, sich intime Details aus der Kindheit erzählt. Gerade hat er ihr gestanden, dass er vor ein paar Wochen mit einer anderen geschlafen hat. Und jetzt bittet er Anna, ihm mehr Zeit zu geben, weil er sich noch nicht binden kann. „Zunächst war ich total gegen die Idee, mit einem Mann auszugehen, der vielleicht auch noch mit anderen Sex hat“, sagt Anna. „Aber ich fand es schön, dass er so ehrlich war. Ich wusste, dass er nicht einfach nach netten Worten suchte, um mit mir Schluss zu machen.“

Vier Monate vergehen. Kris fragt nicht, ob Anna „exclusive“ sein möchte. Eines Tages erklärt er ihr einfach, dass sie nun seine Freundin sei. „Das war der Anfang und das Ende der Diskussion“, sagt sie und lacht.

Gaurav ging nicht davon aus, dass Laura seine Freundin war oder jemals sein würde. Ein paar Mal war er mit ihr aus. Sie gingen abendessen und ins Theater. Die beiden haben viel gemeinsam. Sie genießen die Zeit miteinander. Aber in Gedanken ist Gaurav schon wieder in Indien. Er hat sich in Berlin eingelebt, sich regelrecht in die Stadt verliebt. Doch jetzt läuft sein Arbeitsvertrag aus, und Gaurav muss Deutschland verlassen. Eine Fernbeziehung kommt für ihn nicht infrage. „Man wird älter und realistischer“, sagt er. „Ich wollte ihr nicht vorgaukeln, dass es Sinn hätte, sich auf mich einzulassen. Ich hatte ja keine Ahnung, wie es in Indien weitergehen würde.“

Einmal habe ich in Berlin ein Mädchen angesprochen und sie gefragt, ob sie etwas mit mir trinken gehen möchte. Sie hat nur zu Boden geschaut und mit steinerner Miene ‚nein‘ gesagt

Neu-Delhi hat sich stark verändert, seit Gaurav die Stadt vor acht Jahren verlassen hat: Sie ist zu einer modernen Stadt erblüht. Die Straßen und Bars sind voller junger Menschen aus der ganzen Welt. Die alten Normen verlieren immer schneller an Gültigkeit. Viele Jugendliche heiraten über Kastengrenzen hinweg oder lassen es gleich ganz bleiben. Wie in Europa ist man jetzt einfach zusammen, ohne das zu manifestieren. Gauravs Eltern fragen ihn manchmal vorsichtig, wie es um seine Ehepläne steht. Aber allzu lästig fallen sie nicht. Vielleicht merken sie, dass sich ihr Sohn genauso verändert hat wie seine Heimatstadt. Er weiß, wer er ist und was er will. Wenn er mit Frauen spricht, ist er selbstsicher und gelassen. Aber er will gar keine Frauen mehr ansprechen. Laura fehlt ihm, mehr, als er erwartet hat. Er schreibt ihr auf Facebook. Sie antwortet. Bald skypen die beiden jeden zweiten Tag. Nach einer Weile lädt er sie ein, ihn in Neu-Delhi zu besuchen. Sie sagt zu. „Ich hatte ein bisschen Angst. Wie würden wir miteinander umgehen? Wir hatten uns ja schon seit Wochen nicht gesehen“, sagt Gaurav. „Aber dann sind wir zwei Wochen durch Indien gereist, und es war toll. Das hat uns überzeugt, dass wir es miteinander versuchen sollten.“ Eine Fernbeziehung soll es immer noch nicht sein. Gaurav möchte so bald wie möglich nach Berlin zurückkehren. Er lernt weiterhin fleißig Deutsch.

Anna ist inzwischen mit ihrem Freund zusammengezogen. Früher hätte sie das durchaus auch schon nach wenigen Wochen getan. Mit Kris war es erst nach einem halben Jahr so weit. „Es war gut, die Dinge langsamer anzugehen. Ich hätte es nicht gedacht, aber das war auch das richtige Tempo für mich.“

Auch wenn sie die Dating-Regeln der New Yorker jetzt versteht – sie ist froh, dass sie nicht mehr danach spielen muss: „In dieser Stadt nach einem Partner zu suchen, ist ein Albtraum“, sagt sie. Ob sie es in anderen Städten leichter gehabt hätte? In Istanbul, wo ein und derselbe Ausdruck („seni seviyorum“) sowohl „Ich liebe dich“ als auch „Ich mag dich“ bedeuten kann? Oder in Hongkong, wo schon ein etwas zu langer Augenkontakt als aufdringlich empfunden wird? Oder in Buenos Aires, wo Männer den Frauen auf der Straße „piropo“ nachrufen, was ein ernst gemeintes Kompliment, aber auch eine ziemlich plumpe Anmache sein kann?

Flirten ist kompliziert – egal, wo es einen hin verschlägt, man muss sich erst mit den kulturellen Spielregeln vertraut machen. Daran ändert auch die Globalisierung nichts. Irgendwie romantisch.

Dieser Text ist ursprünglich der me.URBAN-Ausgabe 1/2015 erschienen

Collage: Dennis Busch