Sex Pistols – Der Urknall aus dem Müll


„We’re the flowers in the dustbin / We’re the poison in your human machine / We’re the future / Your future,“ („God Save »he Queen“). Die Sex Pistols setzten ein heilsames Gift frei. Durch sie trieben zahllose Blüten einer neu definierten Musikalität aus den sozialen Müllkippen der Nation. Traditionelle Wertbegriffe gingen mit den Pistols über Bord – auch wenn sich heutzutage noch manch einer gegen diese veränderten Maßstäbe zu wehren versucht.

John Lydon, 24, der unter dem Künstlernamen Johnny Rotten der britischen Punk-Band „Sex Pistols“ zu unehrenhaltem Erfolg verhalt, kam ohne eigenes Zutun nun zu offiziellen Ehren. Für umgerechnet 4200 Mark erwarb das renommierte Londoner „Victoria And Albert Museum das zerschlissene T-Shirt des musikalischen Müll-Machers sowie die Original-Grafik der ersten Sex-Pistols-LP…“, so die Illustrierte „Stern“ in ihrer wöchentlichen Klatschspalte.

Die heutige Musikszene – währe sie ohne die Sex Pistols überhaupt vorstellbar? Hätte es die Sex Pistols (und damit auch die zahllosen Imitatoren) nicht gegeben, so müßten wir heute immer noch Velvet Underground nachtrauern, würden Pink Floyds „Wall“-Opus für das denkbar engagierteste Stück Musik der beginnenden Achtziger halten und uns dabei so unausqefüllt und heimatlos fühlen wie schon zu Anfang der Siebziger Jahre: Gefangen in den Wiederholungen des Etablierten, ständig auf der Suche nach irgendwelchen Mini-Sensatiönchen innerhalb einer bedeutungslosen Künstlerei, deren Qualität sich aus Bombast und der aufgedunsenen Ausgeflipptheit ihrer „Star“-Hirne-addiert.

Mit dem Auftauchen der Sex Pistols war die Figur des ständig an der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn stehenden, illuminierten und drogengeladenen Siebziger-Rockstars schlagartig der Lächerlichkeit preisgegeben. Wer spricht heute noch von Bad Company, Led Zeppelin, Elton John? England vor den Pistols wirkt rückblickend wie ein großer Friedhof, auf dem nur gelegentlich noch einmal ein Grabstein wackelte.

Der einzige „neue“ Trend jener Zeit spielte sich in den Kneipen ab und hieß „Pub-Rock“, die wichtigsten Bands waren Dr. Feelgood und Eddie & The Hot Rods – wichtig deshalb, weil diese beiden noch das Vitalste im Meer der Kneipen-Traditionalisten, der unzähligen Revival-Bands waren. Verglichen mit Queen und Co. waren ihre Konzerte auch wirklich sensationell gut. Man spürte Engagement und brauchte kein gelangweiltes Boheme-Gedöns über sich ergehen lassen, das lediglich seine eigene Salonfähigkeit feierte.

Die Welle

„Um das System zu stützen, wurden mittels Staatsausgaben tiefe Einschnitte getan: Die Slums wurden abgerissen, langjährige städtische Lebensgemeinschalten zerbrochen und die Glücklicheren (?)in sterile Betontürme umgesiedelt. Häuser wurden kaum noch gebaut. Familien wurden zerrissen und in Durchgangsherbergen gesteckt. Weniger Schulen wurden gebaut. Die Klassen wurden größer, doch die Zahl der Lehrer, die die Gemeinden zahlen konnten, ging zurück. Alles – Lebensmittel, Kleidung, Vergnügen – verdoppelte seinen Preis. Mehr und mehr Menschen wurden überflüssig gemacht. Tausende junger Leute begannen, die Bühnen mit Flaschen und Bierdosen zu bewerfen. Drei Jahre lang haben wir diese Situation hingenommen, fast regungslos. Theater-Bands wie Queen, Roxy Music und lOcc versuchten, uns mit Bergen von romantischem Eskapismus und gelacktem Showbiz einzulullen. Aber dann wurde über Nacht alles anders…“(Caroline Coon, 1978)

Malcolm McLaren hatte 1975 für ein halbes Jahr die abgewrackten New York Dolls gemanagt und danach mit seiner Gefährtin Vivien Westwood in der King’s Road den Klamottenladen „Sex“ eröffnet. McLaren, langjähriger Kunstschüler und Design-Freak mit Hang zum Größenwahn und Westwood, Ex-Lehrerin unter Einfluß, waren schon jahrelang der mystischen Ausstrahlung stilbewußter Kleidung erlegen, verkauften Anfang der Siebziger dem immer gegenwärtigen Londoner Teddy-Boy-Publikum die notwendigen Accesoires in Gestalt von Drape-Iackets, Strümpfen in Leuchtfarbe, Röhrenhosen und Creepers. Berühmt werden konnten sie damit nicht.

„Sex“ sollte der totale Schock werden. Die Porno-T-Shirts und Sado-Maso-Utensilien fanden in den zukunftslosen Jugendlichen, deren Frustrationen zu einem mächtigen Aggressionsstau geführt hatten, dankbare Abnehmer: Mit rohem Sex konnte man sowohl die Erwachsenen unter der Gürtellinie erwischen als auch die vergeistigte Tao-Kama-Sutra-Sexualität der Hippie-Traumwelt.

Steve Jones und Paul Cook waren Schulkameraden, konnten den dortigen Lehrinhalten aber keinerlei Interesse abgewinnen. Jones, Sohn eines lange verschwundenen Box-Profis, lebte mit seiner Mutter und dem verhaßten Stiefvater in einer 1-Zimmer-Wohnung -und hielt sich nach der Schulzeit meist auf illegale Weise über Wasser. Cook lernte Elektriker.

Man beschloß, eine Rock’n Roll Band zu gründen. Jones war Sänger, Cook saß an einem geklauten Schlagzeug – und Gitarre spielte ein Freund namens Wally. Gesucht wurde ein Bassist.

Glen Matlock, Kunstschüler und ein vergleichsweise behütetes Kind, hatte inzwischen angefangen, an Wochenenden in McLaren’s Laden zu jobben. Jones und Cook waren regelmäßige Besucher bei „Sex“, stellten sich dort als Band „The Swankers“ vor, die eine eigene Anlage besaß (angeblich Ergebnis von zwei Jahren systemtischen Klauens) und dringend einen Bassisten suchte.

Matlock war sofort dabei und damit auch McLaren, der fortan die Geschichte der Band in die Hand nehmen sollte. Als langjähriger Experte für Subkultur und Subversion sah er in den Swankers die Möglichkeit, seine Vision der ultimativen subversiven Rock’n’Roll-Band zu verwirklichen. Der Brillenträger Wally, dessen Widerwärtigkeit heute schon Legende geworden ist, wurde gefeuert. Steve Jones der weder singen konnte noch als Frontfigur irgendeine Wirkung hinterließ, bekam stattdessen die Gitarre in die Hand gedrückt.

Das Instrument stand ihm auch ausnehmend gut. Allerdings zwangen ihn Matlock und Cook, sich fortan intensiv mit Teach-Yourself-Guitar-Büchern zu befassen. McLaren, beflügelt von diesem ersten gelungenen Kunstgriff, verpaßte der Band dann auch gleich noch einen zugkräftigen Namen: The Sex Pistols. Gesucht wurde nun noch ein Sänger.

Johnny Rotten gehört zu den seltenen Menschen, die durch ihr persönliches Verhalten genausoviel Aussagen wie mit Worten machen. Eine Geste entscheidet radikal über „ja“ oder „nein“, ein Blick genügt, um gefesselt zu sein … Wer sonst hätte den Kids etwas sagen können? Die Clowns von The Damned? Joe Strummer mit seinem Messerformschnitt? Oder gar der alternde Iggy Pop?

John Lydon wohnte zu der Zeit im Londoner Stadtteil Finsbury Park, besuchte gelegentlich McLarens Laden und blieb dort allen Insidern sofort im Gedächtnis. Für die suchenden Augen McLarens war sein Auftauchen eine Fügung Gottes. Seine grünen Haare, sein bleiches, gelangweiltes Jungengesicht, die gebückte, unterernährte Figur im Pink-Floyd-T-Shirt, auf dem ein handgeschriebenes „I Hate“ prangte, seine mit Sicherheitsnadeln und Heftklammern zusammengehaltene Mülltonnen-Kleidung, die jede gängige „SEX“-Mode ignorierte und trotzdem ungeheueren Stil besaß …

„In Malcolms Laden konnte man immer gut reingehen. Die Klamotten waren immer anders, neu, gut und ehrlich. Anti-Mode und Anti-Institution. Er hatte mich ein paar Mal gesehen und kam dann mal zu mir und fragte mich, wieso ich immer so genervt aussähe und ständig die Leute anmache und fragte mich, ob ich Bock hätte, Sänger der Sex Pistols zu werden. „So John Lydon über die erste Kontaktaufnahme.

McLaren bekommt zunächst eine Abfuhr und muß Lydon erst einmal zu einem Drink einladen. Ort ist der Roebuck Pub in der King’s Road. Johnny ist gut in Form, beschimpft die anwesenden Sex Pistols erst einmal als Verein von Idioten und bringt die gesamte Kneipe gegen sich auf. McLaren und die Pistols retten, was zu retten ist, zerren Johnny zurück in Malcolms Laden, wo eine „Probe“ stattfinden soll. Auf der Jukebox läuft Alice Coopers „School’s Out“ – und Johnny mimt dazu den Sänger. Alle sind begeistert. Johnny auch. Die Sex Pistols sind geboren.

Johnny: „Singen kann ich nicht. Singen hat mich auch nie interessiert. Ich habe Songs geschrieben, wußte aber nicht, was daraus werden sollte. Mein Interesse lag darin, anstößig zu sein.

Ich mach‘ mich dann auf den Weg ganz nach Rotherhithe, wo die angeblich üben sollen, aber kein Mensch ist da, und ruf dann bei Malcolm an und sag‘ ihm, er soll’s vergessen, die Typen seien eh nur faule Säcke. Aber er ließ nicht locker.“

Man raufte sich schließlich zusammen, die Band einigte sich darauf, viel Zeit zum Üben zu verwenden. Die Sex Pistols entwickelten Stil, musikalischen Stil. Glen Matiock, Liebhaber schöner Melodien und offener Paul-McCartney-Fan, versorgte die lärmende Heavy-Achse Steve Jones/Paul Cook mit dem nötigen melodischen Pop-Swing. Schon in dieser Gründerzeit verfaßte dieses Trio bereits ansatzweise die Songs, die später einmal die wichtigsten (Pop-) Songs der Siebziger werden sollten:“Pretty Vacant“, „God Save The Queen“, „Submission“, „Problems“, „No Feelings“.

John Lydon, inzwischen aufgrund einer Bemerkung von Paul Cooks Mutter über den Zustand seiner Zähne in Johnny Rotten umgetauft, schrieb während dieser Übungssessions Texte wie „God save the Queen/A fascist regime/It made you a moron/a Potential H-bomb/When there’s no future/How can there be sin/ We’re the flowers in the dustbin/ We’re the poison in your human machine/We are the future/Your future“.

„Ich hab‘ mir Rock’n’Roll angehört, aber ich hatte keinen Respekt davor… Rock ’n ‚Roll ist überflüssig und hat nichts Relevantes mehr zu sagen. Rock’n‘ Roll ist so relevant wie das Zeugs, das sie in den Jeans Shops der King’s Road spielen. Hören die Leute diese Musik eigentlich? Nein! Für die ist das nur Background zum Jeans-Kaufen… Mir tun die Leute leid, die an sowas ihren Verstand verschwenden. Es ist absoluter Schwachsinn und färbt nur auf sie ab“ – Johnny Rotten.

Der erste Gig der Sex Pistols fand im November 1975 im St. Martins College of Art statt – im Vorprogramm einer Rock’n’Roll-Revival-Band. Die Masse warf mit Flaschen und allem, was nicht niet- und nagelfest war. Am Ende war man glücklich, als jemand ein Einsehen hatte und den Strom abstellte.

In den nächsten Monaten spielten die Pistols uneingeladen als Vorprogramm bei diversen Club-Konzerten, was jedesmal in einem Fiasko endete. Ständige Begleitung der Band war das „Bromley Contingent“, eine Gruppe ungenierter Poseure, die nichts anderes taten als die Gruppe zu feiern und dabei aufsehenerregend auszusehen – unter ihnen auch Siouxsie Sioux und Steve Severin, später bei den Banshees. Für ihre Mode sorgten McLaren und „SEX“.

Ständiger Ärger bei ihren Auftritten sorgte dafür, daß die Band in den größeren Londoner Clubs wie dem Marquee und dem Nashville Auftrittsverbot erhält. Einzig der 100 Club in der Oxford Street gibt der Band noch eine Chance. Die Sex Pistols versammeln eine fanatische Gemeinde um sich. Einander völlig fremde Kids lernen sich kennen, es liegt etwas in der Luft, das die Leute vereint…

Rotton: „Ich will, das die Leute losgehen und etwas machen, uns sehen und selbst auch etwas machen; andernfalls verschwende ich nur meine Zeit.“

Mark P. in seinem wichtigen Fanzine „Sniffin‘ Glue“: „Man kriegt bei den Pistols-Konzerten schnell das Gefühl, daß die Leute dort nur gesehen werden wollen. Echte Punks kümmert so etwas nicht … Ja, die Pistols-Anhänger sind keine Punks, sie sind viel zu eitel. Aber was soll’s, ich bin ja genauso.“

Johnny Rottens Forderung nach „more bands like us“ öffnet die Tür und Tor für Nachzieher. Kaum eine neue Band, die sich nicht auf die Sex Pistols bezieht. London und Manchester werden zu den Metropolen der Punk-Welle.

August 1976: Die Sex Pistols treten in der Fernsehsendung „So It Goes“ auf und spielen das frisch komponierte „Anarchy In The UK“. Einen Monat später steigt das legendäre Punk Rock-Festival im 100 Club, wo die Pistols, Clash, Damned und die französischen Stinky Toys den ersten Tag bestreiten die Vibrators, Chris Spedding, die Buzzcocks und Subway Sect den zweiten. Es kommt zu massiven Ausschreitungen, Scherben eines Bierglasses kosten einem Mädchen das Augenlicht. Punk und Gewalt sind fortan eins, die bürgerliche Presse berichtet seitenweise über die neue Bedrohung.

Am 8. Oktober unterzeichnen die Pistols einen Plattenvertrag mit der EMI und nehmen kurz darauf „Anarchy In The UK“ und ein paar weitere Tracks auf.

„Anarchy In The UK“ erscheint am 19. November, eine große Tournee wird für Dezember/Januar angekündigt. Die Londoner Fernsehstation ITV sucht für ihre Show „Today“ eine interessante Band und kontaktiert die EMI, um Queen zu bekommen. Queen sind jedoch verhindert und das Promotionbüro läßt sich die Chance nicht nehmen, zwecks Promotion der gerade erschienenen Single die Pistols als Ersatz vorzuschlagen. Das Interview wird live gesendet, Showmaster ist ein gewisser Bill Grundy.

Nachdem er aus Glen Matlock nichts Befriedigendes herausbekommen hat, versucht er, die ebenfalls anwesende Siouxsie auf dirty old man Manier ins Gespräch zu ziehen. Steve Jones, bekleidet mit dem berühmten Titten-T-Shirt, wirft ihm daraufhin ein paar derbe Schimpfworte an den Kopf. Grundy bricht hochroten Kopfes die Sendung ab.

Am nächsten Tage sind die Pistols eine landesweite Berühmtheit. Keine Morgenzeitung ohne balkengroße Überschrift über ‚The Filth and The Fury‘, bewegende Berichte über Familienväter, die aus bloßer Abscheu ihren pantoffelbewehrten Fuß gegen die Mattscheibe schmetterten.

Den gesamten Dezember lang bleiben die Pistols das heißeste Eisen der britischen Presselandschaft. Geschickt getarnte Reporter umlagern Rotten und Co., um stündlich neue Obszönitäten aufzuschnappen. Die heißerwartete „Anarchy-Tour“, die am 3. Dezember beginnen und neben den Pistols auch The Clash, The Damned und The Heartbreakers vorstellen sollte, schrumpft unter dem Trommelfeuer der Medien von 19 geplanten auf mickrige drei Dates: Leeds, Manchester und Plymouth. Alle anderen Veranstalter hatten kalte Füße bekommen. In Derby sollte die Band gar ein Testkonzert für die Honoratioren der Stadt geben. McLaren und die Band ließen sich verständlicherweise nicht darauf ein.

Auch an den anderen Beteiligten ging der Wirbel nicht spurlos vorüber: Grundy wurde erst einmal vom Dienst suspendiert, Mütterchen EMI beschlich das Gefühl, sich doch vielleicht übernommen zu haben. Genau zu dem Zeitpunkt, als „Anarchy“ die Top 30 erreicht, läßt die Firma nach einem unbedeutenden Skandälchen in Heathrow die gesamte restliche Auflage der Single einstampfen und erklärt den Vertrag für null und nichtig. Druck von Anteilseignern und älteren Künstlern sowie streikende Packerinnen, die sich weigern, die Platte zu verpacken, scheinen der EMI keine andere Wahl zu lassen. Den Pistols bringt dieser Vertragsbruch jedenfalls 50 000 Pfund Abfindung.

Schaumkronen

Zum Ende des Jahres 1976 kam es auch im Lager der Pistols zu Fraktionsbildungen: Jones und Cook machten keine Probleme, doch zwischen dem bürgerlichen Sunnyboy Glen Matlock und Rottens Erz-Nihilismus gab es mehr und mehr Reibungen. Der Vorwärtsdrang jener Zeit führte zu einer Entscheidung gegen den rechten Flügel der Band und so saß Glen Matlock im Februar 77 vor der Tür. Seine Songschreiber-Qualitäten machten jedoch auch das restliche Jahr hindurch einen großen Anteil des Pistols-Repertoires aus und bewahrten die Band davor, ausschließlich schnöden Hard-Rock zu produzieren, zu dem Rottens hohnlächelnde Attacken sicher nicht so gut gepaßt hätten wie zu den melodisch-mitreißenden Riffs Matlocks.

„Keine Ahnung, warum die Leute meinen, daß es schwierig sei, Gitarre zu spielen. Ich fand es unglaublich einfach. Du greifst den Akkord, haust drauf und schon ist’s Musik“, so Johnnys alter Kumpel John Beverley, der unter dem Punk-Namen Sid Vicious neuer Bassist der Sex Pistols wird.

Durch ihn verstärkt sich das gewalttätige Image der Pistols um ein Vielfaches, denn ihn kannte man schon länger als kettenschwingenden Schläger der vordersten Reihen. Vicious, notorisch verstörtes Kind einer vagabundierenden Hippie-Mutter, war damit vorerst am Ziel seiner Wünsche: nahe am Freund und Vorbild Rotten vin fortan frei von den Eifersüchten, die er als Nicht-Pistol monatelang mit sich rumgetragen hatte.

Pistols-Manager Malcolm McLaren erholte sich nach dem EMI-Fehlschlag schnell und kontaktierte im Januar sämtliche finanzkräftigen Plattenfirmen Londons. Die US-Chefetagen von CBS und WEA waren zwar höchst interessiert, jedoch setzten sich die Bedenken der Verantwortlichen in England schließlich durch. Als dann A & M, ansonsten eher auf Middle-of-the-Road-Popmusik spezialisiert, das Rennen machte, witterte man bereits den zweiten Teil einer großen Farce.

Erste Szene: Die Pistols und diverse hohe Tiere von A & M bauen am 9. März vor dem Bukkingham Palast einen Tapeziertisch auf und unterzeichnen unter freiem Himmel einen Vertrag über 150000 Pfund. Die Presse ist dabei, jede Zeitung bringt ein Foto.

Zweite Szene: Aufruhr in den A & M-Büros beim ersten Besuch der Sex Pistols — Wein auf dem Teppich, obszöne Angebote an Sekretärinnen.

Dritte Szene: Ernst- und ehrenhafte Menschen wie Rick Wakeman, Peter Frampton, Karen Carpenter fordern den Rauswurf der Pistols aus „ihrem“ Label.

Vierte Szene: Bei Prüfung der Werbeanzeige für die frischgepreßte Single „God Save The Queen“ (Ihre Majestät mit dem Songtitel vor den Augen, dem Bandnamen vor dem Mund und einer Sicherheitsnadel durch die Nase) entscheidet A&M-Chef Derek Green, daß der Fehler vom 9. März schnellstens korrigiert werden muß, läßt die Werkslehrlinge 25 000 Exemplare übers Knie brechen und zahlt der Band lockere 75 000 Pfund Abfindung. Geld spielt keine Rolle. Dies Alles passiert im Laufe einer (!)Woche.

Die Londoner Evening News bringt unter der Überschrift „Rock’s Swastika Revolution“ die Assoziation zwischen Punk und Faschismus auf Touren. Ein großes Bild der Sex Pistols prangt ebenfalls auf der Titelseite. McLaren zwingt die Zeitung, ihre Behauptungen zurückzunehmen.

Nach den Ereignissen der letzten drei Monate wird es erst einmal ruhig um die Pistols. Keine große Firma will sie mehr haben, keine Clubs und Hallen sind bereit, die Band auftreten zu lassen. Vicious findet sogar die Zeit, einigermaßen Bass zu lernen.

Als Plattenfirma für die Sex Pistols kam jetzt nur noch ein privates Unternehmen in Frage, dessen Eigentümer die Möglichkeit hat, eine solche Entscheidung allein zu treffen, ohne dabei auf Staatsräson und Gesellschafter Rücksicht nehmen zu müssen.

Im Mai unterschreiben die Sex Pistols einen Deal mit Virgin, am 27. des Monats erscheint „God Save The Queen“, steigt mit rasender Geschwindigkeit in die Charts und geht als erster Song, dem die Nummer 1 aus politischen Gründen verwehrt blieb, in die Musikgeschichte ein. In der Woche, in der das gesamte Land den 25sten Jahrestag des Regierungs-Antritts von Elizabeth II. feiert und ungeheuerlichen Patriotismus demonstriert, erscheinen die Pistols mit ihrer anti-monarchistischen Hymne und werden prompt von jeder Radio-Station boykottiert.

Ihre silberne Schallplatte feiern die Sex Pistols auf einer von McLaren organisierten Bootsfahrt über die Themse. Als die Pistols auf dem Unterdeck mit ihrem Set beginnen, befällt den Boots-Eigner die Panik. Acht Boote der Wasserschutzpolizei eskortieren das Boot an den Charing Cross-Pier und als niemand der Megaphon-Order der Polizei Folge leistet, wird das Schiff mit Gewalt geräumt. Zwei Grüne Minnas transportieren die Pistols-Fans ab, darunter auch Malcolm McLaren.

Inspiriert von dieser Polizeiaktion nehmen sich auch diverse britische Staatsbürger das Recht heraus, die Pistols für ihre anti-monarchistische Propaganda zu strafen: Johnny Rotten wird Opfer zweier Rasiermesser-Anschläge und auch Drummer Paul Cook erwischt es nahe der Sheperds Bush-U-Bahnstation, als sechs Leute mit Eisenstangen über ihn herfallen.

Als hartgesottener Pistols-Fan hatte man auch kein leichtes Leben. Die Presse wollte ihre Stories haben, genau wie McLaren es geplant hatte. Der Grundsatz der Sex Pistols, auf Star-Gehabe wie Bodyguards und Privatsphäre zugunsten von street-credibility zu verzichten, erwies sich als undurchführbar in einem Land, das McLarens Sprüche von „Anarchie“ in barer Münze zurückzahlte.

Punk hatte mittlerweile ein ungeheures kommerzielles Potential entwickelt. Die Pistols veröffentlichten „Pretty Vacant“ und erhielten dadurch einen Auftritt in der Sendung „Top Of The Pops“. „Pretty Vacant“ beleidigte niemanden und blieb insofern von Boykott-Maßnahmen verschont. Aber Johnny ließ es sich nicht nehmen, statt „vacant“ immer „va-cunt“ zu singen. Ein führender Kopf der GLC-Organisation, ohne deren Genehmigung keine Pop-Konzerte in und um London stattfinden können, erklärte daraufhin öffentlich, daß Punk-Rock und insbesondere die Sex Pistols mit allen Mitteln an Auftritten gehindert werden müßten.

Aber es gibt auch weiterhin Sex-Pistols-Gigs. Die Band tritt unter dem Namen „The Spots“ in kleineren Clubs auf. Am 15. Oktober erscheint die Single „Holidays In The Sun“, erstmals komponiert von Jones/Rotten/Cook/Vicious anstatt von Jones/Rotten/Cook/Matlock. Schwächer als die Vorgänger, doch mit gutem Text und wunderbarem Cover.

Was natürlich sofort wieder Arger gibt: Das Cover verletzt angeblich das Copyright irgendeiner Reisegesellschaft, aus deren Prospekten die verwendeten Bilder stammen sollen. Das im Text vorkommende Wort „Belsen“ wird darüberhinaus mit dem ebenfalls vorkommenden „holiday camp“ assoziert, was natürlich Wasser auf die Mühlen der ewigen Faschismus-Verdächtiger ist. Matlock’s Pop-Einfluß ist verschwunden, die Band scheint erstmals sich selbst zu kopieren. Am 4. November erscheint endlich das langerwartete Debüt-Album der Pistols. 125 000 Vorbestellungen allein sichern der Band schon die Goldene. NEVER MIND THE BOLLOCKS, HERE’S THE SEX PISTOLS enthält alle vier Single-A-Seiten: neun von zwölf Titeln stammen noch aus der Zeit mit Glen Matlock.

Leichentuch Für Malcolm McLaren erwiesen sich die Erfolge des vergangenen Jahres fast schon als eine Sackgasse. Er war auf mehr aus. Seine Liaison mit dem Hollywood-B-Movie-Regisseur Russ Meyer blieb kurzlebig und ergebnislos und so zerbrach er sich den Kopf nach neuen, publicityträchtigen Einfällen.

Johnny Rotten stank die Meyer-Geschichte ganz gewaltig, sah er in ihm doch den Archetypen des fetten, amerikanischen Kapitalisten der Hippie-Kultur. Das Verhältnis der Pistols untereinander und zu McLaren wurde schlechter. Vicious hatte sich mit einer amerikanischen Striptänzerin namens Nancy Spungen eingelassen, durch die er schnell und intensiv in die Welt des Heroins gezogen wurde. Seine Eifersucht auf den „berühmteren“ Rotten führte zu einer Reihe fataler Exzesse: Selbstmordversuche, Selbstverstümmelung, ständige Prügeleien mit seiner Geliebten oder anderen „Provokateuren“. Jones und Cook taten nur noch das, was McLaren anordnete. Rotten wurde immer wütender.

Das Ende kam mit der Amerika-Tournee im Januar 78. Nachdem die Band sich durch fast 20 Gigs in der amerikanischen Provinz gequält hatte, Vicious wiederholt und verdient Prügel von beleidigten Amerikanern bezogen hatte und McLaren dann noch seine Idee präsentierte, nach Rio de Janeiro zu fliegen, um dort ein paar Amateur-Gedichte des Ex-Posträubers und Dauerflüchtlings Ronald Biggs mit Musik zu unterlegen, kommt es zum Knall. Rotten will den Unsinn mit Biggs nicht mitmachen, McLaren beschuldigt ihn der Inkonsequenz und plötzlich gibt es die Sex Pistols nicht mehr.

Jones und Cook, immer gehorsam, fliegen mit McLaren nach Rio. Vicious, ständig und nur noch voll, versucht vergeblich, sich auf dem Flug von Frisco nach NY mit Alkohol/Valium umzubringen, Rotten verkriecht sich eine Woche in New York und kehrt dann nach London zurück.

„Steve kann abhauen und Peter Frampton werden, Sid kann abhauen und sich umbringen was niemand kümmern wird, Paul kann wieder Elektriker werden und Malcolm ist sowieso ein Idiot.“, so Johnny Rotten’s Kommentar.

McLaren übernahm die Alleinherrschaft über den Pistols-Torso und ließ Cook und Jones tatsächlich eine gemeinsame Single mit Ronald Biggs aufnehmen. „No One Is Innocent (auch bekannt unter dem Titel „Cosh The Driver“) geriet sogar recht witzig, hatte seinen Chart-Erfolg jedoch hauptsächlich dem Namen der Band sowie der grandiosen B-Seite zu verdanken. Sid Vicious‘ Version von „My Way“ dokumentiert den wohl größten Moment dieser tragischen von den Umständen und eigener Dummheit gestraften Gestalt.

McLaren war bereits seit geraumer Zeit damit beschäftigt, besonders aufregende Szenen im Sex-Pistols-Werdegang filmisch festzuhalten. Magischer Begriff wurde „The Great Rock’n’Roll Swindle“ unter dem McLaren die ganze. „Operation“ Sex Pistols zusammenzufassen suchte und sich selbst dabei als Drahtzieher verstand, als der Super-Manager und Medienmanipulator, der er schon immer gerne sein wollte.

Rotten reagierte darauf, indem er in London seine Band Public Image Ltd. ins Leben rief, in der sein Schulfreund Jah Wobble, Ex-Clash-Gitarrist Keith Levene und Drummer Jim Walker mitspielten. Im September erscheint die erste Single: „Public image, you got what you wanted/The public image belongs to me/It’s my entrance/my own creation/my grand finale/my goodbye.“ Für ihn waren die Sex Pistols und Johnny Rotten gestorben. Ab jetzt war er wieder John Lydon.

Sid Vicious und Nancy Spungen lebten währenddessen in New Yorker Hotelzimmern, Sid trat gelegentlich mit einer zusammengesuchten Begleitband in New Yorker New-Wave-Clubs auf und sang sich durch ein Repertoire aus Punk- und Rock’n‘ Roll-Standarts. Ansonsten regierte die Droge.

In der Nacht zum 13. Oktober hört die Zimmernachbarin der beiden ein paar gräßliche Schreibe, kümmert sich jedoch nicht weiter darum. Am nächsten Morgen findet die Polizei nach einem Anruf des völlig verstörten Vicious die tote Nancy Spungen mit einem Klappmesser im Unterleib in der Badewanne. Vicious wird verhaftet und gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Vorgänge in jener Nacht werden nie aufgeklärt. Vicious legt zwar ein Geständnis ab, doch halten Bekannte des Pärchens das Drogenwrack Vicious körperlich gar nicht für fähig, die propere Nancy „im Streit“ zu erdolchen.

Ein paar Wochen später ist Vicious wegen einer von ihm angezettelten Schlägerei wieder in den Schlagzeilen und wird verhaftet. Kurz nach erneuter- Aussetzung der Haft gegen Kaution stirbt er an einer Uberdosis Heroin. Die aufgetauchten Selbstmord-Theorien werden vom Gerichtsmediziner widerlegt.

Virgin Records lassen es sich nicht nehmen, Mitte 79 die qualitativ miserablen Tapes eines jener Auftritte des Toten unter dem Titel SID SINGS auf den Markt zu werfen. Mit Hakenkreuz auf dem Label und Leichen-Cover, versteht sich.

McLaren stellt seinen Film fertig, veröffentlicht ein Soundtrack-Doppelalbum mit unveröffentlichten, alten Pistols-Aufnahmen und neu entstandenen Albernheiten, wobei die eine oder andere Single-Auskopplung noch mittlere Plätze in den Top Twenty erreicht.

McLarens letzte Anstrengungen, die Sex Pistols als Karikatur ihrer selbst überleben zu lassen, entsprechen der spießbürgerlich-größenwahnsinnigen Auffassung, daß Geschichte von Einzelpersonen „gemacht“ werde. Der von ihm geprägte Begriff des „Great Rock ’n ‚Roll Swindle“ stellt hierbei nur den Versuch dar, einmal Geschehenes zu verharmlosen, die gesellschaftlichkulturellen Leistungen der Punk-Bewegung zynisch abzuqualifizieren und die beteiligten Bands und Kids als Idioten dastehen zu lassen, die auf irgendetwas „reingefallen“ wären. Wie schon Mutter Lydon in der englischen SOUNDS sagte: „Ein Freund von uns sagte, daß die Sex Pistols dem Land mehr Gutes tun als Jim Callaghan.“ Letzterer war 1977 noch englischer Premierminister.

Ob nun Schwindel oder nicht – unbestreitbar bleibt, daß die Sex Pistols mit ihrer Existenz und ihrer Musik neue Kriterien schufen, die die verknöcherte westliche Kulturwelt gehörig durcheinanderwirbelten und den Kids zu einer Identität und einem nie gekannten Gefühl der Stärke verholfen haben. Dabei war der zur Schau getragene Nihilismus der Band ein Garant dafür, daß wir es nicht mit neuen Führergestalten zu tun hatten, sondern mit Anstoßgebern. Alles weitere lag in unserer Hand, und das war rückblikkend betrachtet auch gut so.