Skrillex


Ganz Amerika ist im Rave-Fieber. Madonna tanzt zu Dubstep während der Superbowl, 230.000 feiern beim Electric Daisy Carnival in Las Vegas - und im Februar wurde mit Skrillex zum ersten Mal ein DJ als "Best New Artist" für einen Grammy nominiert.

Das Staples Center in Los Angeles. Auf der Bühne stehen zwei der erfolgreichsten Produzenten der Gegenwart, David Guetta und Deadmau5, und mimen zu tumben 4/4-Beats den Plattenaufleger. Dazu singen Rapper Lil Wayne und der als Frauenprügler gebrandmarkte R&B-Barde Chris Brown. Auch Dave Grohl ist dabei. Warum, weiß keiner so recht. Vermutlich soll demonstriert werden, dass elektronische Tanzmusik endlich im US-Mainstream angekommen ist, doch eigentlich sind Brown, Guetta und die maskierte Mutantenmaus nur Nebensache. Die wahre Sensation ist Sonny Moore, ein bleicher Mittzwanziger mit ausrasiertem Scheitel und waschechter Screamo-Vergangenheit, der unter seinem Künstlernamen Skrillex gleich für fünf Grammys nominiert ist.

Drei der begehrten Trophäen, Best Dance Recording, Best Dance Album und Best Remix Recording, nimmt der schmale Mann mit dem ungesunden Teint mit nach Hause, der Best New Artist geht an Bon Iver. Enttäuscht zeigte sich Skrillex deswegen nicht: „Das ist der irrwitzigste Tag meines Lebens!“ freut er sich, bevor er die Bühne verlässt. In der Tat ist es ein surrealer Erfolg für einen, den vor zwei Jahren noch nicht mal Branchenpropheten auf dem Zettel hatten. Und ein weiterer Beweis für die Rolle, die er in der gründlich auf den Kopf gestellten amerikanischen Musikwelt einnimmt: Skrillex ist das neue Gesicht, die Symbolfigur eines ganz und gar erstaunlichen Massenphänomens.

Die ganze Aufregung begann, als der 24-jährige Kalifornier im Sommer 2010 die Gratis-EP „My Name Is Skrillex“ auf seine MySpace-Site stellte. Seitdem verzehren sich Teenie-Mädchen, Altrocker und die Musikindustrie nach Moores hochgezüchteten Hybriden aus komprimierten Electro-Beats, wahnwitzigen Dubstep-Arpeggios und manipulierten Sample-Fetzen hart an der Grenze zum Populismus. Skrillex‘ Musik ist klinisch clean, aber professionell auf Hochdruck produziert und in den besten Momenten pure Energie. Es ist Maximal-Techno für die ADHS-Generation: Hier passiert nicht jede Sekunde etwas, sondern jede Sekunde alles.

Die Rezeptur funktioniert: seine Single „Scary Monsters And Nice Sprites“ mit dem prägnanten „Oh my gosh“-Sample wurde auf YouTube bislang fast 70 Millionen Mal geklickt, vier Millionen Fans drückten auf Facebook den „like it“-Knopf, und kaum ein Festival kommt dieser Tage ohne Moores Magie aus. Verkäufe seiner jüngsten EP „Bangarang“ stiegen nach dem Grammy-Gewinn in die Hunderttausende, sein Langspieldebüt Voltage wird händeringend erwartet. Das Dubstep-Genre, das er zwar nicht erfunden, wohl aber mitgeprägt und vor allem bei ganz neuen Konsumentenschichten etabliert hat, ist das heiße neue Ding. Britney Spears („Hold It Against Me“), Kanye West & Jay-Z („Who Gon Stop Me“) und zuletzt Madonna („Give Me All Your Luvin“) haben Dubstep-Elemente in ihrer Musik verwendet. Kaum ein Bierbrauer oder Automobilfabrikant, der dieser Tage sein Produkt nicht mit dem charakteristischen Quietschknarzen aus den Clubs bewirbt. Ehrensache, dass alle großen Labels längst den Aufbau ihres eigenen „Dubstep-Rappers“ planen. Dubstep ist überall, und alle schreien verzückt: Ah, ist das nicht die Musik, die dieser Skrillex macht?

Wenig überraschend gilt der frech frisierte Senkrechtstarter dem harten Kern als Hassfigur. In Fachforen bersten Threads wie „I never realized how horrible Skrillex was until now“ unter der Last Tausender Einträge, und auf die Frage „Why do you hate Skrillex?“ folgt ein Wust an Gründen, von „schmerzhafter Scheiß“ bis hin zu „Er ist der Justin Bieber des Dubstep“.

Skrillex selbst ist das egal: „Ich wusste lange Zeit gar nicht, dass es solche Einträge gibt, denn ich habe kaum Zeit fürs Internet. Ich toure ununterbrochen, und bei den Gigs strahlt mir eigentlich nichts als Liebe entgegen.“ Über 300 Auftritte absolviert er im Jahr, zu Gagen zum Teil im sechsstelligen Bereich: Riesenraves in den USA und mehr und mehr auch Gigs in europäischen Konzertsälen. Im Februar tourte Skrillex erneut durch Deutschland, die ursprünglich angedachten Läden der mittleren Kategorie wurden schon wenige Tage nach Beginn des Vorverkaufs gegen die Schleyer- und Columbiahallen des Landes eingetauscht – und trotzdem ausverkauft. Einen derartigen Alarm hatte im Land der Kalkbrenners und Väths schon ewig kein Elektronik-Act mehr ausgelöst.

Am größten aber ist der Kalifornier nach wie vor in seiner Heimat. Dort steht er an der Spitze einer massiven Rave-Bewegung, deren Ausmaße die der ersten Techno-Welle Mitte der Neunziger dort bei weitem überragen. Ging diese Macht der Nacht damals größtenteils vom Volke (und The Prodigy) aus, so steht nun ein riesiger Vermarktungsapparat hinter der Begeisterung des gemeinen Amerikaners für elektronisch induzierte Ekstase. Clubs im Berliner oder Londoner Sinn gibt es dabei kaum, auch nicht in den Metropolen der Ost- und Westküste. Gefeiert wird vielmehr auf Festivals wie Ultra, Electric Daisy Carnival, Electric Zoo und Burning Man, gigantischen Enklaven des Exzesses mit teilweise sechsstelligen Besucherzahlen. Auch die großen Indie- und Rockfestivals werden insgeheim längst von den elektronischen Großacts á la Swedish House Mafia beherrscht: Das Line-up beim Coachella-Festival, so Spötter, lese sich in diesem Jahr wie das Adressbuch von David Guetta. Das mag stimmen. Aber mit sehr gutem Grund: Das Volk will es nicht anders. „Ich war letztes Jahr dort“, erzählt Diplo, der Mann hinter Major Lazer und dem Mad-Decent-Label, in einer jüngst veröffentlichten Coverstory über die neue Rave-Generation im Spin-Magazin. „Die Bands mit dem großen Hype hatten ein riesiges Publikum, die Leute haben artig geklatscht und gejubelt. Aber als die DJs dran waren, sind die durchgedreht. Die Bands haben mir fast Leid getan. Da war keine Energie – und das nicht, weil sie so schlecht gewesen wären. Alles ändert sich gerade einfach so schnell.“

Eines allerdings ändert sich kaum: die Denkstrukturen der Industrie. Zwar schalteten gefühlt alle Großclubs und Casinos zwischen Miami und Vegas reflexartig auf Dance um. Aber die großen Acts wie Kaskade, Afrojack und Wolfgang Gartner werden dennoch wie traditionelle Bands vermarktet. Sie spielen Touren, veröffentlichen EPs und Alben, haben allesamt beträchtliche Erfolge in den Pop-Charts vorzuweisen.

Eine hausgemachte Graswurzelkarriere wie die von Richie Hawtin, dem im Berlin residierenden Vorreiter des europäischen Easy-Jetset-Techno, der von vielen Veröffentlichungen keine tausend Einheiten umsetzt, im kommerziellen Radio nicht stattfindet, mit seinen Shows aber regelmäßig mehrere Zehntausend Feierwütige anzieht, wäre in den USA undenkbar. Skrillex steht beim Major-Label Warner unter Vertrag, produziert nebenbei für Korn, nimmt mit den verbliebenen Mitgliedern von The Doors (!) auf und remixt Lady Gaga und Bruno Mars. R&B und Radiopop sind mittlerweile ohnehin komplett von Dance infiltriert. Von Rihanna bis Usher kommt derzeit niemand ohne 4/4-Beats und Ravesignale aus. Das klingt meistens furchtbar, und man muss kein übellauniger Rockist oder Berghain-Snob mit Untergrund-Diplom sein, um die letzte Black Eyed Peas irgendwie doof zu finden. Eine einzige, riesengroße, himmelsschreiende Sellout-Sauerei?

Nein, das nicht. Denn die Wurzeln der derzeitigen Festival-Abräumer könnten unterschiedlicher kaum sein. David Guetta etwa gehörte einst zu den House-Pionieren seiner Heimatstadt Paris. Es waren seine Partys, auf denen Größen wie Daft Punk, Ed-Banger-Chef Pedro Winter und auch der heutige Phoenix- und Rapture-Produzent Philippe Zdar erstmals den neuen Sound aus Übersee hörten. Und sich dort in ihn verliebten. A-Trak vom Duo Duck Sauce war professioneller Turntablist, ein DJ-Leistungssportler quasi, und als erklärter „Musiksnob“ künstlerischer Berater von Kanye West. Auch Dubstep-Chanteuse Katy B und die Mitglieder von Magnetic Man haben ihre Wurzeln im Untergrund. Sie alle haben ihre Chance gesehen und sich bereitwillig mit den Regeln des Spiels arrangiert. Das ist die eine Seite. Skrillex dagegen die andere. Er ist bis heute mehr Fan als Handlungsreisender in Halligalli-Klamotten. Die Herangehensweise des Laptop-Autodidakten, der als ehemaliger Sänger der Post-Hardcore-Band From First To Last immerhin drei Alben bei Epitaph veröffentlichte und auch eine kurze, eher erfolglose Solokarriere als Elektropopper vorzuweisen hat, ist total naiv: Er hat eigentlich keine Ahnung von diesem Techno-Ding, er hat das aber auch nie behauptet. Dafür hat er eine Menge Spaß. Daraus erwächst eine ehrliche Energie, die man etwa aus den aufgesetzten Kaspereien eines David Guetta (der hinterm Pult nicht von ungefähr ein wenig an den jungen Otto Waalkes erinnert) beim besten Willen nicht raus hört. Skrillex in Aktion ist ein beeindruckendes Naturschauspiel. Kaum hat er eine Bühne geentert und der erste seiner aberwitzigen Blockbuster-Beats surrt los, mutiert er zum Powerzwerg, elektrisiert bis in die Spitzen seiner akkurat auf Emo getrimmten Haupthaare. Der Mann ist auf Anschlag, wie jeder der Regler vor ihm. Filter rein, Filter raus, Hände hoch, und jetzt alle. Aber so richtig.

Reden dagegen ist nicht sein Ding. Meistens beschränkt er sich auf belanglose Nettigkeiten. Er sei überglücklich, wie alles gerade laufe, würde am liebsten jeden Tag auftreten und neue Musik produzieren. Die Altvorderen des Dubstep? Rieseneinfluss für ihn, gewiss, und alles dufte Typen sowieso. Elektro in Amerika? Doch super, wenn die Kids über Snoop, Guetta und Tiesto irgendwann beim echten Scheiß ankämen. Dabei raucht er Kette: auf 20 Zigaretten mit Sonny Moore. Doch genug geraucht und gequasselt, schließlich sind da draußen noch Tausende und Abertausende, die expressbeglückt werden wollen von seinen hyperaktiven Tausendfüßlertracks. „Dabei wollte ich diese Musik ursprünglich nie veröffentlichen. Ich habe das nur zum Spaß gemacht, einfach so, für mich, und jetzt bin ich hier. Verrückt, oder?“