Sprechstunde


Die US-Arzte machen sich rar. Zum Auftakt ihrer Welttournee gaben sie in Deutschland nur ein einziges Konzert. Das Überohr von ME/Sounds saß mit gespitztem Griffel in der ersten Reihe

Die Umstände waren nach Maß beim Tour-Auftakt der Spin Doctors in der Hamburger Markthalle. Der Raum zum Bersten voll, die Luft schwül bis Sauna, aus dem Publikum flimmerten vereinzelte Grateful Dead-Hemden, und (mittlerweile halblegalisierte) Rauchschwaden aromatisierten die Atmosphäre. Da mußte letztlich nur noch ein aufgeregter SWF-Moderator (das Spektakel wurde live im Radio übertragen) an den Bühnenrand treten und brüllen: „Wir freuen uns, eine der heißesten Bands aus Amerika begrüßen zu dürfen. Ladies and Gentlemen, please welcome – The Spin Doctors!“

Dann kamen sie auf die Bühne geschlendert, die Männer um Sänger Chris Barron, dem Rübezahl des Rock’n’Roll. Die Spin Doctors, Hippie-Adepten aus USA, die nicht nur so aussehen, sondern sich auch so gebärden. In das Jahr 25 nach Woodstock, in dem sich Alt-Hippies benehmen wie Kriegsveteranen (Tenor: „Auch ich war dabei.“), passen die Spin Doctors wie Jesuslatschen zum Kaftan.

Und weil sie ihren Ruf, die juvenile Version von Grateful Dead zu sein, verteidigen wollten, ließen sie ihr erstes Stück „What Time Is It“, von ihrem letztjährigen Erfolgsdebüt „A Pocket Füll Of Kryptonite“, gleich über zwölf Minuten lang wabern. Zumindest die Spätankömmlinge waren beruhigt: „Nein, Du hast noch nicht viel versäumt, die Doctors spielen zwar schon fast eine Viertelstunde, aber das ist immer noch das erste Stück.“ Auch das zweite fiel nicht wesentlich kürzer aus. Freies Assoziieren ist im Live-Konzept der Spin Doctors eine tragendes Säule. Nichts gegen Gitarrensoli, doch in jedem Stück auf Endlosrille getunt, nahmen sie in den satten zwei Stunden des Konzerts ihrer Musik viel von der spontanen Frische und der Kompaktheit, die ihre Platten zweifellos besitzen. Gassenhauer-taugliche Refrains gingen im Sound-Brei unter, und leider ließ sich auch nur ansatzweise erahnen, daß ihr gesamtes neues Material das gefeierte Debüt locker in den Schatten stellt. Was die Spin Doctors dabei trotz alledem sympathisch macht, ist die Konsequenz und der skurrile Charme, mit dem sie ihre Hippie-Nostalgie verkaufen. Chris Barron sieht nicht nur so aus wie ein Sozialarbeiter aus den frühen Siebzigern, er tanzt auch so: frei assoziativ, genau so wie die Musik seiner Band von der Bühne schwappt. Dem Rolling Stone gestand er unlängst, daß die maßgebliche Inspiration für das neue Spin Doctors Werk „Turn It Upside Down“ J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“ gewesen sei, und das allein klingt als Statement anno 1994 schon fast wieder revolutionär. Zumindest die älteren oder altklugen unter den Zuschauern dankten ihnen diese Haltung mit konzentrierter Aufmerksamkeit und ekstatischem Kopfschütteln (vor allem bei den Gitarrensoli). Und überhaupt überraschte die Begehrlichkeit des Publikums: Niemand verlangte lauthals nach Hits wie „Little Miss“ oder „Two Princes“. Die Spin Doctors spielten sie trotzdem in – wie sollte es auch anders sein „extended versions“. Gut plaziert als allerletzte Zugabe. Der dreadgelockte Vorzeige-Grunger war da schon längst verschwunden, natürlich nicht ohne vorher ein vehementes „Härter, schneller, lauter!“ zu motzen. Von wegen. Den unverbesserlichen Hippie in typischer Montur dagegen hat das nicht weiter gestört, er war eh gerade so richtig schön tief und fest in den Sound versunken.