Szene an der Seine


Für Feines aus Küche und Keller ist Frankreich bestens bekannt. Aber auch musikalische Gourmets kommen auf ihre Kosten. Fernab vom Chanson ist der neue Pop aus Paris eine internationale Größe.

Man schreibt das Jahr 1998, als ein gewisser Thomas Bangalter, neben Guy-Manuel de Hörnern Christo eine Hälfte des Pariser Produzententeams Daft Punk, Muster einer neuen Single verteilt. Der Name seines Nebenprojekts: Stardust, der Titel des Stückes: „Music Sounds Better With You“. In den Folgemonaten geistert die Nummer durch verschiedene Clubs, auch in England. Don veröffentlicht DI Paul Glancey eine Raubkopie desselben Songs unter dem Namen Spacedust. Erst auf Bangalters inständige Bitte hin veröffentlicht seine Plattenfirma Virgin schließlich das Original offiziell. Und siehe da: „Music…“ wird zum Dance-Treffer der Saison, zum französischen Retro-Funk-House-Freudenquell.

Doch et gibt noch ein Problem. Bangalter hat auch einen Track namens „Gym Tonic“ geschrieben, mit Sprachsample von Schauspielerin und Videovorturnerin Jane Fonda. Dieser Song ist für seinen Kumpel Chris Lefriand gedacht. Lefriand alias Bob Sinclar, Chef des Pariser Labels Yellow, veröffentlicht „Gym Tonic“ auf dem Album „Paradise“ und landet damit innerhalb kürzester Zeit einen Hit in den Clubs auf Ibiza und anderswo. Lefriand will den Song daher als Single auskoppeln. Bangalter lehnt dies jedoch ab mit der Begründung, Lefriand gehe es nur ums Geld. Die Folge: Man überwirft sich. Derweil erscheint Glancey in London wieder auf der Bildfläche. Er spielt „Gym Tonic“ im Studio neu ein, nennt das Ganze „Gin & Tonic“ und bringt es auf den Markt. Der Karaoke-Trick zieht, wird in Großbritannien zu einem ausgewachsenen Nummer-Eins-Hit. Als Bangalterden Plagiator vor Gericht zerren will, taucht Glancey mit einem Sack voll Geld stante pede ab.

Spätestens mit diesem monatelang über die Medien ausgefochtenen Streit war klar, dass elektronische Dance Music aus Frankreich kein Kinderkram ist. Es geht um Geld, Ruhm und Marktpositionen. Paris, vorher nach innen gekehrt und Hochburg des Chanson, hatte plötzlich ein Mittel gefunden, die ganze Welt in Bewegung zu versetzen. „Music…“ und „Gym Tonic“ wurden nicht zuletzt deshalb Riesen-Clubhits, weil mehr als nur Melodie und Rhythmus stimmten. Die beiden genannten und eine Reihe ähnlich strukturierte Songs sind geschmeidiger produziert als vergleichbare Musik aus England oder Amerika. Sie besitzen Pep, sind originell und scheuen sich nicht, auf die verpönte Disco-Ära der späten Siebziger zu verweisen.

Die Entstehung der klingenden Geistesblitze aus Gallien wurde durch mehrere Faktoren in der Infrastruktur von Frankreichs Metropole begünstigt. Einer der Pariser Pioniere, Gilbert Cohen alias DI Gilb’R, erinnert sich noch genau, wie es zu Beginn der neunziger lahre aussah: „Überall auf der Welt war in Technound House-Clubs die Hölle los. Nur bei uns gab es noch Kleiderordnung und selektierende Türsteher. Wenn einmal eine gute Party stieg, war die schon kurz nach Mitternacht zu Ende. Wir, die wir uns wirklich für Techno und House begeisterten, mussten also andere Wege suchen, um unser Publikum zu erreichen.“ Cohen wurde Musikredakteur bei der Radiostation Nova, die sich ausschließlich auf neuere elektronische Musik spezialisierte. Parallel dazu plante Cohen den Aufbau der Independent-Plattenfirma Versatile, die ihm und anderen Produzenten eine Plattform zurVeröffentlichung bieten sollte. Denn bis zu diesem Zeitpunkt gab es an der Seine nur Filialen derselben multinationalen Tonträgerkonzerne, die auch in Deutschland führend sind. Immerhin: Einige der Majors waren von Cohens Pioniergeist beeindruckt und zogen nach. Virgin gründete sein Sublabel Source, und Eastwest beauftragte Lefriand mit der Gründung von Yellow, zu dessen bekanntesten Acts der Producer und Remixer Kid Loco sowie sein Kollege Dimitri from Paris zählen. Etienne de Crecy und Alex Gopher, heute mit eigenen Produktionen erfolgreich, hoben nicht nur ihre Firma Solid aus der Taufe, sondern auch gleich einen auf Maxis spezialisierten Ableger („Poumtchak“). Techno-DJ Laurent Garnier war seinerseits maßgeblich an der Etablierung des Hauses F Comm beteiligt, das 1999 mit „Mr. Oizo“ einen internationalen Volltreffer landete.

Heute existiert in Paris ein dichtes Labelnetz, das lokale Talente im Nu auffängt. Daneben hat aber auch eine veränderte Haltung gegenüber einheimischen Klängen zum französischen Elektronik-Boom beigetragen. Phillippe Zdar, mit Etienne de Crecy am bahnbrechenden „Pansoul“-Album von Motorbass aus dem Jahr 1996 beteiligt, erinnert sich noch gut an Zeiten der Intoleranz: „Wenn du nicht alten Chanson-Kram machen wolltest, warst du ein HipHop-Fan. Und für HipHopper war House Schwtilenmusik und folglich tabu.“ Zdar lernte 1991 den Producer Boom Bass kennen. In der Folgezeit betreuten die beiden zwei Alben des rappenden Rechtsanwalts MC Solaar. Sie erarbeiteten aber auch eigenes Material, das deutlich in 4/4-Beat-Richtungging. Ergebnis war die Band Cassius. Sie bewirkte 1999 – basierend auf Einflüssen von Isaac Hayes, Curtis Mayfield und Willte Hutch eine Blaxploitation-Welle aus Funk, Soul und House.

Mittlerweile scheint man im Und des Louvre der historischen Reminiszenzen im House-Gewand jedoch etwas überdrüssig zu sein. Die Idee, Loops mit Disco- oder Funk-Samples im Studio so zu filtern, dass dabei am Ende ein Track mit ganz neuer Dynamik entsteht, hat sich totgelaufen. Kein Wunder, denn nach dem Erfolg in Frankreich hatten Musiker in England, Deutschland und den USA ähnliche Praktiken angewandt. Neue Eingebungen lieferte 2000 aber Ludovic Navarre alias St. Germain. Sein Zweitling „Tourist“, fünf Jahre nach seinem vielbeachteten Debüt „Boulevard“ auf dem Traditions-Jazzlabel Blue Note veröffentlicht, gilt schon jetzt als lazz-House-Meisterwerk.

Air, seit dem Erfolg des romantischen Popalbums „Moon Safari“ weltweit in aller Munde, kehrten 2000 mit dem instrumentalen Soundtrack zu Sophia Coppolas Film „Virgin Suicides“ zurück. Und Air besitzen Flair, was auch für Mirwais Ahmadzai gilt. Mirwais, Koproduzent von Madonnas Chart-Topper „Music“, war ehedem Chef der französischen New-Wave-Band Taxi Girl. Von sich reden machte anno 2000 auch Etienne de Crecy. Auf „Tempovision“ schaltete er einen Gang zurück und landete in Ambient- und Downbeat-Sphären – ein Trend, der sich bei Gilbert Cohens Projekt Chateau Flight und dessen Longplayer “ Puzzle“ fortsetzte. Und dann war da noch Benjamin Diamond, der Sänger von Stardust, mit seinem eingängigen Album „Strange Attitüde“. Stellt sich die Frage, wann der nächste Stardust-Hit folgt. Doch Producer Thomas Bangalter winkt ab: „Nie im Leben.“ Da gehe er lieber mit Daft Punk neu an den Start. Die Single (‚One More Time‘) gibt’s schon. Das Album folgt in Kürze.