The Boo Radleys


Mit Noise-Rock und Feedback-Sound amerikanischer Prägung machten die Vier aus Liverpool von sich reden und avancierten zu den Lieblingen der britischen Indie-Szene. Doch erst mit pflegeleichtem Pop gelingt Martin Carr und seinen Freunden nach sieben entbehrungsreichen Jahren der große Wurf

Ein herzerfrischendes „Aufwachen, Boo! Es ist ein wunderschöner Nachmittag!“ liegt mir auf der Zunge, während ein verschlafen dreinblickender Martin Carr mich durch schmale Augenschlitze teilnahmslos anschaut. Ich verkneife mir die Anspielung auf den derzeitigen Hit ‚Wake Up Boo!‘, immerhin handelt es sich in seinem Fall um einen frischgebackenen Popstar. Und einer solch gewichtigen Person der Gegenwart muß man die nachmittägliche Müdigkeit einfach nachsehen. Denn die Boo Radleys befinden sich auf ausgedehnter Europa-Tour, müssen reisen, auftreten und zig Interviews geben – rund um die Uhr. So muß ich fast dankbar dafür sein, daß mir Martin Carr, der Kopf der Band und Autor fast aller Songs die Ehre gibt.

Obwohl in das Innere des Tourbusses kaum ein Lichtstrahl dringt, nimmt Herr Carr seine Sonnenbrille doch niemals ab, sondern sinniert gedankenverloren vor sich hin. Vor seiner Nase steht eine halbvolle Flasche )ack Daniels, die, darauf könnte ich schwören, mitverantwortlich für Martins partielle Abwesenheit sein dürfte. „Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen und ständig und überall präsent sein“, kann ich ihm das erste Lebenszeichen entlocken. Die Gunst der Stunde hat den Boo Radleys den ersten Hit in der siebenjährigen Bandgeschichte beschert. ‚Wake Up Boo!‘ schickt sich gar an, zum Sommerhit des Jahres zu werden. „Ich weiß, daß ‚Wake Up Boo!‘ nicht gerade sehr experimentierfreudig klingt, sich zudem stark von unseren früheren Sachen unterscheidet, aber ich kann nicht behaupten, daß der Song mir irgendwie fremd ist. Er war eben der richtige zum richtigen Zeitpunkt.“

Wer allerdings von dieser einen Schwalbe gleich auf den ganzen Schwärm schließt, ist auf dem Holzweg. Die vier Musiker aus Liverpool sind vielmehr seit Jahren fester Bestandteil der britischen Indie-Rock-Szene und hatten sich auf ihren frühen Singles dem Gitarren-Noise amerikanischer Prägunggewidmet. Dinosaurjr. mit ihrem typischen Feedback-Sound, und Mudhoney, die Ur-Grunger, waren Vorbilder, wie Martin Carr ohne Umschweife einräumt: „Ohne deren Anregungen hätten wir wahrscheinlich nie angefangen, Musik zu machen. Aber wie jede Band in England hatten wir nur ein Ziel irgendwann einmal größer als die Beatles zu sein.“ Der Wunsch liegt nahe. Wer in der Stadt an der Mersey aufwächst, stößt quasi zwangsläufig auf die Fab Four. „Die Beatles haben mich mitunter bis in den Schlaf verfolgt. Ich habe eine riesige Sammlung von Platten und Andenken an die Beatles. Als Teenager hat das fast mein gesamtes Geld verschlungen“, behauptet Carr, wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob er diese Äußerung ernst meint oder ich sie doch eher seinem Whiskey-Delirium zuschreiben sollte. Als ‚Wake Up Boo!‘ die Top 10 in England enterte, haben Martin (Gitarre), Rob Cieka (Schlagzeug), Tim Brown (Bass) und Sänger Sice erst einmal einige Flaschen Champagner geköpft, um die Aufnahme in den Club der Arrivierten gebührend zu feiern. Bis auf den Drummer, der erst nach dem Debut-Mini-Album ‚Ichabod And I‘ zur Band stieß, kennen sich die Jungs schon von der Schule in Liverpool. Sie waren Fans der New Waver Echo and The Bunnymen oder The Teardrop Explodes mit Julian Cope und somit mehr an melodielastigem Pop als schepperndem Punk-Rock interessiert, wiewohl Martin Carr bei diesem Thema den Patrioten herauskehrt: „Die Clash, die Sex Pistols, das war glaubhafter, authentischer Punk-Rock. Bands wie Green Day oder Offspring sind dagegen nur Abziehbilder, die irgendwie alles falsch verstanden haben.“

Der Lärm, der den Radleys seinerzeit vorauseilte, verschaffte ihnen einen Vertrag mit Rough Trade Records. Und als auch noch die DJ-Legende von BBC-Radio One, John Peel, sie in seine Playlists nahm und damit Radio-Sessions ermöglichte, schien der Knoten zu platzen. Ganz zu schweigen von der britischen Musik-Presse, die sich mit ihnen schon nach der zweiten EP ‚Kaleidoscope‘ (1990) auf Titelseiten schmückte. Aber Presse allein, mag sie auch noch so sehr an der Hypeschraube drehen, ist noch lange kein Garant des Erfolgs diese Erkenntnis blieb auch den Radleys nicht erspart. Ihre EPs und auch das erste Album ‚Everything’s Right Forever‘ setzten sich zwar auf oberen Plätzen der Indie-Charts fest, nur das breite Mainstream-Publikum zog nicht mit.

Erst mit dem Umzug der Band nach London und dem Wechsel von Rough Trade zu Creation Records, dem Label des Pop-Experten Alan McGhee, in dessen Haus schon Bands wie Primal Scream oder House Of Love groß wurden, kam Bewegung ins Spiel. Mit Unterstützung des Labels ging es nun vorwärts. Die Radleys tourten exzessiv über die Insel und durch Amerika und lernten dabei selbst schwierigste Verhältnisse zu meistern. „Wir spielten Gigs in Clubs, die mitten in der Wüste lagen, vor ein paar betrunkenen Cowboys. So etwas muß man in seiner ganzen Absurdität genießen“, amüsiert sich Carr.

Der Aufwärtstrend findet 1993 seinen vorläufigen Höhepunkt, als der New Musical Express ‚Giant Steps‘, das zweite Album, überraschend zur CD des Jahres kürt. Und wieder folgen Touren und Promotion-Termine en masse. Die Freundschaft seit Schulzeiten weicht allmählich einem geschäftlichen Verhältnis: „Früher haben wir Tag und Nacht zusammen verbracht, inzwischen gehen wir uns in der Freizeit lieber aus dem Weg.“ Martin Carr ist seiner Freundin zuliebe aus London weggezogen und verkehrt mit seinen Kollegen überwiegend fernmündlich oder per Fax. Die räumliche Trennung hat den Songwriter aber auch auf eine harte Probe gestellt, die sich in den Texten des neuen Albums manifestiert: „Die Vereinsamung, der Anflug von Pessimismus in den letzten Monaten haben sich in den Songs niedergeschlagen. Aber heute, hier und jetzt sehe ich die Welt schon wieder mit ganz anderen Augen“, spricht er sich selbst Mut zu. Rein musikalisch betrachtet, dokumentiert ,Wake Up‘ ein Abrücken vom Noisehin zu eingängigem Pop, der die alten Fans zwar vergraulen dürfte, der Band dafür aber eine breitere Basis schafft. „Im Grunde wollten wir schon immer so spielen, mit Cello- und Bläser-Arrangements. Aber du mußt erst einmal lernen, dein Instrument zu beherrschen und im Studio mit Gast-Musikern zu arbeiten“, Martin nimmt noch einen letzten Zug aus der Flasche, um sich alsdann im Backstage-Bereich aufs Ohr zu legen.