The Prodigy: Der Tanz der Technokraten


Sie sind die Helden des High-Speed-Rave. Prodigy bringen Chart-Erfolg und Street-Credibility locker unter einen Hut. Und auf der Bühne entfachen die vier 'Firestarter' ein wild loderndes Feuer aus rotziger Punk-Attitüde und peitschenden Technotönen.

Schon beim zweiten Song macht ein zappelnder Hampelmann vor mir Halt. Während er mit Hand, Fuß, Knie und Ellbogen einen Roman aus Hieroglyphen in die verdächtig duftende „Luft“ schneidet, grinst er mir und meinem Notizblock eine Abfolge von Grimassen zu und schreit schließlich: „Nicht schlecht! Waaas?!?“ Er meint die Musik. Und über sein Urteil kann man wirklich nicht streiten. The Prodigy haben losgelegt wie die Stiere von Pamplona. Nur fröhlicher, denn die Techno-Innovatoren wissen, daß auf sie kein Metzger wartet. Im Gegenteil: Derzeit schweben Prodigy im siebten Himmel und „das Business“ wird sich hüten, die Pioniere künftig so abzustechen, wie das in früheren Tagen geschah. Damals, bevor ihr zweites Album ‚Music For The Jilted Generation‘ die musikalischen Torpfosten von Brit-Techno ins Reich des Absonderlichen versetzte und damit zunächst noch Kommerz-Lorbeeren erntete. Ihr Crossover-Hit ‚Firestarter‘ sprühte danach von innovativer Kraft, so daß die neue Prodigy-LP (bereits für September angekündigt, aber Inspiration läßt sich eben nicht hetzen) zu einem der fieberhaft erwarteten Alben des Jahres avanciert ist. Ohne Zweifel sind The Prodigy neben der Oasis/Pulp/Blur-Axis das größte zukunftsweisende Pop-Phänomen der Insel. Und wie alle wahren Neuerer verstehen sie es, den Bogen zu spannen vom tiefsten Underground zu den Charts. Entsprechend ist die ‚Brixton Academy‘ gefüllt wie selten zuvor. Prodigy treten gleich zwei Nächte hintereinander auf —- am Freitag zu christlicher Zeit für Normalbürger, und für die heimatlosen Gesellen, deinen der Gedanke an ein einsames, leeres Bett zu Hause das Herz zerbricht, am Samstag als Teil eines nächtelangen Raves. Ich gehöre zu den Erstgenannten. Dieser Ausflug ist für mich so etwas wie eine Expedition in eine Tropfsteinhöhle am anderen Ende der Welt. Entsprechend komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Das beginnt schon bei der Bühne. Haben die Boys doch eine veritable Lounge auf die Bühne geschleppt, komplett mit weinroter Tapete, roten Lampenschirmen und einem Schwärm von Terracotta-Fischen an der Wand, die in der rhythmisch zuckenden Beleuchtung regelrecht ins Schwimmen kommen. Mittendrin hat Liam Howlett — das Wunderkind, dessen Geist diese Musik entspringt — seine diversen Computer aufgebaut. Rechts von ihm stehen ein paar Trommeln, die er hie und da schwungvoll beklopft. Links von ihm wirft sich ab und zu ein mit rot gefärbtem Punk-Haar dekorierter Gitarrist in Pose. Davor liegt die Bühne, ausladend genug, damit die Tänzer Keith und Leeroy Thornhill Platz zum Toben haben und auch MC Maxim Reality genug Raum bleibt, seine in Schottenrock gewandeten Beine in Szene zu setzen. Wie gesagt, die Musik legt los wie ein Stier — nein — wie eine Büffelherde, um sich im Laufe des Abends unmerklich in so etwas wie einen fliegenden Teppich zu verwandeln. Sie haut auf unsere Reize ein, bis diese klein beigeben und Händchen wie Füßchen forttragen lassen (von Polka-Techno bis Jungle pur von Jazz-Ragga bis Punk-Core). Erstaunlicherweise spielt die Band nur wenig bekanntes. Weder ‚Charly‘ noch ‚Out Of Space‘ noch sonst ein früher Hit wird kredenzt. ‚Firestarter‘ lockt dann den sonst aufs Blödeln spezialisierten Keith ans Mikrofon. Der Song ist schlichtweg umwerfend. Ansonsten gibt’s einige neue Stücke. Die rütteln an den Fundamenten der ‚Brixton Academy‘ wie King Kong an den Gitterstäben seines Gefängnisses. Zuhause ist es ja möglich, sich der Magie von Prodigy zu entziehen, indem man den Lautstärkeregler der Anlage auf nachbarliches Friedens-Level herunterdreht. Live sind The Prodigy eine Naturgewalt. Jedes Stück hart wie ein Felsen. Take it or leave it.