The Sugarcubes


Daß die Musik-Kommune aus Island auch im Studio unorthodoxe Wege geht, konnte man fast schon erwarten. Doch Erwartungen sollte man an der Tür des Syrland-Studios besser abgeben. ME/Sounds-Mitarbeiter Thomas Böhm blickte den glücklichen Chaoten bei der Arbeit zur neuen LP über die Schulter.

Pünktlich um 10 Uhr morgens, die Welt scheint noch in Ordnung, holt mich Thor, der Gitarrist der Sugarcubes, aus dem Hotel am Rande von Reykjavik ab. Der Jeep schüttelt uns durch die Straßen der isländischen Hauptstadt, bis wir vor einem häßlichen Gebäude, ganz nahe der Steilküste, zum Halten kommen.

“ Unser Studio „, schwärmt Thor mit unüberhörbarem Stolz. Das Syrland-Studio sieht aus wie jedes gottverdammte Studio auf dieser Welt.

„Stimmt“, meint Thor. „Studios sind wie Inseln. Auch und gerade auf dieser Insel. “ Dann hämmert er mit seinem Gitarrenkoffer gegen die Klingel.

Nach einer Weile öffnet uns ein felsiger, bebrillter Glatzkopf die Glastür und stellt sich mir als der Toningenieur der Sugarcubes vor. „So früh schon unterwegs?“ bemerkt er ironisch.

Thor grinst und schmiert sich ein Brot. „Der einzige Grund, warum die Sugarcubes regelmäßig ins Studio gehen, ist das katastrophale Wetter draußen.“

Die nächste Sturmböe bringt denn auch prompt neue Gäste. Bassist Bragi und Schlagzeuger Sigur schneien ins Studio und gießen sich erst einmal dikken heißen Kaffee hinter die Binde. Bragi blättert sich durch die überall verstreuten englischen Musikzeitschriften, Sigur trommelt mit seinen Sticks, die er wohl selbst im Bett nicht aus der Hand gibt, gegen die Tassen und halbleeren Wodkaflaschen, die noch an die Exzesse der letzten Nacht erinnern.

Es wird immer gemütlicher, wie bei einem Familientreffen. Sängerin Biörk kommt mit ihrem kleinen Sohn, der sich wie selbstverständlich Sigurs Sticks greift, und mit Margret, der neuen Pianistin, ein Duell a la Mantel und Degen liefert.

Einar ist der letzte; inzwischen geht es auf Mittag zu. Dafür hat er ein paar neue Zeilen geschrieben, die er den anderen gleich vorliest. Auf Skandinavisch hört sich das an, als ob er Eisenspäne durch die Luft spuckt. Allgemeines Gelächter.

„Es ist nicht ganz einfach und nicht wirklich so witzig, wenn wir das ins Englische übersetzen. Wir müssen ziemlich viele Abstriche machen“, sagt Einar. In Deutsch klingt besagte Passage dann so:

„Iß mich. Iß mich, Liebe. Laß nichts zurück. Schluck mich runter, alles von mir. Trink mich, Liebe. Nimm mich auf in dir. Verdau mich. Trink mich in großen Schlucken. Verbrauch mich, Liebe. In einem bodenlosen Teich. Ich werde nie zurückkehren. Schluck mich runter, alles von mir. „

Prost! Als endlich die Wodka-Reste vernichtet und die Brote verdaut sind, verschwindet einer nach dem anderen in den Aufnahmeraum. Der Tontechniker hat schon im Mischraum über die 64-Spuren-Konsole gewienert. Sigur schnappt sich seine Congas, Margret klimpert auf dem Elektro-Piano. Schließlich hat jeder etwas in der Hand – der Tanz beginnt. Wie in einem Sandkasten, in dem jeder mit seiner Backform ein kleines Häuschen baut, scheint es zunächst zuzugehen. Irgendwann entsteht ein Rhythmus, eine Melodie. Harmonien am Rande des Abgrunds. Erst Björks schmerzhaft schöner Gesang bringt Linie in die anarchistische Orchesterprobe. Ich verziehe mich in den Mischraum. Als Dirigent hätte ich mir den Taktstock schon längst in den Magen gerammt.

„Wenn ich noch welche hatte, ich würde mir die Haare raufen. So geht das mit jedem Song. Er entsteht aus einer Session. Spontan. Die Sugarcubes machen immer genau das, was man von ihnen nicht erwartet“, lacht der Toningenieur. „Eine Disziplin wie in einem brennenden Ameisenhaufen. Aber das macht die Einmaligkeit und den Charme der Sugarcubes aus. Aus der Konzeptlosigkeit entstehen die chönsten Lieder. Das permanente Chaos. Immer wieder kommen Freunde vorbei, unterbrechen die Arbeit oder spielen einfach mit.“

Die Session ist beendet, einzelne Tracks müssen jetzt noch einmal durchgespielt werden. Sigur reicht mir eine Cassette mit dem Rohstoff der letzten Sessions. „Für die Endaufnahmen und den Mix gehen wir nach London“, erzählter.

Mit Björks Stimme versinke ich im Sofa. Das Karussell beginnt sich zu drehen. Im Prinzip hat sich nicht viel bei den Sugarcubes verändert. Vielleicht sind sie etwas wilder und noch schräger geworden. Mehr Instrumente, noch mehr Spielereien.

HERE TODAY, TOMORROW NEXT WEEK soll der Titel ihrer zweiten LP lauten. Ein programmatischer Titel, das die Seele dieser verrückten Combo widerspiegelt.

Das Karussell stoppt. Sigur tippt mir mit seinen Sticks auf die Schulter. „Draußen scheint im Augenblick die Sonne, wir machen morgen weiter. „