Thom Yorke: Die unsichtbare Band


Neue Songs fliegen ihnen nur so zu, die Zuversicht ist zurück: Nach langer Selbstzerfleischung sind Radiohead wieder auf dem Weg ins Licht. "Ich war am Ende", vertraut Thom Yorke Interviewer Nick Kent an. Aber: "Macht euch keine Sorgen um uns."

Als 1997 Radioheads drittes Album OK Computer auf den Markt kam, waren sich breite Kreise von Musikkritikern und -fans einig: Radiohead waren offiziell zur wichtigsten Rockband der Welt avanciert. Die meisten Musiker hätten sich wohl über solche Anerkennung gefreut, aber das Quintett aus Oxford machte derlei Gerede nur nervös. „Dieser Titel war einfach eine viel zu riesige Bürde für uns“, sagt Drummer Phil Selway. „Es ist fürchterlich, so etwas gerecht werden zu müssen.“ Das breite Publikum, das OK Computer Radiohead erschlossen hatte, passte nicht recht zusammen mit der Weigerung der Band, sich in die Rolle der Rockstars zu fügen. Das im letzten lahr nach langen Geburtswehen erschienene Nachfolge-Album Kid A wurde somit vielerorts als drastischer – und arroganter – Versuch der Band betrachtet, die Fanmassen zu reduzieren. Dabei übersahen aber viele, dass, wie Selway erklärt, Radiohead immer eine schlurfige Studentenband gewesen waren, alles andere als auf einer Wellenlänge mit dem Rest der Welt.

Radiohead hatten sich 1987 (unter dem Namen On A Friday) gegründet. 1993 erschien das Debüt-Album Pablo Honey, an dem heute nur noch Bassist Colin Greenwood ein gutes Haar lassen mag. Das Album enthielt „Creep“, mit dem die Band in den USA einen Überraschungserfolg landete, während Europa kühl blieb: „Wir verpassten alle diese so genannten ‚Bewegungen'“, sagt Gitarrist Jonny Greenwood. „‚Shoe-Gazing‘, Britpop, alles. Es kam uns so vor, als wären wir immer zu spät dran.“ Die Band betrachtet übereinstimmend das 1995er Album The Bends als den Knackpunkt, als Radiohead anfingen, etwas Einzigartiges, Eigenes zu schaffen. Das Gemisch aus einnehmenden Songs, inspiriert-originellen Sounds und Thom Yorkes „unglückliches Kind auf dem Rummelplatz“-Gesang war zu potent geworden, als dass die Welt es noch länger hätte ignorieren können. Obwohl Radiohead immer noch als Außenseiter der aufblühenden Britpop-Szene galten, näherten sich ihre Plattenverkäufe denen von Oasis und Blur an. Dann kam OK Computer.

Der Impact, den OK Computer 1997 auf die Popkultur hatte, ist unvergessen. Kritiker kämpften schwer damit, die Flut von Superlativen einzudämmen, wann immer die Rede auf das Album kam. Die Platte zog Millionen in ihren Bann, die etwas Erleuchtendes fanden in dem darauf angedeuteteten Bemühen, ein humanes Wertesystem inmitten des abstumpfenden Laptop-Zeitgeistes der 90er zu orten. Die Band jedoch – insbesondere Thom Yorke – fand all den Beifall unangenehm desorientierend. „Jonny, letztes Jahr waren wir die gehypteste Band der Welt!“, herrscht ein aufgebrachter, entnervter Yorke in der düsteren Tour-Videodokumentation Meeting People Is Easy seinen Gitarristen an, „Wir waren Nummer eins in allen Polls. Und das ist alles nur ein Haufen Mist! Ein totaler mind-fuck!“

Um die Band musikalisch zu revitalisieren, verlangte Yorke einen radikaleren Ansatz für den Nachfolger von OK Computer, und zwar in Richtung elektronische, programmierte Klänge, für die er sich nach OK Computer verstärkt zu interessieren begann. Eine Herausforderung, die Jonny auf Anhieb gefiel, der sein Bruder Colin aber zunächst skeptisch gegenüberstand: „Ich war ein Soulboy und wusste damals nicht viel über programmierte Musik. Das meiste von dem Zeug auf dem Warp-Label zum Beispiel fand ich einfach kalt. Aber das war genau der Grund, warum Thom es mochte: Diese Musik ist mit keinerlei emotionalem Ballast verbunden.“ Gitarrist Ed O’Brien erinnert sich an die schwierige Anfangsphase der Sessions. „Phil, Colin und ich steckten ein paarmal ziemlich im Dilemma. Wie konnten wir etwas zu dieser neuen Musik beitragen? Wir fragten uns ernsthaft, ob es nicht besser wäre, aus der Band auszusteigen. Es war furchteinflößend am Anfang.“ Letzten September kamen die ersten Früchte von Radioheads Arbeit an die Öffentlichkeit. Das Album Kid A brachte der Band Punkte bei den „experimental dance“-Freunden, verschreckte aber einige ihrer alten Gitarren-Fans. Jetzt kommt Amnesiac auf den Markt, Radioheads fünftes Album und die Schwester von Kid A: Alle Tracks auf beiden Alben entstanden während derselben Sessions. Gerüchten zufolge sollte Amnesiac „zugänglicher“ werden als sein Vorgänger, aber das stimmt nur bedingt. Die Texte sind weiter schwer zu verstehen, Melodien schlagen unerwartete Haken, ein „Paranoid Android“ oder „Karma Police“ wird man vergeblich suchen.

Am 12. April 2001 setite sich Thom Yorke mit mir zusammen, um die Kämpfe und Erfolge der letzten Jahre zu diskutieren. Weil er vor kurzem Vater geworden ist (seine Freundin Rachel hat Ende letzten Jahres ihren Sohn Noah zur Welt gebracht) hatte er in der letzten Zeit nicht viel Schlaf bekommen, wirkte aber trotzdem frisch und guter Dinge ob seiner neuen Verantwortung. Klein gewachsen, fast zierlich, mit gestutzem rotem Haar und Dreitagebart, wählte er seine Worte sorgfältig, ging aber auf jedes angesprochene Thema mit bewundernswerter Offenheit ein. Thom Yorke hat kein Problem damit, offen über sich selbst als schwer verkorkstes Individuum zu reden. Er mag es nur nicht, wenn andere das tun, das ist alles.

Bist du glücklich mit dem neuen Album?

Thom Yorke: Ich weiß nicht. Als wir mit Kid A auf Tour waren, hatten wir die Tapes dabei, um die Lieder auszuwählen und die Song-Reihenfolge für die Platte auszuarbeiten. Drum habe ich sie mir damals oft angehört. Und das war schön, weil es unser „geheimes Album“ war. Wie unsere Geheimwaffe gegen all das seltsame Zeug, das vorging – die Tatsache, dass wir noch eines in der Hinterhand hatten, das noch niemand anders hatte (grinst). Aber jetzt habe ich es mir ein bisschen abgehört und weiß nicht mehr recht. Die Songs waren alle zur selben Zeit fertig wie Kid A. Wir hatten eine ganze Latte von Song-Skizzen, ungefähr 60. Einige davon waren Songs, andere nur Sequenzen oder Ideen für Sounds. Diese Liste haben wir immer mehr konzentriert, bis ein Block von Stücken übrig war, die eine gute Einheit ergaben. Auf diese Weise ergab sich Kid A relativ einfach und offensichtlich. Aber bei Amnesiac war das schwieriger.

Was sind essentielle Unterschiede zwischen den beiden Alben?

Weiß der Teufel. Hm. (Pause). Kid A war wie ein elektrischer Schlag. Amnesiac ist mehr wie im Wald zu stehen (lacht), auf dem Land zu sein. Ich glaube, das Artwork zeigt es am bestem. Bei Kid A ist alles in der Ferne, die Feuer sind auf der anderen Seite des Berges. Bei Amnesiac ist man sozusagen mitten im Wald, während es brennt. Amnesiac war viel schwieriger zusammenzustellen, vielleicht auch, weil wir uns so sehr auf das erste Album konzentriert hatten.

Pyramid Song und Everything In Its Right Place von Kid A klingen verwandt.

Ich habe sie beide in der selben Woche geschrieben – die Woche, als ich mir mein Klavier gekauft habe (lacht). Ich habe bei den Akkorden viele schwarze Tasten benutzt. Hört sich sehr clever an, ist aber wirklich ziemlich simpel. Für Everything habe ich mein Piano in mein Laptop gespeist und programmiert, aber Pyramid klang unbehandelt besser. Bei Pyramid Song war ich total besessen von dem Charlie Mingus-Song Freedom, ich habe eigentlich einfach versucht, den zu kopieren. Auf der ersten Version von Pyramid hatten wir sogar Händeklatschen wie auf Freedom. Leider klang unser Klatschen ziemlich doof, also hab ich sie schnell wieder gelöscht.

Von den Texten versteht man diesmal wieder nicht viel.

Wirklich? Fuck! Und ich dachte, ich würde sehr deutlich singen.

Das teilweise Undeutliche gibt der Musik etwas zusätzlich Geheimnisvolles.

Das ist lustig, weil dieses Geheimnis absolut nicht beabsichtigt ist. Bei Life In A Glass House ist es mir zum Beispiel extrem wichtig, dass man den Text versteht. Ich hatte dieses Interview mit der Frau eines berühmten Schauspielers gelesen, die drei Monate lang aufs Heftigste von der Klatschpresse belagert wurde. Sie besorgte sich die Zeitungen mit den Fotos von ihr und klebte sie von innen an ihre Fenster, sodass die ganzen Fotografen draußen auf dem Rasen nur noch ihre eigenen Fotos ablichten konnten. Ich fand das großartig, und da fing der Song an. Diese traurige, schreckliche Geschichte, wie sie versucht, mit der Sache klar zu kommen, während er auf Dreharbeiten weg ist. Noch dazu war der einzige Grund, warum sie belagert wurde,der,dass es Gerüchte gab, er hätte ein Verhältnis mit seiner Filmpartnerin. Ich hab mir nur gedacht „Niemand verdient so etwas“. Von da an entwickelte sich der Song zu einer Tirade auf die Klatschpresse, die Menschen nach Belieben zerstört. Was vor allem in England Tradition hat.

Fühlst du dich der britischen Kultur verbunden? Ihr wohnt ja alle noch hier.

Das ist auch mehr eine Frage der Trägheit als von irgendetwas anderem. Es ist einfach nur so: Wenn wir alle zu weit wegziehen würden, würden wir nichts mehr zusammen auf die Reihe kriegen. Ich bin keineswegs stolz darauf, Brite zu sein. Mich interessiert einfach, was hier vorgeht. Als Tony Blair an die Macht kam, habe ich viel über politische Zusammenhänge gelesen, über seinen „Third Way“ und wie er eine Beziehung mit der Wirtschaft aufbauen wollte, die zum Wohle des Landes wäre. Das konnte nicht funktionieren, und das tat es auch nicht. Politik war ein großes Thema für mich, als wir diese Platte gemacht haben.

You And Whose Army ist über Blair, nicht wahr?

Ursprünglich war es über die Stimmen in meinem Kopf, die mich irre machten – um ehrlich zu sein (lacht schallend). Dann hatte ich irgendwann diese „you and whose army“-Zeile und konnte da andere Ideen dranbasteln und auf einmal war Blair das wirkliche Thema. Der Song handelt von jemandem, der vom Volk an die Macht gewählt wird und es dann unverhohlen verrät und betrügt. Genau wie Blair. Auf der anderen Seite meine ich, dass er gar keine andere Wahl hatte. Der Mann ist ein Narr. Er ist ein Produkt seiner Zeit, so wie jede öffentliche Person. Jeder.der in diese Position kommt, wird sofort genauso wie die Leute um ihn herum. Blair kann nichts dafür, so ist er einfach. Er ist umgeben von Kräften, die all das Gute zunichte machen, das er persönlich als Mensch vielleicht erreichen will. Deswegen nenne ich ihn einen Narren: Erspielt den Hofnarren, mehr nicht. Aber das ist heute ja mehr oder weniger mit den meisten Präsidenten so. Ich bin mir sicher, dass ich hier nichts erzähle, was die meisten Leute nicht schon selbst erkannt hätten.

Hat dich die Reaktion der Medien auf Kid A überrascht?

Das war ein ziemlicher Schock. Ich war wirklich sehr, sehr erstaunt darüber, wie schlecht das Album bewertet wurde. Es wurde von „kommerziellem Selbstmord“ geredet, blablabla, und dass wir „absichtlich schwierig“ sein wollten. Das hat mich umgehauen, weil die Musik ja nun wirklich nicht so schwer zu begreifen ist. Wir versuchen, nicht schwierig zu sein. Wir versuchen zu kommunizieren, aber irgendwo auf dem Weg haben wir anscheinend eine Menge Leute sauer gemacht.

Vor allem wohl eine ältere Generation, die sich mit Elektronica und Dance-Musik nicht so richtig wohl fühlt.

Aber sie sollten sie doch zumindest an Kraftwerk erinnern, was? (lacht)Was wir machen ist nun wirklich nicht so radikal. Gut, zu Kid A haben wir keine Videos gemacht, nur diese kurzen Werbefilme, weil wir uns sagten, Videos sind ohnehin nur Werbefilme, also warum lügen? Und wir haben das Magazin/Medien-Spielchen nicht richtig mitgespielt. Wir waren der Ansicht, das können wir uns erlauben, wir haben es uns verdient, also tun wir’s. Aber die Reaktion der Medien war“Sie wollen also nicht mitspielen? Dann gibt’s eins aufs Dach!“ Ich dachte nur, was zur Hölle geht hier vor? Wir machen doch nur Musik hier! Kommt zurück auf den Teppich!

Du hast dich mit Bono angefreundet. Wie reagierst du, wenn er sagt, ihr seid zu talentiert für Randgruppen-Musik, dass ihr mehr auf den Mainstream zugehen solltet?

Ich würde antworten müssen, dass das nicht meine verdammte Schuld ist. Wir können das Spiel einfach nicht mehr spielen. Nach OK Computer hatte ich persönlich so viele Gespenster im Schrank, dass ich selbst überhaupt nicht mehr in ihn reingehen konnte (lacht). Jedes Mal, wenn ich eine neue Platte rausbringe, ist das eine unglaublich alptraumhafte, stressbeladene Angelegenheit für mich, weil ich mich mit dem ganzen dunklen Zeug in meinem Schrank auseinandersetzen muss.

Du hast dem englischen Q Magazin letztes Jahr gesagt, du seist Melodien leid. Auf Amnenoc dehnt ihr die Songs fast absichtlich, sodass sie nie ein ein konventionelles Akkordfolge-Schema fallen.

Ja, es gibt auf der ganzen Platte keine offensichtlichen „Hier kommt der Refrain“-Momente. Die Musik, die ich damals hörte, hatte keinerlei solche Melodien. Wenn ich sogenannte kommerzielle Melodien höre,zucke ich zusammen. Melodien sind einfach zu verdammt aufdringlich. Es ist wie wenn eine Wespe um einen rumschwirrt: man will einfach nur, dass sie abhaut.

Knives Out und In Limbo haben knifflige Takt-Schemata, seltsame Akkorde. Versuche, den Hörer zu desorientieren?

In gewisser Weise, ja.

Aber gleichzeitig ist die Musik von In Limbo auf Kid A die perfekte musikalische Metapher für den Zustand des Im-Flusse-Seins, über den du singst.

Auf Kid A sind die Texte selbst einigermaßen leer, sie machen Platz für die Musik. Das hat mit meiner Reaktion auf OK Computer zu tun, wo die Texte die Musik in den Hintergrund drängten. Nach OK Computer war es so, dass ich es unglaublich schwer fand, Emotionen, die ich durchlebte, in Songtexte zu fassen.

War das eine Form von Schreibblockade?

Nicht wirklich eine Schreibblockade, denn die Worte kamen aus mir raus wie Durchfall, aber sie waren alle fürchterlich! Und-was noch schlimmer war – ich sah den Unterschied zwischen gut und schlecht nicht mehr. Ich hatte jegliches Selbstvertrauen verloren.

Wann und wie kam es zurück?

Als wir The National Anthem aufnahmen. Ich liebe diesen Track. Und Everything In Its Right Place auch. Und auf In Limbo bin ich stolz wegen des schwebenden, desorientierenden Feelings, das wir da eingefangen haben. Auf dem neuen Album – obwohl ich’s zu oft gehört habe – ist Pyramid Song immer noch ein ziemlich guter Song. In Sachen Neuland ist Like Spinning Plates für mich das beste Stück. Wenn ich mir das im Auto anhöre, wackeln die Türen (lacht). Aber Knives Out – den Song habe ich von Anfang an gehasst.

An dem Song habt ihr am längsten gearbeitet, wie man hört.

Ja. Weil ich ihn so gehasst habe.

313 Stunden – ist das korrekt?

Möglicherweise. Ich habe nicht mitgezählt. Auf jeden Fall lange Zeit. Sehr lange Zeit.

Kamen von den anderen Bandmitgliedern bei den Sessions jemals Bedenken, dass du’s nicht mehr auf die Reihe kriegst?

Oh ja! Sehr. Ganz massiv. Es gab einen Haufen deprimierend offener Aussprachen bis spät in die Nacht. Das Traurige dabei war, dass nur sehr wenige dieser Streitigkeiten mit Musik zu tun hatten. Wir waren einfach am Streiten. Wirklich traurig. Persönlich gesagt, ich war während dieser Zeit einfach total am Ende. Niemand konnte irgendetwas zu mir sagen ohne dass ich mich umgedreht und ihn mit einer fiesen Tirade überzogen hätte. Es war wirklich schlimm.

War es dein persönliches Bestreben, OK Computer nicht zu wiederholen?

Ich glaube nicht, dass das nur ich war. Eigentlich wollte das keiner. Alle sagten: „Irgendwo müssen wir anfangen.“ Und ich stand da. Ja, aber nicht hier!“ Und sie sagten:“Wo dann?“ Und ich: „Weiß ich nicht.“ So drehte sich das immer im Kreis. Wir fingen mit einer Idee an und mittendrin fing ich an zu schreien „Das ist Mist! Halt das Sand an!“ Und ich riss das Tape runter und wir fingen etwas anderes an. Wir waren an einem Punkt, wo die Dinge nur noch am Auseinanderfallen waren. Dann hörten wir uns solche Tapes Monate später wieder an und standen plötzlich da: „Das ist fantastisch! Warum zum Teufel haben wir aufgehört daran zu arbeiten?“ So ist das mit einem Haufen Songs wie Morning Bell oder Like Spinning Plates gelaufen. Wie waren unfähig, an einer Sache dranzubleiben, bis sich die Dinge dann etwas normalisierten.

Bei Radiohead ist das Plattenmachen ja offenbar immer mit viel Haareraufen verbunden. Ihr nehmt die Dinge nicht gerade auf die leichte Schulter.

Yeah. (lacht) Nigel (Godrich, Radioheads Produzent seit OK Computer) sagte oft „Ihr benehmt euch wie ein Haufen method actors. Kriegt euch ein! So wichtig ist das alles auch nicht!“ Ich glaube, ich bin mit schuld daran, dass viel zu lange ein Klima der Angst geherrscht hat. Na, eigentlich bin ich sogar viel mehr daran schuld als die anderen. Ich war einfach so am Ende…

Dir muss klar sein, dass viele eurer frühen Fans sagen werden, „Dieses ganze Experimentieren ist ja ganz nett…“

„….aber irgendwann kommen sie schon wieder auf das gute Zeug zurück.“ (lacht) Warum darf zum Beispiel Jonny Greenwood – wahrscheinlich einer der aufregendsten Gitarristen momentan – nicht mehr von dem tun, was er am besten kann?

E-Gitarre ist toll. Ich liebe es, wenn Jonny Gitarre spielt. Aber keiner von uns wollte eine Rock-Platte machen. Und Jonny hat dieses ganze verrückte Zeug, das überhaupt nichts mit Gitarren zu tun hat. Er kam in die Band, da war er 14 und schon Multiinstrumentalist. Er spielt Keyboards, kann Streicher-Arrangements schreiben. Er kann sogar Noten lesen – das können sie mittlerweile alle außer mir. Es ist ein bisschen furchteinflößend: Jonny kann mit allem, was er in die Hand nimmt, Musik machen. Da ist es nur logisch, dass er andere Sachen ausprobiert.

Drüben in Amerika scheint man das, was ihr tut, mit offenen Armen aufzunehmen.

Wir waren nur zwei Wochen drüben, aber das war wirklich gut. Die Presse war nett, das war eine Abwechslung. In Amerika wird viel weniger hinterfragt. Das Highlight war unser Auftritt bei Saturday Night Live. Da war ich so stolz drauf. SNL ist berüchtigt für seine einschüchternde Atmosphäre. Wir hatten all diese Horror-Stories von Michael (Stipe, mit dem Yorke seit einer frühen Tournee im Vorprogramm von R.E.M. eng befreundet ist) darüber gehört.

Dein Gerüchte umwobenes Duett mit Bjork bei den Oscars: Was war da los?

Ich war kurzzeitig im Gespräch für den Abend – was toll war. Aber nur kurzzeitig. Die haben ihr da einigen Ärger gemacht, am Ende war es wohl ganz gut, dass ich nicht rüber geflogen bin.

War es also deine Entscheidung nicht aufzutreten?

Nein, ihre Entscheidung. Ich hoffe, wir machen das mal woanders. Die Arbeit mit ihr war aber witzig: Die Session (für Björks Album „Selma Songs“) war einen Tag, nachdem Kid A fertig war. Und ich so Ja! Ich bin raus! Das ist jemand anders‘ Session, ich habe keinen Druck!“

Du hast mit P.J. Harvey auf ihrem letzten Album gesungen. Songs wie Horses In My Dream klingen, als ob Polly zu Patti Smith sagen möchte: „Hör zu Schwester: Du hast das vielleicht als Erste gemacht, aber ich mache es besser!“

Ja, irgendwie schon. Diese Patti Smith Sache war ein großes Thema bei Pollys Sessions. Sie war sich der Ähnlichkeit sehr bewusst, sie hatte richtige Bedenken deswegen. Ich habe ihr nur gesagt, dass alles toll klingt und sie sich über nichts Sorgen zu machen braucht.

Hast du bei dem Text Eures Duetts The Mess We’re In nie befürchtet, die Medien könnten anfangen zu spekulieren, du und Polly hättet etwas miteinander?

Nein! Nein, nein. Und wenn schon: Ich glaube, das hätte ich ziemlich amüsant gefunden (lacht laut heraus). Das wäre wirklich ziemlich lustig gewesen.

Ihr seid jetzt am Proben für eure Tournee. Werden da auch Stücke von Pablo Honey in Betracht gezogen oder ist das zu weit in der Vergangenheit?

Vielleicht. Ich weiß nicht. Von mir aus können wir auch Creep spielen. Ist mir egal.

Ich habe mir Pablo Honey vor ein paar Tagen angehört. Ein tolles erstes Album.

Oooh! Na, ich weiß nicht recht (verzieht das Gesicht und lacht laut los). Wenn ich mich darauf singen höre, erkenne ich mich überhaupt nicht wieder.

Waren die Aufnahmen zum zweiten Album, The Bends, das erste Mal, dass ihr das Gefühl hattet, den Radiohead-Sound gefunden zu haben?

Nein. Es war mehr das übliche „Kopf gegen die Wand schlagen‘ -Szenario, (lacht) Es muss Momente gegeben haben, wo all die Kämpfe plötzlich einen Sinn ergaben.

Oh ja. Ich werde nie den Augenblick vergessen, als wir Street Spirit im Kasten hatten. Der ganze Sinn dahinter, warum man das macht, ist, so etwas zu erleben. Das ist dann das ganze monatelange Rumgemache wert, die ganzen hunderttausend Ideen, die man auf endlosen Bändern aufhäuft. Sollte ich je vergessen, warum ich das mal als meine Karriere gewählt habe: Deswegen. Ich erinnere mich an die magischen Momente von The Bends. An den Street Spirit-Moment erinnere ich mich sehr gut. Wir hatten uns den ganzen Tag im Kreis gedreht, bis ich schon dachte, das wird nie was. Und dann platzte plötzlich der Knoten und es trug mich an einen Ort, an den ich seit Monaten gelangen wollte. Ich hatte endlich den Übergang geschafft. Man ist an diesem Ort dann vielleicht nur drei Minuten und danach wird es nie wieder so gut werden. Aber das ist okay.

Der große OK Computer-Trara hat euch sehr nervös gemacht. Aber auf der anderen Seite müsst ihr es doch auch irgendwie genossen haben, nach so vielen Jahren als Außenseiter plötzlich als „wichtigste Band der Wert“ gefeiert zu werden?

Am stolzesten war ich darauf, dass wir in der Lage waren, unsere Sachen in den Mainstream zu mogeln. Einer der größten Momente war, Paranoid Android auf Radio 1 zu platzieren. Jedes Mal, wenn ich die Single im Radio hörte, hatte ich Leute mit komplizierten Jobs in Fabriken vor Augen, die Verletzungen davontrugen, weil sie dem Song ausgesetzt wurden (lacht). Was die Zeit damals sonst angeht: Wir waren einfach viel zu lange auf Tournee.

Wenn die anderen deine „neue Richtung“ nicht mitgegangen wären, hättest du Kid A als Solo-Album gemacht?

Nein. Dazu hätte ich nicht das Selbstvertrauen gehabt.

Gab es beim Songschreiben Platten aus deiner Vergangenheit, die dich inspirierten? Hast du deine alten Elvis Costello- und Smiths-Alben rausgezogen?

Ein bisschen Smiths, ja! Ich habe mir aber fast keine „Bands“ mehr angehört. Ich habe viel Mingus gehört. Ich mochte auch das Richard D. James Album von Aphex Twin. Ich hatte ein Tape des Jazz-Pianisten Bud Powell – das ich später verloren habe – das mich sehr inspiriert hat.

Kid 4 und Amnesiac werden keine Bon Jovi-mäßigen Stückzahlen absetzen. Was ihr da macht, erinnert an David Bowies Low. Ein „Fuck you!“ an den Mainstream.

Ja, irgendwie. Aber ich würde einwenden, dass hinter Low keine bewusste „Ihr könnt mich alle!“-Entscheidung stand. Für mich hat Bowie einfach gesagt, „Ich gehe jetzt in diese Richtung. Kommt mit, wenn Ihr wollt.“ Eine reine „Leckt mich!“-Attitüde bemerkt man sofort. Ich glaube nicht, dass man so überhaupt Musik machen kann. Der Sinn dabei, Musik zu machen, ist doch, etwas ‚rüberzubringen. Außer man ist Atari Teenage Riot (lacht).

Es war seltsam, dich letztes Jahr bei der „Jubilee 2000“-Kampagne für den Schuldenerlass für die Dritte Welt zu sehen. Du sahst nicht aus, als hättest du dich sehr wohl gefühlt da zwischen Bono und Bob Geldof…

Ich glaube, keiner hat sich da besonders wohl gefühlt. Es war schon sehr anstrengend, zu verstehen, worum es überhaupt genau geht. Diese ganzen Interviews geben zu müssen – die Menge Information, die ich schlucken musste, um sie dann wieder auszuspucken, war einfach alptraumhaft. Ein Haufen von dem, was als Politik bezeichnet wird, sind bescheuerte Cowboys- und -Indianer-Spielchen und hat keinerlei Bedeutung. Die wirklich wichtigen Themen in der Politik sind das Verhältnis der Ersten Welt zur Dritten Welt, Handels-Gesetzgebung, NAFTA- und GATT-Abkommen und nichts davon wird je als politisches Problem diskutiert. Das bewegt sich alles im Reich der Wirtschaft und das ist ein beschissener Zustand. Ich bin stolz darauf, da invoiviert gewesen zu sein. Wir waren unglaublich privilegiert, nach Köln zu fahren und mal die Realität politischen Manövrierens zu sehen. Zu sehen, dass das, was der Presse gefüttert wird absolut nichts mit dem zutun hat, was hinter den Kulissen vor sich geht.

Du musst entzückt sein von George W. Bushs Wahl zum US-Präsidenten.

Ich habe mich gefreut wie ein Schneekönig. Um ehrlich zu sein, finde ich es sogar gut, weil es die Leute radikalisieren wird. Leuten, die sich nie für Politik interessiert haben, wird klar werden, dass sie aufstehen und verdammt nochmal etwas tun müssen.

Die Mitglieder von Radiohead – außer Jonny – reagieren empfindlich auf Vorwürfe, Radioheads Musik sei eine Art neumodischer Prog-Rock. Aber das goldene Zeitalter des Progressive Rock hat ja neben Gentle Giant und Yes auch Leute wie Can, Soft Machine und Captain Beefheart hervorgebracht. Mit denen in Verbindung gebracht zu werden, ist doch sicherlich nichts, wofür man sich schämen musste, oder?

Nein, glaub ich nicht. (Pause) Aber ich sehe uns nicht wirklich als „progressiv“. Man geht einen bestimmten Weg-weil man sich einfach dafür entschieden hat. Ich glaube, viele Leute drehen einfach ab oder verlieren sich in irgendwelchen peripheren „Lifestyle“-Aspekten. Das ist es, was dem Rock’n’Roll so viel Schaden zugefügt hat: Die Vorstellung, dass es ein „Lifestyle“ ist und sonst nichts. Jeder hat Probleme, Leute geraten aus der Spur. John Coltrane wurde süchtig nach Heroin und heißer Schokolade (lacht). Aber wenn du Musik wirklich liebst, willst du dich nicht wiederholen. Sachen anderer Leute inspirieren dich und lassen dich Neues anpacken. Wenn es das ist, was „progressiv“ bedeutet, dann ja: Das sind wir. Aber auf Teufel komm raus zu versuchen, clever, schwierig oder störrisch zu sein, hat überhaupt nichts mit uns zu tun.

Amnesiac ist das fünfte Album für die EMI. Nach dem sechsten läuft euer Vertrag aus. Habt ihr Pläne, eure Musik in Zukunft übers Internet zu vertreiben?

Nein. Wir wollen weiterhin eine Ausrede, Plattenhüllen und Artwork zu drucken. Für mich ist die Verpackung intergraler Bestandteil einer Platte. Ich weiß, das klingt jetzt nach Kunst-Wischiwaschi, aber wenn die Musik nicht die Bilder dazu inspiriert, fühle ich mich nicht wohl. Das Cover von Amnesiac sieht aus wie ein zugeklapptes Buch.

Konntest du etwas präziser werden?

Nein. Das ist alles (lacht laut los). Wir hatten die Vorstellung, dass Amnesiac sein sollte, wie wenn man in jemandes Dachboden kramt, und man öffnet eine Kiste und findet Aufzeichnung von einer Reise, ie derjenige unternommen hat. Es gibt eine Geschichte, aber keine wirkliche Handlung, man muss Fragmente rauspicken. Man ahnt, dass dieser Person etwas Bedeutsames widerfahren ist, das sie komplett verändert hat, aber es wird nie genau klar, was das war.

Eine Frage zum Schluss: Vaterschaft. Wie hat sie dein Leben verändert?

Ich nehme die Dinge nicht mehr so ernst, was gut ist. Und wenn ich mal von zu Hause weg kann, ist das eine riesen Sache. Wenn ich jetzt was anpacke, dann möchte ich,dass was vorwärts geht, weil ich in vier Stunden wieder zu Hause sein muss. Das ist sehr gut für mich, denn wenn ich mir selbst überlassen bin, arbeite ich die ganze Zeit. Wenn man mich allein zu Hause lässt, ist alles, was ich tue, arbeiten, ich würde einfach nicht aufhören. Also ist es sehr gut, dass ich jetzt etwas viel Schöneres habe, auf das ich mich konzentrieren kann.

Der Frühling ist da, und in dem verschlafenen Örtchen Didcot bei Oxford proben Radiohead für ihre anstehende Sommer-Tournee. Der lange Winter der Unzufriedenheit ist vorbei. Vögel singen, neugeborene Babies grummeln, und elektrische Gitarren werden aus Flight-Cases geholt und in große Verstärker gestöpselt. „Es ist eigenartig, jetzt zu proben“, sagt Thom Yorke mit kaum verhohlenem Enthusiamus. „Wir sollten uns noch ein paar Parts von Amesiac draufschaffen, aber wir schreiben die ganze Zeit neues Zeug. Großartig. Die Songs kommen einfach daher. Wir haben alle unser Selbstvertrauen zurück.“ Wie klingen diese neuen Songs? „Laut und mit vielen Gitarren!“, begeistert sich Jonny Greenwood. „Es ist cool, wieder laute Musik zu machen. Wir spielen sogar ein Neil Young Cover, Cinnamon Girl. Laute Moll-Akkorde, Verzerrung! Fantastisch!“ Für Old School Radiohead-Fans ist das wohl zu schön, um wahr zu sein. Ob das sechste Album dann wie eine konventionelle Rock-Platte oder wie moderne Klassik klingen wird, steht freilich in den Sternen: Thom und seine Männer sind auf einer Reise. „Und wenn wir wieder in eine neue Richtung starten, ist es auch okay, wenn du diesmal nicht mitkommen willst. Wir kommen ohnehin mal wieder in deine Gegend zurück. Wir werden unsere Gitarren rausholen, wenn jeder sonst deutschen Techno spielt. Macht euch keine Sorgen um uns.“

www.radiohead.com

Nick Kent, 48, ist einer der renommiertesten britischen Rockjuumalisten; als Anhänger von Lester Bangs machte er sich in den 70em einen Namen als Autor für den NME. Kent schrieb für Magazine wie Mojo, The Face und SPIN, arbeitete fürs TV und veröffentlichte Bücher.