Tom Morello über Wahrheit


Der Mann, der mit Rage Against The Machine früher und als The Nightwatchman heute für die Wahrheit kämpft, hat nicht gelogen, bis er 17 war. "Irgendwann hab' ich Kompromisse gemacht. Und das bereue ich" verrät er Christoph Lindemann. FOTO SEVERIN SCHWEIGER

Tom Morello hat ein Solo-Projekt ins Leben gerufen: Als The Nightwatchman singt er Lieder mit politischen Texten und begleitet sich dabei selbst auf einer akustischen Gitarre. „Tell Us The Truth!“, hieß die Tour im Herbst 2003, auf der er erstmals als Singer/Songwriter vor ein großes Publikum trat. So sehr er als Musiker die Arbeit mit Audioslave schätzt – dem Rebell in ihm geht sie nicht weit genug. „Ich verrate dir meine Wahrheit“, sagt er bei einem intensiven Gespräch in München. „Ein Leben ist mit Sinn erfüllt, wenn man es nutzt,für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen.“

„Drei Akkorde und die Wahrheit ‚-so beschreibst du das Konzept von The Nightwatchman. Gibt es „die Wahrheit“ überhaupt?

The Nightwatchman glaubt daran (lacht). Es gibt schon bestimmte Ideen, die eine starke Wirkung haben, die etwas zum Schwingen bringen.

Ist die Wahrheit aber für jeden Menschen eine andere? Im neuen Audioslave-Song „Somedays“ heißt es: „We sleep beneath the same sky, but we alt see it through different eyes.“

Sehr treffend formuliert- das ist schon bei uns vieren in der Band so: Wir haben oft die gleichen Erlebnisse und bewerten sie doch ganz unterschiedlich.

Statt einer Wahrheit gibt es also Milliarden von individuellen Realitäten?

Wahrheit ist ein zu weites Feld, um sie mit dem Begriff „eine Wahrheit“ zu erfassen. Bei einem konkreten Beispiel aber kann ich dir schon sagen, was ich für die Wahrheit und was ich für eine Lüge halte. Zum Beispiel der Fall der letzten Bauern in L.A., denen jetzt ihr Land weggenommen wird: Aus Sicht des Bürgermeisters ist die Wahrheit, dass die Gewinnmaximierung das höchste Gut ist. Das halte ich für falsch.

Lässt sich steuern, was Menschen für Wahrheit halten?

Um die Herzen und die Gedanken der Menschen wird beständig Krieg geführt. Das nennt man Propaganda. In den USA zum Beispiel hat die Regierung in dieser Schlacht ein ganzes Repertoire von tollen Tricks parat. Angstmache funktioniert immer: Wenn der Präsident in Umfragen schlecht aussieht, gibt es sofort eine neue Bedrohung durch Terroristen. Oder Iran entwickelt Nuklearwaffen und Homosexuelle könnten heiraten wollen. So wird öffentliche Meinung manipuliert. Aber dieser Krieg um die Herzen wird an verschiedenen Fronten gekämpft – Kultur und Musik spielen eine wichtige Rolle. Die Musik, die ich als Jugendlicher gehört habe, hat mein Misstrauen geschärft.

Du hast die Wahrheit von Platten erfahren?

Public Enemy haben mir eine andere Wahrheit als die gezeigt, die mir von Lehrern und Nachrichtensprechern eingetrichtert wurde. Und der Song „Washington Bullets“ von The Clash beschreibt die Südamerika-Politik der USA wesentlich zutreffender als alles, was man auf CNN zu sehen bekommt.

Die Medien vermitteln keine Wahrheit?

Himmel, nein. Nicht in meinem Land. Zur Zeit steht in Amerika ein riesiger Elefant mitten im Raum, und keiner spricht das an. Im Irak sind bereits 2500 amerikanische Soldaten umgekommen, wir haben aber noch keine einzige Leiche gesehen. Ein Kriegsverbrecher sitzt im Weißen Haus, und polirisch rechte Milliardäre haben die Weltherrschaft inne – die Medien tendieren aber dazu, lieber über das neue Date von Paris Hilton zu berichten.

Könnten die Medien überhaupt die Realität abbilden ? Es liegt in ihrer Natur, selektiv zu sein.

Vor zehn Jahren gab es noch 30 Medienkonglomerate, die alle großen Medien-Outlets kontrolliert haben. Heute gibt es sechs. Der Zugang zu Information und Meinungsvielfalt aber ist in einer Demokratie entscheidend. Wenn die Gatekeeper nur ein paar Konzerne sind, die ein politisches Interesse verfolgen, dann bestimmt ein Haufen von meist widerwärtigen Menschen, was die Wahrheit ist. Sie füttern den Leuten gezielt Informationen, damit die nicht auf den Straßen Barrikaden errichten, sondern sich lieber mit ihren iPodsund Playstations beschäftigen, (lacht) Ware es einer Regierung überhaupt möglich, immer die Wahrheit zu sagen?

Der große Journalist I.F. Stone hat gesagt, dass alle Regierungen lügen.

Und das muss so sein?

So war es zumindest bisher. Ich sage nicht, dass es so sein muss. Eine Regierung, die wirklich nur das Beste für die Bevölkerung im Sinn hat, muss vielleicht nicht lügen. Weil sie auch nicht aus Marionetten mächtiger Lobbyisten besteht.

Die Suche nach Wahrheit war immer die Aufgabe der Philosophen. Piaton wollte, dass die auch den Staat regieren. Wäre das eine Lösung?

(lacht) Das ist der leninistischen Weltsicht ähnlich. Ich unterschreibe das nicht. Der belesenste, gebildetste Mensch muss nicht auch der beste Regierungschef sein. Diese Haltung ist ziemlich undemokratisch.

Haben deine Eltern Wert auf Wahrhaftigkeit gelegt ?

Ja, sehr. Ich kann mich nicht daran erinnern, gelogen zu haben, bevor ich vielleicht 17 Jahre alt war.

Das war bei mir ahnlich. Nur bin ich dann Leuten begegnet, die das einfach nur dumm fanden.

(lacht) Irgendwann – als Mädchen ein Thema wurden – hab‘ ich dann auch Kompromisse gemacht. Wenn ich von einer Verabredung nach Hause kam, wollte ich einfach nicht so komische Fragen beantworten. Ich hab‘ einen Weg gefunden, elegant das Thema zu wechseln, ohne dass ich richtig lügen musste.

Eine Erfahrung, die zum Erwachsenwerden gehört.

Bestimmt. Aber ich bereue das trotzdem. Es hat etwas sehr Reines und Klares, immer aufrichtig zu sein.

Es kostet aber auch viel Kraft, immer und ausschließlich die Wahrheit zu sagen. Wer kein Problem damit hat, auch mal die Unwahrheit zu sagen, ist freier.

Unbedingt. Aber ich kenne ein paar Leute, die sogar die Wahrheit gesagt haben, wenn es ihren eigenen Interessen geschadet hat. Das ist eine Qualität, die ich enorm bewundere.

In Zeiten des allgemeinen Betrügens ist es ein revolutionärer Akt, die Wahrheit zu sogen. Sagt George Orwell.

Das sind die Zeiten, in denen wir heute leben.

Hast du erlebt, dass Leute versucht haben, dich davon abzuhalten, die Wahrheit zu sagen?

Oft genug. Mit Rage Against The Machine und auch bei dem Mumia-Abu-Jamal-Fall. Da hat die Polizei versucht, uns zum Schweigen zu bringen, weil ihnen unsere Thesen lästig waren: Man hat versucht, Konzerte absagen zu lassen und Druck auf Zeitungen auszuüben, damit keine Berichte gedruckt werden.

Welche Rolle spielt Wahrhaftigkeit in der Musik?

Sie ist das Einzige, was zählt. Als Künstler habe ich nur eine Verantwortung: Musik zu machen, die meiner Wahrheit gerecht wird. Ehrlich und wahrhaftig. Sonst wird es kalkuliert, das interessiert mich nicht.

Kalkulierte Musik ist oft sehr erfolgreich.

Klar. Aber Rage Against The Machine sind auch ein interessantes Beispiel: Als wir die Band gegründet haben, konnten wir uns beim besten Willen nicht vorstellen, dass kommerziell da irgendwas rausspringen würde. Wir dachten, dass wir mit so radikaler und politischer Musik nicht mal ein Konzert buchen könnten. Das einzige Ziel war damals, innerhalb der vier Mauern unseres Proberaums die Wahrheit zu sagen. So wie wir sie gesehen haben.

Ein Freund von mir hat eine interessante These über Musik: „Wenn etwas wahr ist, bekommt man Gänsehaut.“

Das stimmt! Und zwar nur, wenn etwas wahr ist.

Aber manchmal ertappe ich mich auch dabei, wie ich bei kitschigen Sachen Gänsehaut bekomme…

(lacht) Lass uns das mal kurz überintellektualisieren: Vielleicht bist du sozial so konditioniert, dass du das Gefühl hast, du solltest dieses oder jenes kitschig finden. Dabei schlägt es aber vielleicht doch eine Saite in dir an-weil es die Wahrheit ist.

Martin Luther King Jr. sagt: „Die reine Wahrheit und die bedingungslose Liebe haben das letzte Wort.“

Er ist optimistisch. Auch ich habe einen Traum. Ich stimme ihm zu, der Nightwatchman aber tut es nicht. www.axisofiustice.com