US Underground:


Zu Zehntausenden bevölkern sie die Clubs und Highways der USA. Bands, die Erfolg suchen, aber viel zu oft am täglichen Kampf ums Überleben scheitern. Ihr Leben ist geprägt von der Brutalität einer gnadenlosen Gesellschaft, ihre Musik glaub- würdiger als die etablierter Stars. Vier dieser Bands - BLACKBOARD JUNGLE, SORRY ABOUT YOUR DAUGHTER, GODHEAD und SPUN erhielten die Chance ihres Lebens und nahmen für Marlboro einen Sampler auf. ME/Sounds berichtet über das Leben auf endlosen Straften und miesen Bühnen

Los Angeles. Der Marlboro-Mann steht im Regen. Trübe Stimmung im sonnigen Kalifornien. Über dem 4oMeter hohen Reklame-Monster am Sunset Boulevard hängen schwarze Wolken. Hundert Meter östlich der Coconut Teazer, ein Club so lila wie die Milka-Kuh, nur um vieles dreckiger, „I’ll kill you!“ Im Coconut Teazer ist die Stimmung ins Pechschwarze umgekippt. „Ich bring dich um!“ Soundcheck der L.A.-Band Blackboard Jungle. Drummer und Bassist prügeln sich auf der Winz-Bühne des Ladens bis Blut fließt. Grund für die Gewalt: Drummer Brett Bradshaw, im musikalischen Untergrund von Los Angeles eine gestandene Größe, ist neu bei Blackboard Jungle und will fürs Fortkommen der jungen Band nur eines tun – Schlagzeug spielen. An Promotionaktivitäten dagegen ist er weniger interessiert. Werbung hätten Blackboard Jungle ebenso bitter nötig wie Tausende von anderen Bands, die in Amerika Tag für Tag aufs neue ihr Publikum suchen. Irgendein Publikum. Die Anzeigenseiten der Wegwerfblätter Hollywoods sind voll mit den Träumen unzähliger White Boys: ‚Ads‘ für Club-Gigs unbekannter Bands, ausgenutzt von oft skrupellosen Clubbesitzern, die Geld für das Privileg verlangen, in ihrem Laden auftreten zu dürfen. Sie zahlen alle, erkaufen sich damit die Hoffnung, einem Talent Scout aufzufallen, die nächsten Guns’n’Roses zu werden. Eine Band unter Zehntausend schafft’s. Vielleicht.

Fürs Establishment sind sie White Trash, gesellschaftlicher Abfall, der vom Müll kommt und da hingehört. Dabei schuften die Kids dieser spezifisch amerikanischen Underground-Szene härter als die meisten Manager, Plattenfuzzis und Promo-Leute. Geben auch noch den letzten ihrer wenigen Cents für Instrumente aus, fürs Benzin zum nächsten Gig. Unterstützt von der Freundin, die bei McDonalds 4 Dollar 25 pro Stunde verdient, oder von der Oma, die die magere Rente ins

Glück der Enkel investiert.

Manchmal haben sie dieses Glück sogar: Vier bislang wenig bekannten US-Bands, unter ihnen auch Blackboard Jungle, bietet sich die Chance ihres Lebens. Und die heißt Marlboro Music.

Das Tochterunternehmen des mächtigen Zigaretten-Multis Philip Morris sucht passend zum Zigaretten-Slogan den Sound von Freiheit und Abenteuer. Repertoire-Manager Tim Stickeibrucks (28): „Hat man den Cowboy aus der Marlboro-Werbung vor Augen, müßten wir uns eigentlich nach Country-Klängen umhören. Genau das wollen wir aber nicht. Statt dessen setzen wir auf frische Sounds aus dem Untergrund.“ Bei Marlboro Music glaubt man, mit den vier auserwählten Bands den US-Underground zumindest ansatzweise zu greifen. Deshalb wurde eine Doppel-CD mit Songs der glücklichen Gruppen vollmundig auf den Namen ‚America Now‘ getauft. Tatsächlich: Vieles auf der Platte spiegelt die amerikanische Wirklichkeit wider – Zerrissenheit hinter einer scheinbar intakten Fassade.

Für die meisten im Land der begrenzten Unmöglichkeiten ist der amerikanische Traum längst zu Ende. Wenigen Superreichen steht ein Heer von Hoffnungslosen gegenüber. Crack und Knarren statt Glück und Geld. Ein Toter mehr bei Kämpfen rivalisierender Street Gangs? Wen kümmert das schon?

Amerikanische Musik – speziell die, die im Untergrund ihren Anfang nahm – behandelt aus Tradition die Alltagsprobleme. Blues, Rock’n’Roll, Metal, Rap, US-Punk Schreie gegen die Ungerechtigkeit einer Gesellschaft, die sich ihre schlimmsten Wunden selber zufügt. Doch alle – auch aus Tradition – wollen den Erfolg, hungern danach. Die meisten Bands bleiben auf der Strecke, resignieren. Zurück ins anonyme Niemandsland des täglichen Überlebens.

Und das, obwohl viele von ihnen jahrelang für null Kohle landauf landab durch die Clubs tingeln. Wie Sorry About Your Daughter. „Keine Ahnung, wo wir im Laufe der Zeit schon überall waren“, versucht sich Aaron Wertlieb, Bassist der Band aus Washington D.C., erfolglos zu erinnern. Auf der Rückseite des Band T-Shirts könnte er’s nachlesen. Neben dem sinnigen Spruch „Warmes Bier, billiges Essen und laute Musik“ stehen die Städte und Dörfer, die Aaron vergessen möchte. Hampton/Virginia, Rockville/Massachusetts, Raleigh/ North Carolina oder Frederick/Mary-land gelten noch als Highlights. „Chicken Wire Tours“ nennen Bands die Klagestrecken durch die Honky Tonks. Chicken Wire weil oft die Bühnen mit Maschendraht vor fliegenden Bierflaschen geschützt werden müssen.

Heute aber haben Aaron und seine drei Mitstreiter Glück. Im Paragon, wenige Meilen außerhalb von Washington D.C., der Mörder-Hauptstadt Amerikas, spielen sie vor dem Marlboro-Mann aus Fleisch und Blut, der sie unter Vertrag genommen hat, und zudem auch noch vor vertrautem Publikum. Dennoch: Die zahlenden Zuhörer läßt die Show der hart arbeitenden Band eher kalt. Die meisten in diesem Club, eine Mischung aus Western-Saloon und Vorstadt-Disco, stehen in kleinen Gruppen an der 20 Meter langen Bar und schütten sich zu. Den größten Spaß hat eine aufgekratzte Blondine, die zwei zugeknallten Boys zuerst den knallroten Slip unter ihrer Jeans präsentiert, um ihnen dann unverhohlen an den Schritt zu fassen.

Unter den Musikern sind derlei unverhoffte Freuden eher selten. Statt dessen: Abertausende von Meilen durch die US-Provinz. In klapprigen Transportern, in denen nicht nur das Equipment über die endlosen Highways gekarrt wird, sondern die auch noch als Schlaf- und Wohnraum dienen. Verpflegung kommt in Form eines Riegel lappigen Toastbrots aus dem überfließenden Regal der Convenience Stores an den Strassen, ein Six-Pack Billigbier, Ladendiebstahl wird als Währung akzeptiert. Oder Fast Food von der

nächsten Burgerbude inklusive, Big Mac für 99 Cents im Sonderangebot. Einer reicht für’nen halben Tag. Muß.

Die Abstecher in die Größstädte sind auch nicht besser. Das Equipment ist im verrosteten Mini-Truck, einer muß immer in der Karre bleiben, und auch dann ist man nicht sicher. Carjacker klauen die Autos inklusive Fahrer mit vorgehaltener Pistole. Widerstand, darüber informiert das Fernsehen täglich, ist lebensgefährlich.

Godhead kennen die Probleme zur Genüge. Auch sie tragen ihre metallische Power-Show kreuz und quer durch die Staaten durch glitzernde Kinokulissen, verdreckte Armenghettos und staubige Wüstenkäfer. Beim täglichen Depri-Anfall hilft das Foto der Freundin, der Anruf von der Öffentlichen am Wegrand. Ohne Rücksicht auf die knappe Kasse hat ihr Bandbus den Dienst quittiert. Gespielt wird trotzdem. Heute abend im Black Cat, einem düsteren Club in einer wenig vertrauenerweckenden Gegend von Washington, an dem seit kurzem Nirvana-Drummer Dave Grohl beteiligt ist. Der Eintritt kostet fünf Dollar. 137 Leute sind gekommen, und geteilt wird durch drei. Durch drei Bands, wohlgemerkt. Denn vor Godhead bemühen sich zwei weitere Gruppen um die Gunst des gleichgültig wirkenden Publikums. Geld wird einzig am Tresen gemacht. Denn hier fließt Budweiser in Strömen.

Good Guys, ein Etablissement in der Nähe von Georgetown, in dem Musik die zweite Geige spielt. Hier sucht Godhead-Bassist Bruce Brandstatter (23) Entspannung – und findet sie auch. Striptease-Show auf Amerikanisch. Wer will, darf sich vor der Bühne aufbauen und die weibliche Anatomie aus nächster Nähe

begutachten. Allernächste kostet „nen Dollar, Anfassen strengstens untersagt. Aber was will man bei dem Preis schon verlangen? Bruce jedenfalls gefällt’s. Auch seiner Freundin – auf der Bühne arbeitet ihre ehemalige Kollegin. Showbusiness im Land der Träume!

Wieder zurück in L. A.: Zu Tausenden zieht „Tinseltown“ junge Möchte-Gern-Schauspielerinnen an, die mit großen Augen aus dem Bus oder Flugzeug steigen, um dann nach kurzer Zeit mit kleiner gewordenen Augen in einem der einschlägigen Strip-Clubs zu landen. In Läden wie Grandville zum Beispiel, in dem sich Damen ihrer letzten Hoffnungen entblättern. Heute abend aber steht die Untergrundband Spun auf der Tanzbühne und muß sich damit abfinden, daß vor ihrem Auftritt Pornographisches auf eine Leinwand vor der Bühne projiziert wird. Der Besitzer wollte die Band am Nachmittag noch auf die Straße setzen – die Stromversorgung war wegen Überlastung zusammengebrochen.

Spun ist zufrieden. Die Sicherungen halten, und die Reaktion des Publikums auf den nebelumwaberten Auftritt der Band (Ja, die Talentsucher amerikanischer Plattenfirmen sind gekommen!) ist positiv. Trotzdem bleibt Sänger Paul Roessler, mit 34 Senior der Szene, Ex-Mitglied der legendären Punk-Kapelle Black Flag und später Keyboarder in der Nina Hagen Band, skeptisch: „Heute stehen die Leute vor der Bühne und jubeln, feiern dich als Genie. Aber morgen? Im schlimmsten Fall kannst du dann schon bei der Müllabfuhr dein Geld verdienen.“

Roessler kennt die Höhen und Tiefen des amerikanischen Traums. Ans Aufstecken denkt er nicht. Seine aktuelle Band funktioniert, was zumindest für die nächste Zeit das Überleben sichert. Und außerdem ist ja da noch dieser Deal mit dem Mann von Marlboro Music. Vielleicht…