Vitesse


In Insiderkreisen schlug man mal wieder Purzelbäume. Eine neue Wahnsinnskapelle war ausgemacht worden, mit ganz tollen Songs, voller Frische und Energie, unprätentiös und geradeheraus gebracht. Die Zukunft des europäischen Rock'n'Roll womöglich.... aber gehen wir die Sache mal ganz sachte an, auch wenn der französische Namen dieser englisch singenden holländischen Gruppe im Deutschen "Geschwindigkeit" bedeutet.

Zur Veröffentlichung der LP „Out In The Country“ (EMI 1 C 064-26013) auf dem deutschen Plattenmarkt stellten sich Vitesse erstmals live außerhalb der holländischen Grenzen vor; so zwei Nächte lang auch im Hamburger „Logo“. Ihrem Namen mach-, ten die vier schon alle Ehre, denn mit reichlich Tempo jagten sie durch ihre Songs, die vielleicht nicht unbedingt prätentiös zu nennen sind, die aber gewiß mit einem gehörigen Maß an spieltechnischer Ambition in Szene gesetzt werden. Komplizierte Akkordfolgen, differenzierte Rhythmik, zweifellos virtuos musiziert; meinen Ohren fehlte allerdings ein profilierter Leadsänger und vor allem Seele, wenn ihr wißt, was ich meine.

Stellen wir zunächst mal die vier Herren vor. Kopf von Vitesse ist der Schlagzeuger, Sänger und Songschreiber Herman van Boeyen, seit Jahren einer der besten Drummer des Tulpen- und Käse-Landes. Mit Herman Brood gründete van Boeyen vor etwa 3 Jahren die erste Vitesse-Formation, die ein Album für Warner Brothers aufnahm, sich jedoch nach einem halben Jahr wieder auflöste. Damals hatte van Boeyen keinerlei Erfahrungen als Sänger; eigene Songs hatte er auch noch nicht geschrieben, und so zog er sich erstmal einige Zeit zurück, um einen persönlichen Stil als Sänger und Komponist zu finden. Das Bemühen um die Verwirklichung seiner musikalischen Vorstellungen hatte zur Folge, daß er Scharen von Mitmusikern „verbrauchte“, die alle auf dem Cover der zweiten Vitesse-LP „Rendez-vous“ abgebildet sind. Von der heutigen Besetzung waren seinerzeit schon Jan van der Mey und Rudi de Queljoe dabei.

Van der Mey ist seit zwei Jahren bei Vitesse und wirkt neben van Boeyen als zweiter Leadsänger und eigenständiger Songschreiber. Er ist ein ausgezeichneter elektrischer Rhythmus- und Leadgitarrist, ebenso wie Rudi de Queljoe. Der farbige Ambonese de Queljoe war Nachfolger von Jan Akkerman bei Brainbox, bevor er sich vor 15 Monaten Vitesse anschloß. Neben seiner Funktion als Gitarrero ist er ein wichtiger Melodielieferant für die Band geworden, hauptsächlich für van Boeyen, der überwiegend Texte und rhythmische Ideen beisteuert. Seit 11 Monaten schließlich sorgt ein schwarzer Hüne für das solide und dynamische Baßfundament von Vitesse: Wilco Toerroe Leerdam, ebenfalls Ambonese; er hat früher mit Chain Of Fools gespielt. Das wäre also Vitesse: Schlagzeug, Baß, 2 Leadgitarren, 2 Leadsänger, 3 Komponisten, alles auf 4 Mann verteilt.

Die Gruppe ist derzeit wohl eine der spielfreudigsten in unserem Nachbarland; bis zu fünf-, sechsmal pro Woche tritt sie auf, und die Musiker werden’s nicht leid, denn permanent ändern sie ihr Repertoire, werden neue Songs aufgenommen und alte zu den Akten gelegt. Im Augenblick haben sie 24 neue Songs für ihr nächstes Album fertig und bedauern schon jetzt, daß sie wahrscheinlich nur 12 davon aufnehmen können. „Out In the Country“ weist schon die beachtliche Menge von 14 Titeln auf, alle so um die zwei Minuten Spieldauer. Van Boeyen: „Es wäre Verschwendung, nicht alle Songs aufzunehmen, und da wir so ein großes Repertoire haben, machen wir eben alle Songs ein bißchen kürzer.“

Die LP „Rendez-vous“ wurde für umgerechnet 8.000 DM von Vitesse selbst produziert; sie konnten das Album allerdings für 15.000 DM an eine Plattenfirma verkaufen. Die Songs stammten mit zwei Ausnahmen noch von van Boeyen. Interessanterweise wurden gerade diese beiden Ausnahmen, „You Can’t Beat Me“ und van der Meys „We’ll Do The Music Tonight“, als Singleauskopplungen auf dem holländischen Markt getestet; sie kamen jedoch nicht an.

Wie van Boeyen heute selbst sagt, fehlt der Musik aus der „Rendeu-vous“-Zeit eine gewisse Eigenständigkeit, ein persönliches Profil, oder wie immer man das nennen mag. Die Musiker wollten zuviel Versiertheit in allen stilistischen Sätteln demonstrieren, Virtuositöt um ihrer selbst willen, das resultierende musikalische Produkt blieb anonym. (Unter uns gesagt: meiner Meinung nach ist die Band davon immer noch nichtganz frei.) Die Jazz-Rock-Tendenz von „Rendez-vous“ ist denn bei „Out In The Country“ nicht mehr so ausgeprägt, die Hinwendung zu klareren Rock- und Popstrukturen hat (mit Einschränkung bei den Texten) so vorzügliche Songs wie „Rollin‘ Through The Midnight Rain“, „Out In The Country“ oder „Fire Works“ hervorgebracht.

Von ihrer Plattenfirma EMI wird Vitesse jetzt auch großzügig unterstützt. An die 100.000 DM wurden in die Produktion und Promotion von „Out In The Country“ investiert, ein PA-System im Werte von 50.000 DM steht der Gruppe zur Verfügung, Veröffentlichungen des Albums in Spanien, Belgien, Schweden, Österreich und Deutschland sind bereits erfolgt oder stehen demnächst an. Im Frühjahr „79 wird „Out In The Country“ mit 4 neuen Songs in Kanada und den USA auf dem Capitol-Label herausgebracht: Verhandlungen mit Japan sind im Gange. Das nächste Album wird voraussichtlich von Derek Lawrence produziert werden, der schon bei Deep Purple und bei etlichen Wishbone Ash-Alben am Regiepult saß. Es sieht also gar nicht schlecht aus für Vitesse.

Im Hamburger „Logo“ machten die vier denn auch reichlich Dampf. Ein stadtbekannter Musik- und Sportexperte verstieg sich sogar zu der begeisterten Behauptung, hier habe man eine „All Wave“-Band vor sich – was heißen sollte, daß Vitesse alles spielen kann. Ich würde eher sagen, daß sie alles mit reichlich viel Speed spielen können, zu speedig, zu nervös bisweilen für meinen Geschmack. Die instrumenteilen Fähigkeiten jedes Bandmitglieds haben allerdings auch mich beeindruckt. Sollten sie irgendwann auch noch leise Töne entdecken, werden sie mich voll auf ihrer Seite finden.

Herman van Boeyen aber liebt das Tempo: „Ich schreibe am liebsten Songs, zu denen ich aufwachen möchte. Viel Energie muß drin sein.“ Von dieser Art sind auch die meisten Titel auf „Out In The Country“: funkige, teils fetzige Rhythmik, im Gegensatz zu „Rendez-vous“ jedoch melodiebetonter. Die englischen Texte sprühen nicht gerade von Witz und Einfallsreichtum („Out in the country, where the life is high/ You’re going back to your mother to cry.“), sie sind bisweilen von krasser Plumpheit („Her love is hot, and she’s got tits“ – wer hätte das gedacht?), aber sie sollen auch nicht unbedingt das Gewicht wie bei Bob Dylan haben. (So freimütig Jan van der Mey, der hauptsächlich Liebeslieder und Songs über das Leben „on the road“ schreibt.) Abschließend noch ein persönliches, sehr quantitatives Bekenntnis von Herman van Boeyen: „Weißt Du, ich habe eigentlich gar nicht so viele Pläne für die Zukunft, ich möchte nur soviele Groupies wie möglich bumsen, möchte soviele neue Songs schreiben, wie ich kann, und möchte soviele Gigs wie möglich spielen.“ Gut gebrüllt. Löwe!