„Wie schön wäre es, Kanadier zu sein!“


Jedes dieser Bilder erzählt eine Geschichte. Nur welche? Wir haben nachgefragt. Diesmal: Stephin Merritt

1 Mariachi-Musik

Stephin Merritt lebt im mexikanischen Viertel von Los Angeles. „All She Cares About Is Mariachi“, der letzte Song seines neuen Albums, handelt von einem weiblichen Mariachi-Fan.

Ich selbst mag den Gesang und die Gitarren in der Mariachi-Musik, ich war aber noch nie ein großer Fan der Trompeten, die da ja vorkommen. Trompeten sind generell das falsche Instrument für mich, sie klingen für mich schrill und viel zu laut. Das liegt vermutlich daran, dass eines meiner Ohren überempfindlich ist. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, zu Mariachi-Musik zu tanzen, ich kenne sie nur aus Restaurants, man sitzt, isst etwas und hört zu. In New York gab es eine großartige Mariachi-Band in der U-Bahn, an die ich mich erinnere. Aber man tanzt halt nicht in der U-Bahn, außer man ist Breakdancer.

2 Irving Berlin

Der 1888 geborene Sohn eines Kantors ist einer der berühmtesten Songschreiber des amerikanischen Showbiz, von ihm stammt „White Christmas“.

(gerührt) Oh, Irving. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihn entdeckte, aber der Song „Be Careful With My Heart“ hatte es mir angetan. Irving Berlin ist für mich der Schlüssel zur Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Musik ist die Linse, durch die ich diese Zeit sehe. Der Autor Jody Rosen behauptet, dass Irving Berlin das Hauptthema von „Alexander’s Ragtime Band“ von Scott Joplin geklaut hat, lange bevor „Porgy & Bess“ die Jazz-Oper populär machte. Er war wohl generell ein grober Klotz, aber als Künstler ist er ein Held für mich. Wagner war schließlich ein noch gröberer Klotz. Nach Irving Berlin habe ich auch meinen Hund benannt.

3 Der Mond

Merritt-Fans haben auf der Website stephinsongs.wiw.org Listen von Merritts Songs zu bestimmten Themen veröffentlicht, zum Mond gibt es 14 Einträge.

Zuerst fällt mir die Mondlandung ein, wenn ich dieses Foto sehe, die Bilder, die man aus dem Fernsehen kennt. „Space Oddity“ von Bowie war der erste Song über den Mond, den ich kannte, ich denke auch an „Ghosts Of American Astronauts“ von den Mekons und Gil Scott-Herons „Whitey On The Moon“, eine Litanei über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft in den 1970ern. Das Foto ist eine gestochen scharfe Fotografie, nicht der Mond aus den Geschichten und Songs. In meinem Kopf fliegt, glaube ich, ein Papiermond über das Papiermeer.

4 ABBA

Das schwedische Quartett zählt zu den großen musikalischen Einflüssen für Stephin Merritts Songwriting.

Das Foto könnte ein Outtake eines Shootings sein. Sind das etwa Abba- Lookalikes? War da womöglich Photoshop im Spiel? Abba waren prägend für mich: Sie haben mir beigebracht, dass es eine Tugend ist, Musik einfach zu halten und einen integren Umgang mit Strukturen zu pflegen. Abba sind das Gegenteil von Yes oder Jim Steinman. Oder nimm „Total Eclipse Of The Heart“ von Bonnie Tyler. Das ist ein Track, der ohne Grund in immer neue Parts steuert. Abba führen dich dagegen vom Anfang bis zum Ende des Songs. Das gilt auch für andere Künstler, etwa Kraftwerk und die Ramones. Ich selbst bin kein so großer Modernist wie Abba, Kraftwerk und die Ramones, ich muss meine Songs immer auch wieder vermasseln.

5 New York

Zwei Wohnorte, zwei Heimatorte. Geboren wurde Merritt 1966 in New York, heute lebt er vor allem in Los Angeles.

Ich bin von New York nach Los Angeles gezogen, weil ich mehr Raum für mein Aufnahmestudio benötigte. Jetzt häufe ich schon wieder Instrumente in meinem Haus an, ich sollte damit aufhören. Ich hoffe, eines Tages wieder nach New York zurückkehren zu können, bevor ich zu alt zum Reisen bin. Ich habe mir immer vorgestellt, in New York alt zu werden. In New York ist es windig, kalt, nahe am Gefrierpunkt. Kalte Luft zu atmen gibt mir aber das Gefühl, am Leben zu sein. Die kalte Luft auf der Wegstrecke von einer Bar, einem Café zur nächsten Bar ist etwas, das ich sehr gerne mag. Dezember und Januar sind für mich typische New-York-Monate. Deshalb besitze ich dort noch heute ein Apartment.

6 Schwulen-Ehe

In Kalifornien konnten ab Juni 2008 gleichgeschlechtliche Ehen geschlossen werden, bis zu einer Volksabstimmung, die eine Verfassungsänderung Ende 2008 erwirkte, seitdem ist die Schwulen-Ehe unzulässig.

Ich bin in Kalifornien gemeldet, und das Gesetz verbietet es mir dort, einen Mann zu heiraten. Ich lebe in einem schockierend rückständigen Land. Das beschämt mich! Warum sollen andere Menschen das Recht haben, mir Dinge zu verbieten, die sie selber tun? Leute im Todestrakt und Serienkiller dürfen heiraten, warum soll ich das nicht dürfen? Und warum soll es nur eine Art von Vertrag geben, der die unterschiedlichen menschlichen Beziehungen regelt? In Kanada sind Schwulen-Ehen legal. Erfreulicherweise führt Wikipedia mich als Kanadier auf, ich werde sie nicht auf diesen Fehler aufmerksam machen. Wie schön wäre es, Kanadier zu sein!

7 Claudia Gonson

Immer wieder singt Merritts Highschool-Freundin auch für die Magnetic Fields. Sie gehört auch zum Kern der Live-Besetzung.

Ich kenne Claudia, seit sie 15 ist. Zunächst war sie die Managerin der Magnetic Fields. Es war nicht schwer, uns zu managen, weil wir anfangs nur wenige Konzerte gaben. Wir boten ihr dann an, Piano zu spielen und zu singen, so wurde unsere Beziehung komplexer. Alles, was ich singen kann, kann sie auch singen. Ich denke, dass ich noch keinen Song speziell für Claudia geschrieben habe. Das mag damit zusammenhängen, dass ich so viel mit ihr rede und die großen Unterschiede zwischen unseren Stimmen gar nicht mehr wahrnehme. Sie sieht sehr männlich auf dem Foto aus, wie dieser Schauspieler Joe Dallesandro. Und auch etwas unglücklich. Heute ist das alles anders. Vielleicht, weil sie ein Baby zur Welt gebracht hat, das jetzt mit auf Tour kommt. Wie mein Hund Irving, er hat entdeckt, dass es ein großer Spaß ist, in der Garderobe zu sitzen und dort aufzuheulen.

8 Grace Slick

Die Sängerin der Band Jefferson Airplane war in den 1960ern ein Role Model für die Kinder des Undergrounds – Propagandistin für freie Liebe und freie Drogen.

Das Foto stammt aus der Cover-Session für das Jefferson-Airplane-Album Surrealistic Pillow. Grace zeigt uns den „Fuck you“-Finger! Sie ist so jung, 17 oder so. Jefferson Airplane und Odetta, das war ein frühes Konzerterlebnis. Ich war mit meiner Mutter unterwegs, und Grace Slick sagte plötzlich von der Bühne herab: „Sie töten Kinder dahinten.“ Ich dachte, sie meint einen Ort direkt neben der Bühne und war total erschrocken. Dass sie die Situation in Vietnam ansprach, konnte ich im Alter von vier Jahren natürlich nicht erfassen. Seitdem verbinde ich Grace Slick mit meiner ersten Schock-Erfahrung. Sie hatte diese gefährlichen Ecken und Kanten, die sie als revolutionäre Figur in San Francisco immer wieder zeigte. Surrealistic Pillow hasste ich wegen des Echo-Sounds. Ihre Memoiren habe ich in meinem E-Book-Reader mit auf Tournee genommen.